"Es gab in diesem Land nichts Gefährlicheres, als anders zu denken." - Bärbel Bohleys erstes Interview in einem DDR-Medium

Am 6. November 1989 führt der Journalist und Fotograf Olaf Opitz für die Zeitung „Der Morgen“ ein Interview mit der Bürgerrechtlerin Bärble Bohley, ein historisches Interview. Sie fordert die Zulassung einer legalen Oppositionsbewegung, spricht über die Flucht aus der DDR und über Wolf Biermann. Es ist das erste Interview der Oppositionellen, das in einem DDR-Medium abgedruckt wird. Die Mauer fällt erst einige Tage später am 9. November, an dem Tag, an dem auch der Artikel erscheint. In unserer Rubrik #AusdemArchiv dokumentieren wir den gesamten Artikel und einen Bericht von Olaf Opitz, wie es zu dem Interview kam und welche Schwierigkeiten es bei der Veröffentlichung gab. 

@Robert-Havemann-Gesellschaft/Olaf Opitz/Fo_OOp_0005

Der Morgen veröffentlichte noch vor dem Mauerfall am 9. November 1989 mein Interview. Am Montag 6. November besuchte ich Bohley in ihrer Altbauwohnung in der Fehrbelliner Straße am Teutoburger Platz. Sie war Kettenraucherin und ihre „Prenzelberg“ Wohnung, wie später auch meine Kleidung, roch durch und durch nach Zigarettenqualm.

Sie zeigte sich erstaunt, dass der „Morgen“, die Zeitung der LDPD, ein Interview drucken wolle. Ich gestand ihr, in erster Linie wollte ich es versuchen mit Hilfe eines mutigen Kulturredakteurs, der bereit war, es auf die Kulturseite zu nehmen. Erstens, weil der Kulturchef nicht da war. Zweitens, weil der Chefredakteur die Kulturseiten kaum las, sondern meist nur die Politikseiten. Dazu schoss ich ein paar aussagekräftige Bohley-Porträts mit viel Korn dank eines NP 27 Films. Das Interview war Zündstoff: Es ging um die Flucht aus der DDR, freie Wahlen, Meinungsfreiheit, Demokratie und das Ende des SED-Führungsanspruchs. Zudem forderte das Neue Forum seine Zulassung als gesellschaftliche Organisation. Im Gespräch blieb Bohley ernst, aber zum Schluss lachten wir noch über die Zustände in der DDR gemeinsam.

Dienstag 7. November schrieb ich das Interview und entwickelte die Bilder. Mittwoch 8. November ging das Interview in Satz und Druck. Und selbst im Druckzentrum des Neuen Deutschland, wo alle überregionalen Zeitungen von der Stasi kontrolliert wurden, während die Rotation anlief, schienen sie nur noch die Politikseiten zu durchleuchten. Denn im Normalfall wäre wegen Bohley die Auflage eingestampft worden. So erschien am Morgen des Mauerfalls am Donnerstag 9. November 1989 das erste Interview mit  d e r  Oppositionellen vom Neuen Forum in den DDR-Medien.

Olaf Opitz, Oktober 2018.

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Du bist so, und wir waren so - „DM“-Interview mit der Malerin Bärbel Bohley vom Neuen Forum

Olaf Opitz, in: Der Morgen vom 9. November 1989.

Der Morgen: Wie gefährlich war im Nachhinein betrachtet öffentliches Andersdenken?

Bärbel Bohley: Es gab in diesem Land nichts Gefährlicheres, als anders zu denken. Und das war schon vor mir so. Leute wurden dafür bestraft, weil sie selbstständig dachten. Seit vierzig Jahren vertrieb man damit Menschen. Das hat mir Arroganz der Macht zu tun, denn es wurde nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg bestimmt. Wer den Weg, selbst wenn er zum gleichen Ziel führen sollte anders gedacht hatte, wurde schon kriminalisiert.

Der Morgen: Viele haben unser Land verlassen und tun es immer noch. Sie sind hiergeblieben … 

Bärbel Bohley: Bei mir ist da eine Portion Trotz dabei. Eigentlich gehört das Land uns und nicht denen, die es regieren. Ich habe nie einsehen können, weshalb ich gehen soll. Vielleicht müssten erst einmal andere gehen? Man kann ein Land nicht aufgeben, nur weil einem die Regierung nicht gefällt. Mir ist die Heimat hier sehr wichtig. Leute, die diese Schnitte mit sich machen, erkennen im Grund genommen oft nicht, was das für Schnitte sind. Denn die wenigsten sind zu Vagabunden geboren.

Der Morgen: Kann man schon von einem Abbau der Berührungsängste sprechen?

Bärbel Bohley: Die haben sich noch nicht wesentlich abgebaut. Das ist ein Prozess, der stattfindet, gegenwärtig ist es ein erzwungener. Hunderttausende mussten erst auf die Straße gehen, um die Regierung herauszufordern, den Dialog aufzunehmen. Der ist nicht durch Einsicht zustanden gekommen, sondern durch den Druck des Volkes.

Der Morgen: Ist das schon Mündigkeit des Volkes?

Bärbel Bohley: Für mich ist es ein Zeichen, dass Angst schwindet, Selbstbewusstsein wächst, und ich hoffe, es führt zur Mündigkeit. Es ist doch unmöglich in sechs Wochen eine Gesellschaft umzukrempeln, die sich in 40 Jahren gebildet hat. Dazu braucht es keinen festgeschriebenen Führungsanspruch einer Partei. Der würde sich einfach von selbst aufheben, wenn es zu freien Wahlen käme. Irgendwann muss auch die Verfassung geändert werden, aber jetzt geht es erst einmal darum, dass sich die Menschen selbst organisieren können, die andere Vorstellungen als die SED über die Entwicklung unseres Landes haben. Wir brauchen Zugang zu den elektronischen Medien. Wir brauchen eine Zeitung. Wir brauchen freien Zugang zur Öffentlichkeit.

Der Morgen: Was braucht unser Land noch? Wirkliche Reformer?

Bärbel Bohley: Dieses Land besteht nicht nur aus Reformern, obwohl aus allen Ecken und Enden plötzlich Reformer auftauchen, die schon immer welche gewesen sein wollen, ob bei den Regierenden oder der Bevölkerung. Für sich diesen Schritt zu machen und zu sagen, ich war ein Opportunist und möchte jetzt etwas bewegen, ist doch ein langer Weg. Deshalb wäre es schlecht, wenn wir jetzt alle ungeduldig würden. Ohne Geduld bräche der Aufbruch ziemlich schnell zusammen. Im Neuen Forum gibt es Diskussionen und Forderungen, eine Partei zu werden. Ich glaube aber dieses Land brauchte eine breite Bewegung. Veränderungen in Osteuropa sind fast nur so zustande gekommen. In einer Bewegung können sich im Gegensatz zu Parteien Interessenverbände von Betroffenen und Fachleuten um bestimmte Probleme herum bilden. 

Der Morgen: Ein alternatives Konzept also?

Bärbel Bohley: Die Welt hat alternative Konzepte dringend nötig, da die Probleme unheimlich groß sind. Nur wer ein echtes Interesse an einer Problemlösung hat, setzt sich auch wirklich dafür ein. Diesen Leuten muss man die Möglichkeit geben sich zu formieren, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen und Politik zu machen, indem sie eigenen Kandidaten stellen. Ich glaube nicht, dass Parteien dazu in der Lage sind. Ihr Kampf um die führende Rolle, um Macht und Machterhaltung saugt zu viele Kräfte auf. Deshalb muss Opposition einfach da sein, und zwar legalisiert.

Der Morgen: Das appelliert sehr an Vernunft …

Bärbel Bohley: Alle Menschen besitzen für mich einen Kern von Vernunft. Der ist in uns genauso wie das Unvernünftige. Wir sind immer Opfer und Täter zugleich. Die Frage aber ist doch, wie man das, was oft verschüttet ist, richtig weckt und zum Tragen kommen lässt. Die Menschen sehnen sich doch nicht nach Unterdrückung, sondern nach Freiheit ihrer Persönlichkeit und Umwelt. Auch die Staatssicherheit will befreit werden. Darum halte ich das Neue Forum für so wichtig, um die Probleme der Zukunft solidarisch zu lösen.

Der Morgen: Dazu braucht das Land auch neue Männer?

Bärbel Bohley: Es ist völlig klar, bestimmte Leute müssen weg, die Verantwortung für die Entwicklung in der DDR tragen. Bisher sehe ich nur die Alten gehen. Schon als Generationsproblem ist das notwendig. Doch die Verantwortung zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Auch in der Generation der 50-jährigen müssen sich hohe Verantwortliche in Frage stellen lassen. Das ist insofern problematisch, weil sie Positionen innehaben, die ihnen von der Qualifikation her gar nicht zustehen. Hier wird es harte Auseinandersetzungen geben. 

Der Morgen: Sie sind Malerin und im VBK. Fehlt auch den Künstlern unsere Landes ein adäquates Forum?

Bärbel Bohley: Für mich war der Verband lange Zeit nicht gerade eine Stätte, von der aus man eine Gesellschaft verändern kann. Künstler sind hier nur verwaltet und in eine vorgegebene Richtung kanalisiert worden. Dabei war die Verwaltung stärker als das künstlerische Interesse. Außerdem halte ich bildende Künstler für etwas unpolitisch, weil sie in ihren Ateliers sitzen und die Dinge mehr beschauen als sie zu verändern. In der DDR ist die Kunst deshalb sehr beschaulich. Stattgefundene Prozesse zu freierer Kunst haben eher sehr viel mit Devisenbringerei zu tun. Denn kritische Künstler können ihre Werke im Westen über den Kunsthandel wirklich sehr gut verkaufen. Die DDR-Kunst ist als Produkt entdeckt worden. Künstlerische Freiheit spielt hierbei nur eine Nebenrolle, denn die Künstler sind nach wie vor am Gängelband. Der geistige Raum ist immer noch klein. Das geht nur voran in direkter Auseinandersetzung unter den Künstlern und nicht erst, wenn das Kulturministerium eine Genehmigung erteilt. 

Der Morgen: Doch in letzter Zeit sind die Künstler aufgewacht …

Bärbel Bohley: Ihnen ist scheinbar klar geworden, dass man nicht immer nur in die Welt fahren kann, sich Florenz anschaut und dann in diesen engen Kasten zurückkommt. Privilegien sind eben auf die Dauer nicht das Richtige. Man möchte Rechte haben. Dazu gehört das Recht auf Veränderung dort, wo man lebt.

Der Morgen: Halten Sie ihre Einladung an Wolf Biermann, in der DDR wieder aufzutreten, noch aufrecht? 

Bärbel Bohley: Aber ja, wenn Wolf Biermann hier singt, hat sich in der DDR etwas verändert. Wolf Biermann ist ein Symbol für Unrecht, das Leuten in diesem Lande angetan wurde. Sein erfahrenes Unrecht steht für viele andere. Er hatte hier Auftrittsverbot und nicht die Möglichkeit zu singen. Mit ihm sind viele gegangen. Und mit der Unterdrückung von Solidarität für Biermann, die ja damals da war, eine Menge hatten unterschrieben, ist der Kultur in diesem Land ein solcher Schlag versetzt worden, den man an einer Person festmachen kann, doch er geht viel weiter und viel tiefer. Wir haben sehr viele gute Leute verloren. Schriftsteller, Schauspieler, die wirklich fehlen. Es wäre wichtig, im Nachdenken über Kulturpolitik zu sagen, hier wollen wir neu anfangen, und da haben wir wirklich Fehler gemacht. Deshalb muss man Biermann hier auftreten lassen. Das wäre für mich ein Zeichen positiver Selbstkritik, die einen Neubeginn gefunden hat.

Der Morgen: Dann muss man auch, seine harte Art, Dinge zu benennen, tolerieren … 

Bärbel Bohley: Das gehört dazu. Diese Verhärtung ist aus Hilflosigkeit entstanden. Und die damals Verantwortlichen müssen sie als ihre Schuld begreifen. Denn Biermanns Verhärtungen haben eine Ursache. Für diese Ursache gibt es beteiligte Leute, die man benennen kann. Nur sie können sagen, du bist so und wir waren so, und jetzt wollen wir einmal neu anfangen. Bitte schön, die Werner-Seelenbinder-Halle steht dir offen. Beschimpf uns, wir haben uns geändert, und weil wir uns geändert haben, singst du jetzt hier. Also Größe, die man als Beteiligter entwickeln muss, wäre gut, um Vergangenheit zu bewältigen.