06.08.1989 - "Bringt uns nicht Silizi-um" - Proteste gegen den Bau eines Reinstsiliziumwerks in Dresden-Gittersee

Plakat gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes in Dresden-Gittersee. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Autonomer Kreis Pax, Dresden

In Dresden-Gittersee befand sich seit 1952 eine Uranerzaufbereitungsanlage. Diese wurde 1962 wieder geschlossen, da sie sich zu weit entfernt von den Uranlagerstätten im Erzgebirge gelegen war. Nach dem auf dem Gelände ab 1963 verschiedene Produktionsstätten der petrochemischen Industrie zu finden waren, beschloss das Politbüro 1987 die Ansiedlung eines Werkes zur Herstellung von Reinstsilizium, welches noch heute einen Grundstoff der Halbleiter- und Computerindustrie darstellt.

Im Laufe des Jahres 1989 formierte sich ein breiter überregionaler Protest gegen den Bau des Reinstsilizium, der zu großen Teilen von den unabhängigen Umwelt- und Friedensgruppen der Dresdner Gemeinden ausging. Mit Andachts- und Informationsveranstaltungen versuchten sie die Fragen und Ängste der Bewohner aufzunehmen. Regelmäßige Andachten fanden ab Sommer 1989 jeden ersten Sonntag im Monat in der Kirche in Dresden-Gittersee statt. Die erste dieser Andachten fand am 4. Juni 1989 statt. Dort wurde eine gemeinschaftliche Eingabe mit 580 Unterschriften verfasst, in der die Gemeindemitglieder forderten Informationen über die Effektivität und die Sicherheitsrisiken des Reinstsiliziumwerkes am Standort Gittersee offenzulegen. Der Adressat, der damalige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, antwortete nicht auf die Eingabe.  

In der darauffolgenden Andacht, am 2. Juli 1989, trugen die Mitglieder der Friedens- und Umweltgruppen ihren Protest aus der Kirche heraus auf die Straße. Ca. 15 Leute zogen mit Transparenten zum geplanten Reinstsiliziumwerk. Sie schafften es zwei dieser Transparente am Eingangstor des Werkes zu befestigen. Ein Eingreifen, der staatlichen Sicherheitskräfte erfolgte wohl nur deswegen nicht, weil ein Fernsehteam der ARD bei der Aktion dabei war. Was man sich vor der Kamera der westlichen Journalisten nicht traute, tat man hinterher: Gegen die Teilnehmer der Protestaktion hagelte es Ordnungsstrafen.

Bei der dritten Andacht, am 6. August, forderten die Oppositionellen ein Rundtisch-Gespräch mit verschiedenen Experten und allen Beteiligten. Darüber hinaus wurde bekannt, dass es Gespräche zwischen kirchlichen und staatlichen Vertretern gegeben habe, bei denen klar gemacht wurde, dass die Sicherheitskräfte bei ähnlichen Vorkommnissen, wie bei der Juli Andacht konsequent durchgreifen werde. Die staatliche Nervosität zeigte sich schon vor Beginn der Veranstaltung: überall waren Polizei und Staatssicherheit postiert. In den Straßen fanden sich Hundertschaften der Polizei und auch ein Wasserwerfer war vor Ort. Trotz der staatlichen Drohkulisse begaben sich nach der Andacht etwa 30 Oppositionelle zum Reinstsiliziumwerk. Dieses Mal allerdings ohne Plakate. Ihnen folgten neugierige Bürger und Anwohner, sodass die Gruppe vor der Baustelle des Werkes auf etwa 150 Demonstranten anwuchs. Ohne Vorwarnung begannen Polizei und Staatssicherheitsbeamte wenig später auf die eingekesselten Demonstranten einzuprügeln und ließen den Platz vor dem Eingangstor der Baustelle brutal räumen. 23 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Außerdem wurden Ordnungsstrafen von bis zu 2000 Mark verhängt. Am 13. August 1989 fanden sich in der Kirche in Dresden-Gittersee ca. 1.500 Leute ein. Beim anschließenden Marsch zum Baugelände gingen Volkspolizei und MfS erneut mit Gewalt vor und nahmen zahlreiche Personen fest.

Erst am 3. November kippte die Regierung Modrow das Projekt und es wurde ein Baustopp verhängt.