Die Wissenschaftler Caroline Moine, Guillaume Mouralis und Laure de Verdalledes vom Centre Marc Bloch haben unter anderem auf Grundlage der Materialien im Archiv der DDR-Opposition umfassend zur Massendemonstration am 4. November 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz geforscht. Ihr Projekt „Utopia 89“ führte zu einem Theaterstück und zu einer Tagung, die am 30. und 31. Oktober 2019 unter dem Titel „Die Straße ist die Tribüne des Volkes. Ansichten zum 4. November 1989“ durchgeführt wurde. In unserer Rubrik „Aus dem Archiv präsentieren sie ihre Ergebnisse, die viele interessante und frische Eindrücke von diesem zentralen Ereignis der Friedlichen Revolution geben.

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UTOPIA 89 – „Die Straße ist die Tribüne des Volkes“

Ein Forschungsprojekt zu den Massendemonstrationen am 4. November 1989 in Ost-Berlin

Das Projekt Utopia 89 hat das Ziel, die Rolle der Massendemonstration vom 4. November 1989 am Alexanderplatz aus der Perspektive des Theaters und der Wissenschaft in Frage zu stellen. Teil des Projekts ist in diesem Sinne ein Theaterstück des Dramaturgen Frédéric Barriera über dieses Ereignis, das aufgrund der darauffolgenden Begebenheiten (Fall der Mauer, Vereinigungsprozess) oft in den Hintergrund geraten ist. Wir haben als ForscherInnen die widersprüchliche Dynamik dieser Demonstration – und im Weiteren des Umbruchs von 1989 – von der wissenschaftlichen Seite aus analysiert. Das Interesse an der Demonstration vom 4. November ergibt sich aus der besonderen Rolle, die sie während der Vorgänge der Wende gespielt hat. Sie ist sogar in mehrfacher Hinsicht einzigartig: Sie wurde genehmigt; ihre Organisation war das Ergebnis eines „konzertierten“ Prozesses, der zu einem originellen Arrangement mit einer Demonstration und einem Meeting führte, auf dem sich Redner äußerten, deren Profil sehr unterschiedlich war. Die Rednerliste des Meetings bringt die Vielfalt der beteiligten Interessen und Erwartungen deutlich zum Ausdruck. Unter den ZeithistorikerInnen in Deutschland finden regelmäßig Debatten über die Bedeutung der friedlichen Revolution statt, in denen der 4. November fast immer noch einen problematischen Platz einnimmt. Der 4. November passt schlichtweg nicht zu den großen geschichtspolitischen Narrativen, insbesondere nicht zu dem einer unvermeidlichen Wiedervereinigung. Auf dem Alexanderplatz ging es nämlich vor allem – mit unterschiedlichen Akzenten – um eine Demokratisierung der sozialistischen DDR: Am 4. November 1989 hat die nationale Frage so gut wie keine Rolle gespielt. Es erscheint uns deshalb sinnvoll, dieses Ereignis in einem neuen Licht zu betrachten. Wir schlagen eine neutrale, unvoreingenommene Untersuchung der Ereignisse um den 4. November 1989 vor, die empirisch (unter anderem auf Archivarbeit) fundiert ist [1] und sich auf die Beschreibung der komplexen Konfigurationen und Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren konzentriert.

Ein einzigartiges Ereignis: Verhandlungen um die Vorbereitung des 4. November 1989

Die Vorgeschichte der Demonstration

Die Vorbereitung der Demonstration begann am 15. Oktober 1989 mit einer Versammlung von Theaterleuten aus der ganzen DDR im Deutschen Theater. Dort wurde die Entscheidung getroffen, eine Demonstration in Berlin zu organisieren. Man muss aber auch diese Vorgeschichte als Teil einer breiteren Entwicklung betrachten. Im September 1989 nahmen die verschiedenen Verbände der DDR-Künstler eine Reihe von Positionen an, die eine Demokratisierung des Regimes forderten. In derselben Zeit formierte sich die Oppositionsbewegung: am 10. September wurde mit dem Aufruf „Die Zeit ist reif - Aufbruch 89“ die Bürgerbewegung Neues Forum gegründet. Viele Künstler standen dieser Bürgerbewegung sehr nah. Die Feierlichkeiten zum 40-jährigen Jubiläum der DDR am 7. und 8. Oktober waren von Verhaftungen und polizeilicher Gewalt geprägt, gegen die sich starker Protest erhob: aus Theatern, Künstlerverbänden und anderen Institutionen wurden zahlreiche Resolutionen abgegeben. Gleichzeitig versammelten sich am 9. Oktober bereits 70.000 Demonstranten in Leipzig.

Am 14. Oktober schrieb Jutta Seidel, Ärztin aus Ostberlin und mit ihrem Mann Gründungsmitglied des Neuen Forums, einen Brief an die Schauspielerin Jutta Wachowiak, ihre Nachbarin, um ihr vorzuschlagen, eine Demonstration in Berlin zu organisieren. Für die Mitglieder des Neuen Forums war es schwer denkbar, als Oppositionelle diese Veranstaltung selbst zu organisieren. Deshalb kamen sie zu der Idee, dass die Theaterleute und Künstlerverbände die Initiative der Demonstration unterstützen und übernehmen könnten. Rund 700 Personen nahmen am 15. Oktober an dem Treffen im Deutschen Theater teil, auf dem Jutta Wachowiak vorschlug, eine Demonstration in Berlin zu organisieren, womit sie großen Erfolg hatte. Der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der schon früher an diesem Tag für legale Wege plädiert hatte, sprach sich dafür aus, eine Genehmigung für solche Demonstrationen zu beantragen.

Jutta Seidel vom Neuen Forum schlägt der Schauspielerin Jutta Wachowiak vor eine Demonstration zum 4. November 1989 anzumelden. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/SEI 10/26, Seite 1.
Jutta Seidel vom Neuen Forum schlägt der Schauspielerin Jutta Wachowiak vor eine Demonstration zum 4. November 1989 anzumelden. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/SEI 10/27, Seite 2.

Eine "ausgehandelte" Demonstration

Aus dieser Situation heraus wurde eine Initiativgruppe gegründet, die für die Vorbereitung der Demonstration zuständig war. Alles war noch zu planen, auch wenn ein großer Teil der Konzeption der Veranstaltung (Datum, Weg der Demonstration und Abschlussmeeting) am 15. Oktober schon vorlag.

Alle Mitglieder der Initiativgruppe kamen von den Berliner Bühnen. Sie gehörten aber verschiedenen Generationen an und waren teilweise den Bürgerbewegungen verbunden. Neben einem Kern von sehr aktiven Mitgliedern wurde auch auf Versammlungen oder in den Theaterkantinen viel über die Vorbereitung der Demonstration gesprochen.

Wolfgang Holz (Schauspieler, gewerkschaftlicher Vertrauensmann am Berliner Ensemble und Mitglied der Initiativgruppe) stellte am 17. Oktober bei der Berliner Volkspolizei den Antrag auf Zulassung einer Demonstration für die Inhalte der Artikel 27 und 28 der DDR-Verfassung (Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Presse- und Medienfreiheit).

Bis Ende Oktober fanden mehrere Gespräche und Treffen statt, an denen verschiedenste Akteure teilnahmen: die Mitglieder der Initiativgruppe; die Volkspolizei, die sich mehrmals mit den Mitgliedern der Initiativgruppe traf; Vertreter des Zentralkomitees der SED; die Bezirksleitung der SED Berlin; Vertreter des Kulturministeriums; die Staatssicherheit, die die Vorbereitungen eng (auch durch IM-Berichte) überwachte; die Präsidenten der verschiedenen DDR Künstlerverbände; die Intendanten der Berliner Bühnen; und die Mitglieder der Oppositionsbewegungen, die zwar in diesen Gesprächen nicht direkt aktiv waren, sondern nur indirekt durch ihre Beziehungen zu bestimmten Künstlern oder durch die Positionierungen, die sie parallel veröffentlichten.

Interessen und Positionen der beteiligten Akteure

Aus Sicht des Regimes tauchte sehr schnell ein Problem auf: sollte die Demonstration genehmigt werden oder nicht? In seinem Entscheidungsvorschlag für das Sekretariat der Bezirksleitung Berlin der SED vom 16. Oktober schrieb Generalleutnant Rausch (Volkspolizei Berlin), dass der Termin am 4. November schon breit popularisiert worden sei. Seiner Meinung nach erschien deshalb „eine Verhinderung der Demonstration mit polizeilichen Mitteln aus gegenwärtiger Sicht unzweckmäßig“. Er schlug vor, „die geplante Demonstration und das Meeting offensiv unter Nutzung anerkannter Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens zu organisieren und damit in die Verwirklichung der Politik der Partei einzuordnen“. Ein paar Tage später am 20. Oktober empfahl Kurt Hager (Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Kulturverantwortlicher) in einem Brief an Egon Krenz ebenfalls, die Kundgebung zu kontrollieren und „zur Unterstützung der Wende, die auf der Tagung des ZK eingeleitet wurde, aufzurufen“.

Diesen Versuch kann man aber als gescheitert betrachten. Zwar gab es Verhandlungen, insbesondere über die Route der Demonstration und den Versammlungsort für das Meeting: der Platz der Akademie (heute Gendarmenmarkt) wurde durch den Alexanderplatz ersetzt, weil der Platz der Akademie besonders sensibel war und zu nahe an der Mauer lag. Daneben gab es aber auch direkte Auswirkungen für das Regime: Zum Beispiel war Herbert Bischoff (Vorsitzender der Gewerkschaft Kunst) gezwungen, am 3. November zurückzutreten, nachdem er am Tag zuvor mit Oberbürgermeister Krack und Kulturminister Hoffman in der Presse den gemeinsamen Aufruf „Friedliche Manifestation muss ihrem Grundanliegen gerecht werden können“ unterzeichnet hatte. Die Initiativgruppe 4.11 reagierte heftig, denn ihre Veranstaltung sollte als eine Protestdemonstration angekündigt werden. Ihr Anliegen war aber eine Demokratisierung der DDR, was bedeutete, dass sie sowohl mit dem Regime als auch mit den Bürgerbewegungen sprachen. Die besondere Position als Künstler in der DDR ermöglichte diese Vermittlerrolle. Vor diesem Hintergrund kann man die Gespräche über die Rednerliste verstehen. Den Theaterleuten war es bewusst, dass die Genehmigung der Demonstration ein breites Spektrum von Rednern erforderte. Die Anwesenheit von Regimefiguren wie Markus Wolf, Manfred Gerlach oder einem Vertreter der Bezirksleitung der SED Berlin war von Anfang an berücksichtigt. Es gab auch Präzedenzfälle, die die heterogene Zusammensetzung der Rednerliste erklären können: Markus Wolf hatte schon am 24. Oktober zusammen mit Bärbel Bohley und Jens Reich (beide vom Neuen Forum) in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Die DDR – wie ich sie träume“ im „Haus der Jungen Talente“ in Berlin teilgenommen.

Auch wenn das Neue Forum zu dieser Zeit noch keine offizielle Existenz hatte, versuchte es seinerseits, den Prozess zu beeinflussen. Wolf Biermann etwa, der seit den 1970er Jahren ausgebürgert war, wurde von Bärbel Bohley zur Demonstration eingeladen. Die Initiativgruppe weigerte sich, die Einladung zu bestätigen, um Provokationen zu vermeiden. Das Neue Forum organisierte aber die Sichtbarkeit seiner Mitglieder am 4. November. Auch dabei ist der Kontext von Bedeutung, denn Anfang November hatten die DDR-Behörde ihre Entscheidung über die Zulassung des Neuen Forums auf den 8. November verschoben. Die Quasi-Zulassung des Neuen Forums fand dann tatsächlich am 7. November statt, also wenige Tage nach der großen Demonstration.

Aufruf zur Demonstration gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/BW 08/19

Der 4. November als politisches Experiment

Tatsächlicher Ablauf und Route der Demonstranten

Mit 200.000 bis 400.000 Menschen hatte die Demonstration am 4. November eine Rekordbeteiligung, wie sie in Ost-Berlin seit der Revolte vom Juni 1953 nicht mehr vorgekommen war. Der ausgehandelte Ablauf beinhaltete zwei Phasen. Zunächst wurde um 10 Uhr morgens eine Demonstration einberufen, deren Route vom ADN-Gebäude bis zum Alexanderplatz verlief. Darauf folgte ein dreistündiges Meeting, bei dem jeder der 25 Redner – fast wie im Theater – einige Minuten lang auf einer improvisierten Tribüne auf der Ladefläche eines LKW zu Wort kam. Der Bühnenbildner Henning Schaller moderierte dieses Meeting, das von musikalischen Pausen unterbrochen wurde.

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Andreas Kämper/RHG_Fo_AnKae_268

Die Sicherheitskräfte waren präsent, blieben aber auf Distanz, so dass Demonstranten sich offiziellen Gebäuden und Machtzentren wie dem Palast der Republik oder dem Staatsrat nähern konnten, wobei Plakate aufgeklebt wurden mit Aussagen wie zum Beispiel „Pluralismus statt Parteimonarchie“ an eine Wand des Staatsrats. Das umfangreiche Polizei-Aufgebot sollte verhindern, dass die Demonstration sich der Berliner Mauer näherte, eine von den Behörden ernsthaft in Erwägung gezogene Möglichkeit; außerdem hatte die Stasi „Freiwillige“ innerhalb des Palasts der Republik bestellt, die im Falle eines Vorfalls einsatzbereit gewesen wären. Eine Maßnahme, die den Demonstranten damals nicht bekannt war.

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Andreas Kämper/RHG_Fo_AnKae_222

Entwicklung einer Protestkultur 

Die Hauptforderung der Organisatoren der Demonstration war die Anwendung der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR (Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Presse- und Medienfreiheit). Darüber hinaus gab es zahlreiche Transparente, die die Genehmigung von Bürgerbewegungen, wie etwa dem Neuen Forum, sowie die Organisation freier Wahlen forderten. Die meisten Transparente und Plakate forderten dabei eine Demokratisierung der sozialistischen DDR. Sie richteten sich unter anderem gegen drei Merkmale des SED-Regimes:

  • zunächst gegen den Führungsanspruch der SED. Die Kreativität kam in zahlreichen Wortspielen zum Ausdruck, die den neuen Generalsekretär Egon Krenz verspotteten.
  • dann gegen die politische Justiz und die Sicherheitskräfte, wobei die Stasi häufig ins Visier genommen wurde.
  • und schließlich gegen die Privilegien, den Machtmissbrauch und die Korruption der Partei-Eliten. Die Transparente beschränkten sich jedoch nicht nur auf eine Demokratisierung der politischen Institutionen. Auch ökologische Themen, die den DDR-Oppositionsgruppen besonders am Herzen lagen, waren sehr präsent. Die libertären, anarchistischen und Antifa-Bewegungen waren ebenfalls anwesend und trugen aktiv zur Demonstration bei: sie prangerten jede Form von Autorität an; sie forderten einen zivilen Ersatzdienst; und sie machten auf die Gefahr der Neonazis in der DDR aufmerksam.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Andreas Kämper/RHG_Fo_AnKae_342

Was bei dieser befreienden Explosion von gewagten Forderungen und unverfrorenen Losungen schließlich auffällt, ist das Ausbleiben (oder zumindest die marginale Position) bestimmter Themen: Die politischen Umbrüche in den anderen osteuropäischen Ländern wurden überraschend wenig thematisiert, wenn man von ein paar Worten der Solidarität mit Vaclav Havel an der Spitze des Zuges absieht. Und die deutsche nationale Frage fiel nahezu völlig aus, mit Ausnahme eines einzelnen Transparents mit der Forderung nach „Wiedervereinigung“ – heute ein seltsames, fast anachronistisches Bild.

 

Berufliche und politische Profile der 25 RednerInnen und 6 SängerInnen

Auch wenn auf der Tribüne Ostberliner Intellektuelle und Künstler dominierten, war die Gruppe der 25 Redner und Rednerinnen den Berufsgruppen nach sowie sozial und politisch viel heterogener, als es die retrospektiven Darstellungen des Meetings am Alexanderplatz vermuten lassen.

  • Unter den 25 Rednern befanden sich 5 Frauen (meist Theaterschauspielerinnen).
  • 16 von 25 Rednern arbeiteten im Bereich der Kunst oder der Literatur, davon 10 im Theater (8 Schauspieler, 1 Bühnenbildner, 1 Dramatiker: Heiner Müller).
  • 5 Vertreter der Bürgerbewegungen kamen zu Wort: Jens Reich und Henning Schaller vom Neuen Forum; Marianne Birthler von der Berliner Kontakt-Telefon-Gruppe; der Pfarrer Friedrich Schorlemmer, der den Demokratischen Aufbruch mitbegründete; der Pfarrer Konrad Elmer, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der DDR.
  • Am anderen Ende des politischen Spektrums standen 5 Mitglieder der SED, darunter zwei Prominente, Günter Schabowski und Markus Wolf, zu denen die „einfachen“ Mitglieder der Partei wie der Professor Lothar Bisky, der Rechtsanwalt Gregor Gysi und die Schriftstellerin Christa Wolf hinzukamen. Als ein weiterer Vertreter des Machtapparates ergriff Manfred Gerlach, LDPD-Vorsitzender und stellvertretender Staatsratsvorsitzender, das Wort. Am 4. November zeigt sich, wie rasch das politische Kapital „sowjetischer Art“[2] entwertet wurde. An diesem Gesichtspunkt wird erkennbar, wie tiefgreifend die Krise war: Die Inhaber eines ausschließlich politischen Kapitals – die Generation der DDR-Gründer – wurden am 18. Oktober ausgegrenzt. Die Vertreter der nächsten Generation wie Schabowski, die nicht nur über politische, sondern auch über akademische Ressourcen verfügten und sich sehr spät als Reformisten profilierten, waren selbst nicht mehr hörbar. Die Krise des politischen Kapitals sowjetischer Art hatte nacheinander beide Gruppen hinweggefegt. Nur der Anwalt Gregor Gysi konnte ziemlich gut mit dem 4. November umgehen, weil er außerhalb (oder nur am Rande) des Machtfeldes der DDR stand.

Der 4. November, ein Wendepunkt für die Rolle der Medien und der Öffentlichkeit in der DDR?

Gespaltene Medien gegenüber einer sich ausweitenden Öffentlichkeit

Ziel der Demonstration vom 4. November 1989 war unter anderem die Verteidigung der Artikel 27 und 28 der DDR-Verfassung (Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Presse- und Medienfreiheit). Bemerkenswert ist aber, dass unter den RednerInnen nur zwei Vertreter der Medienlandschaft waren: Joachim Tschirner, Dokumentarfilmemacher der DEFA, der Lothar Bisky, Rektor der Filmhochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf, als Redner vorgeschlagen hatte. Der Theaterkritiker Klaus Baschleben, den man auch zum Bereich der Medien zählen kann und der ebenfalls anwesend war, repräsentierte seinerseits keine spezifische Institution. Die Medien standen aber trotzdem im Mittelpunkt des 4. November, als Akteure sowie als eine Bedingung für seinen Erfolg. Ohne sie wäre die Einordnung der Veranstaltung als historisches Ereignis nicht möglich gewesen.

In den Wochen vor dem 4. November hatte sich im Bereich der Medien und der Öffentlichkeit in der DDR schon viel bewegt. Der eigentliche Bruch, der die Unfähigkeit des ostdeutschen Fernsehens, über die nationalen und internationalen Ereignisse zu berichten, schlagartig offenlegte, fand am 9. Oktober statt, als Aram Radomski und Siegbert Scheffke die Demonstration in Leipzig heimlich filmten. Das Schweigen des DDR-Fernsehens zu brechen war auch das Ziel von Filmstudenten der HFF, die begannen, zu drehen, was auf der Straße passierte. Ab dem 11. Oktober filmten auch einige der Dokumentarfilmemacher der DEFA die Demonstrationszüge im ganzen Land. Joachim Tschirner und Lew Hohmann waren z.B. Anfang November in Bayern, um Flüchtlinge aus der DDR zu filmen. Am 22. Oktober veröffentlichten die Filmschaffenden der DDR schließlich eine Erklärung: Sie forderten einen außerplanmäßigen Kongress, um auf die politische Lage im Land zu reagieren. Am 24.10. fand außerdem im Berliner Haus der jungen Talente eine Podiumsdiskussion zum Thema „DDR – wie ich sie träume“ statt. Sie wurde zu einer Art Probe für das Meeting auf dem Alexanderplatz: Gäste aus verschiedenen politischen Milieus versuchten miteinander zu diskutieren. Diese sensationellen Bilder wurden im DDR-Fernsehen in einer Sondersendung live übertragen und sogar von der ARD am nächsten Tag in ihr Abendprogramm übernommen.

Medialisierung der Kundgebung

Die Entscheidung für eine Live-Übertragung der Demonstration vom 4. November kam daher nicht gänzlich unerwartet, auch wenn es heute schwierig ist, den genauen Entscheidungsprozess nachzuvollziehen. Offensichtlich lief alles informell, über Telefon, und blieb bis zur letzten Minute unsicher. In der Vorbereitung der Demonstration wurde von Seiten der Stasi und der Volkspolizei das Thema des Filmberichts und der Live-Sendung bereits sehr ernst genommen. Unter anderem von der Stasi wurde dabei explizit betont, dass es schwierig sei, die Demonstration zu verbieten, ohne eine heftige Reaktionswelle in den westlichen Medien zu provozieren. In diesem Sinne wurden ein paar Ratschläge gegeben, wie man mit ausländischen Journalisten in aller Ruhe umgehen sollte. 

Die Demonstration wurde dann in der DDR-Presse offiziell angekündigt, am Vorabend sogar im Fernsehen, in einem Gespräch mit Johanna Schall. Die Zuschauer sollten dadurch informiert, aber auch beruhigt werden. Der Moderator Michael Schmidt wiederholte mehrfach, dass es sich um eine offiziell genehmigte Demonstration handele und dass sie von Theaterleuten, in Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei organisiert würde.

Nicht der Demonstrationsumzug, sondern die Kundgebung wurde dann live übertragen. Alle Reden wurden ohne Kommentare gesendet. Diese Live-Bilder waren außerordentlich wichtig, denn sie zeigten der ganzen DDR und der Welt außerhalb der DDR, wie viele Leute sich trauten an einer solchen Protestdemonstration teilzunehmen. Sie zeigten außerdem die Demonstranten und ihre Transparente nicht mehr nachts, im Dunkeln, wie in Leipzig, sondern bei Tageslicht. Und was vielleicht noch wichtiger war: Vor den Augen von Millionen Zuschauern wurden die Vertreter der Partei und des Systems ausgepfiffen und ausgelacht. Zeitzeugen erzählen heute noch, wie diese Bilder von allen gesehen wurden und wie sehr sie alle geprägt haben.

Vielfalt der Perspektiven

Um aber nicht nur die RednerInnen, sondern auch einigen DemonstrantInnen in den Blick zu bekommen, muss man jedoch weitere Bilder und Quellen als die der TV-Übertragung heranziehen. Aus diesen Bildern entsteht nochmals ein anderes Porträt der Veranstaltung, in einer Art Blick und Gegenblick.

Die Stasi hat fotografiert und gefilmt, gezoomt, kommentiert, um nach Feinden und möglichen Gefahren Ausschau zu halten. Mit einem roten Tuch an der Tribüne gebunden filmte auch der der freiberufliche Ostberliner Autor und Regisseur Thomas Heise die Veranstaltung. Es gibt also den Blick von außen und gleichzeitig von mittendrin, ganz nah an den RednerInnen. Der Kameramann Christian Lehmann von der DEFA war mit einer großen Fernsehkamera ebenfalls vor Ort, was aus diesen Bildern geworden ist, ist aber leider unklar.  Zu nennen sind darüber hinaus natürlich auch all die vielen Journalisten und Fotografen aus der DDR und aus dem Ausland, die die Veranstaltung aufzeichneten. Diese Bilder erlauben es uns heute, die Demonstration in ihrer Vielfältigkeit zu erfassen, nicht nur mit dem Blick auf die Tribüne, oder vor der Tribüne, sondern auch vom Rande aus und von ganz hinten: jüngere und ältere DemonstrantInnen, Männer, Frauen, Kinder sind zu sehen, ernst oder lachend. Der Fotograf Andreas Kämper war einer dieser wichtigen Zeitzeugen, dessen Bilder uns erlauben, die damalige Stimmung zu spüren.

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Andreas Kämper/RHG_Fo_AnKae_303

Medialisierung der Demonstration nach dem 4. November 1989

In der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens wurde am selben Abend, mit Ausschnitten aus mehreren Reden von der Demonstration, eine Erklärung der SED-Kreisleitung des DDR-Fernsehens verlesen. In ihr wurde die Bevölkerung um Entschuldigung gebeten und eine Mitverantwortung für die krisenhafte Situation übernommen. Der 4. November wurde damit ein wichtiger Moment der Selbstinszenierung und der Selbstkritik des DDR-Fernsehens.

Auch in der Presse, im Osten wie im Westen, wurde ausführlich über die Demonstration berichtet. Die Journalisten waren verwundert über die große Zahl der DemonstrantInnen, die RednerInnen wurden lang zitiert. Dabei wurden aber fast immer nur die berühmtesten RednerInnen erwähnt, nur wenige Journalisten beschrieben demgegenüber die Vielfalt der RednerInnen und DemonstrantInnen, die Anwesenheit von einigen Autonomen, die aus der Rolle fielen, oder von Frauengruppen.

Auch wenn die Demonstration vom 4. November bereits an dem Tag selbst als ein historisches Ereignis wahrgenommen wurde, ging es am 4. November in den Medien, im Westen wie im Osten, nicht allein um dieses Ereignis. An diesem Tag wurde in der ganzen DDR aktiv demonstriert und vor allem die Massenflucht aus der DDR ging auch an diesem Tag weiter.  Für einige Journalisten im Westen, wie etwa Klaus Hartung in der Taz („Der Fall der Mauer“, Taz, 6.11.89), fand an diesem Wochenende die eigentliche Mauereröffnung statt.

Fünf Tage später führte eine Pressekonferenz dazu, dass die Berliner Mauer ganz offiziell geöffnet wurde. Diese Mauer, die am 4. November in den Reden auf dem Alexanderplatz so wenig präsent gewesen war, wurde jetzt zum Zentrum der Weltöffentlichkeit und zum Symbol der Umbrüche von 1989. Unser Forschungsprojekt ist ein Versuch, den Fokus auf dieses Ereignis durch den Blick auf die Vorgänge um die Demonstration vom 4. November ein bisschen zu verschieben.

Fußnoten

[1] Die Studie stützt sich auf Archivrecherchen in Berlin, vor allem im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft/Archiv der DDR-Opposition (RHG), im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde, im Archiv der Akademie der Künste, im Archiv des Deutschen Theaters und im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA), sowie auf Interviews mit ehemaligen Demonstration-Mitveranstalterinnen und -Teilnehmerinnen.

[2] Bourdieu, Pierre, „La variante 'soviétique' et le capital politique“, Vortrag in Ost-Berlin am 25.10.1989, veröffentlicht in: Bourdieu, Pierre, Raisons pratiques, Paris, Seuil, 1994, S. 31-35.

Literaturhinweise

Bauer, Patrick, Der 4. November 1989 und seine Geschichte. Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird, Berlin, Rowohlt, 2019.

Braun, Jutta & Schäbitz, Michael, Von der Bühne auf die Straße. Theater und friedliche Revolution in der DDR, Berlin, Vorwerk 8, 2016.

Kowalczuk Ilko Sascha, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009

Maier, Charles S., Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany, Princeton UP, 1997 (traduit en allemand, 2000)

Neubert, Ehrhart, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München, Zürich 2008

Pollack, Detlev, Politischer Protest: Politisch alternative Gruppen in der DDR. Opladen: Leske und Budrich, 2000

Rübesame, Hans (ed.), Antrag auf Demonstration. Die Protestversammlung im Deutschen Theater am 15. Oktober 1989, Berlin, Links, 2010.

Süß, Walter, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin, Ch. Links, 2012, chap. « Die Kraftprobe am 4. November 1989 ».

Timmer, Karsten, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000

Caroline Moine (Historikerin, Assistant Professorin an der Université Versailles St-Quentin-en-Yvelines), Guillaume Mouralis (Historiker und Soziologe, Forscher am CNRS, Mitglied des Centre Marc Bloch, Berlin) und Laure de Verdalle (Soziologin, Forscherin am CNRS, Mitglied des Centre Marc Bloch, Berlin) haben umfangreiche historische und soziologische Untersuchungen über die DDR, die Umbrüche von 1989/90 und die anschließenden Transformationen in den neuen Ländern (im kulturellen sowie im juristischen Bereich) durchgeführt. Das Projekt ist für die beteiligten WissenschaftlerInnen ein Beispiel, wie sie am Thema der Umbrüche von 1989 interdisziplinär und nach ihren jeweiligen wissenschaftlichen Erfahrungen und methodischen Ansätzen zu arbeiten.

  • Moine, Caroline Cinéma et guerre froide. Histoire du festival de films documentaires de Leipzig (1955-1990), Paris, publications de la Sorbonne, 2014
  • Mouralis, Guillaume, Une épuration allemande, La RDA en procès 1949-2004, Fayard, 2008
  • Verdalle, Laure de, Le théâtre en transition. De la RDA aux nouveaux Länder, Paris, Éd. de la MSH, 2006