Von der Oderberger Straße nach West-Berlin. Freya Klier und Stephan Krawczyk – Materialien im Archiv der DDR-Opposition

„Anfang 1988 wurde unser Leben auf den Kopf gestellt“.[1] Zusammen mit ihrer Mutter, der Theaterregisseurin Freya Klier, wuchs Nadja Klier in der Oderberger Straße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg auf. Freya Klier war seit Anfang der 1980er Jahre im Friedenskreis Pankow engagiert und prominente Vertreterin der DDR-Friedensbewegung. Der Liedermacher Stephan Krawczyk, mit dem Klier von 1986 bis 1992 verheiratet war, wurde mit seinen regimekritischen Texten in der Szene bekannt. Seit 1985 erarbeiteten und inszenierten beide gemeinsam kritische Theaterprogramme, was aber noch im selben Jahr ein Berufsverbot zur Folge hatte.

Nun blieb ihnen lediglich die Möglichkeit, ihre Inszenierungen in den Räumlichkeiten einiger weniger Kirchengemeinden zu zeigen. Viele Gemeinden trauten sich jedoch nicht, ihnen eine Bühne zu bieten, so dass beide Künstler immer weniger Auftrittsmöglichkeiten fanden. Ein Ort, an dem die beiden zwischen 1985 und 1988 regelmäßig auftreten konnten, war die von Pfarrer Rainer Eppelmann geleitete Samariterkirche im Ost-Berliner Stadtbezirk Friedrichshain. Hier waren sie u. a. mit ihrem Programm „Pässe, Parolen“ zu den verschiedenen Friedensdekaden zu Gast.

Aus der Oderberger Straße befinden sich u. a. Fotos von Bernd Markowsky, Uwe Dähn, Siegbert, Volker Döring, Schefke und Robert Conrad im Archiv der DDR-Opposition. Bilder anderer Fotografen wie Johannes Beleites, Bernhard Freutel, Holger Kulick, Siegbert Schefke und Bernd Weu zeugen nicht nur von den Auftritten von Freya Klier und Stephan Krawczyk in verschiedenen Kirchen, sondern auch von den Ereignissen um die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988.

Im Schatten der Mauer – Die Oderberger Straße

Im Schatten der Mauer – Die Oderberger Straße

Blick von einer Aussichtsplattform an der Westberliner Bernauer Straße zur Eberswalder und Oderberger Straße nach Ost-Berlin (1981-1983).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Markowsky/RHG_Fo_BeMa_1144.
Blick von einer Aussichtsplattform an der Westberliner Bernauer Straße zur Eberswalder und Oderberger Straße nach Ost-Berlin (1981-1983).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Markowsky/RHG_Fo_BeMa_1144a.
Blick von einer Aussichtsplattform an der Westberliner Bernauer Straße zur Eberswalder und Oderberger Straße nach Ost-Berlin (1981-1983).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Markowsky/RHG_Fo_BeMa_1144b.
Der neu eröffnete Grenzübergang an der Oderberger Straße (Juni 1990).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Robert Conrad/RHG_Fo_RoCon_2757.
Die Oderberger Straße 1987.
Robert-Havemann-Gesellschaft/Robert Conrad/RHG_Fo_RoCon_5607.
Die Oderberger Straße am 7. Dezember 1988.
Robert-Havemann-Gesellschaft/Robert Conrad/RHG_Fo_RoCon_7123.
Der Hirschhof in der Oderberger Straße im Prenzlauer Berg (Mai 1989).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Siegbert Schefke/RHG_Fo_SiSch_02_051-24.
Kinderfest im Hirschhof in der Oderberger Straße im Prenzlauer Berg (14. September 1985).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Uwe Dähn/RHG_Fo_UDähn_01_26-22.

Freya Klier und ihre Tochter Nadja lebten 10 Jahre lang in der Oderberger Straße, unweit der Berliner Mauer. In der Fernsehdokumentation „Unsere Oderberger Straße“ und dem Buch: „Die Oderberger Straße: Berliner Orte“ haben Sie ihr ein Denkmal gesetzt.

Freya Klier und Stephan Krawczyk

Freya Klier und Stephan Krawczyk mit ihrem Programm "Pässe, Parolen" während der Friedensdekade 1986 in der Samariterkirche (November 1986).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Weu/Friedensdekade_Samariter_85 161.
Freya Klier und Stephan Krawczyk mit ihrem Programm "Pässe, Parolen" während der Friedensdekade 1986 in der Samariterkirche (November 1986).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Weu/ Friedensdekade_86 82.
Auftritt von Stephan Krawczyk während der Friedensdekade "Miteinander Leben" in der Samariterkirche (November 1987).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Weu/1204.
Auftritt von Stephan Krawczyk während der Friedensdekade "Miteinander Leben" in der Samariterkirche (November 1987).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Weu/1208.
Freya Klier und Stephan Krawczyk mit ihrem Programm "Pässe, Parolen" in der Leipziger Lukaskirche (22. März 1987).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Johannes Beleites/RHG_Fo_JBe_870332.
Freya Klier und Stephan Krawczyk mit ihrem Programm "Pässe, Parolen" während der Friedensdekade 1986 in der Samariterkirche (November 1986).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Siegbert Schefke/ RHG_Fo_SiSch_03_102-29.

Die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988 und die Folgen für Freya und Nadja Klier

Im Vorfeld der jährlich stattfindenden „Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde, die im Jahr 1988 am 17. Januar stattfinden sollte, rief die Arbeitsgruppe für Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR dazu auf, sich mit kritischer Stimme an der Demonstration zu beteiligen. Man beabsichtigte die breite mediale Präsenz auf der Demo zu nutzen, um mit Plakaten und Transparenten ihre Anliegen publik zu machen.

Oppositionelle am Vorabend der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration mit ihren selbstgefertigten Transparenten (16. Januar 1988).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernhard Freutel.

Die wie üblich gut informierte Stasi verhängte kurz vor der Demonstration Hausarreste und verhaftete vor und während der Demonstration rund 120 Bürgerrechtler, unter ihnen auch den Liedermacher Stephan Krawczyk, der auf sein Auftrittsverbot aufmerksam machen wollte. Trotzdem gelangten einige Protestierende bis zum offiziellen Demonstrationszug und entrollen Plakate mit Rosa-Luxemburg-Zitaten: "Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden", "Der einzige Weg zur Wiedergeburt – breiteste Demokratie" und "Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht". Schnell griff die Stasi zu und verhaftete die Demonstranten.

Ein ARD-Kamerateam filmte den Protest, obwohl Stasi-Mitarbeiter dies zu verhindern suchten. In der Bundesrepublik avancierten die Aufnahmen zu Aufmachern der Nachrichtensendungen. Diese weite mediale Verbreitung half der DDR-Opposition später, die Bürger über das Schicksal der Inhaftierten zu informieren.

Die Staatssicherheit behindert die Arbeit eines ARD-Teams, indem sie offizielle Transparente vor die Kamera hält. Das Team soll nicht filmen, wie Oppositionelle verhaftet werden (17. Januar 1988).
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernhard Freutel

Ungeachtet der aufmerksamen Westpresse rollte eine Woche später, am 25. Januar 1988, eine zweite Verhaftungswelle an, die vor allem gegen bekannte Oppositionelle gerichtet war. Zu den von der Stasi Inhaftierten zählte auch Freya Klier. Der Vorwurf lautete: „landesverräterische Agententätigkeit“ – ein in der DDR mit Höchststrafen geahndetes Vergehen. "Als meine Mutter abgeholt wurde" – so Nadja Klier–, "war mir klar, dass irgendwas kaputtgegangen ist, dass sich irgendetwas ändert, was sich so nicht wiederherstellen lässt."[2] Die Verantwortlichen in Ost-Berlin wollten die Unbequemen loswerden und sie am liebsten in den Westen abschieben. Die Vernehmer im Gefängnis der Staatssicherheit drohten mit Haftstrafen bis zu zehn Jahren. Zudem wurden die Gefangenen, völlig isoliert und ohne Nachrichten von außen, von ihrem Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der Anfang 1990 als Stasi-Spitzel aufflog, bedrängt, der Ausreise zuzustimmen.

Am 2. Februar 1988 wurden Freya Klier und Stephan Krawczyk nach West-Berlin abgeschoben.

Unmittelbar nach Ihrer Ankunft forderten sie auf einer Pressekonferenz ihre sofortige Wiedereinreise in die DDR. Wenige Tage später musste auch Nadja Klier die DDR verlassen. "Um acht Uhr abends habe ich es erfahren, und um sechs Uhr morgens musste ich gehen […]. Für mich war das ein Schock. Ich wusste ja nicht, ob ich jemals zurückkomme und meine Freunde wiedersehe."[3]

Unterlagen zur Verhaftung und zur 1988 erfolgten Ausbürgerung ihrer Mutter, etwa Listen über während der Hausdurchsuchung beschlagnahmtes Schriftgut und Tonbänder sowie die Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft finden sich im Persönlichen Bestand von Freya Klier, den sie im Jahr 2006 an das Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft übergab. Die Materialien spiegeln die wichtigsten Etappen aus ihrer künstlerischen und politischen Biografie wider, geben Einblick in das dramatische Geschehen der Jahre 1985 bis 1988 und in das reiche publizistische Wirken in den Jahren danach.

Insgesamt umfasst das archivierte Schriftgut 137 Bände, stammt aus dem Zeitraum von 1962 bis 2013 und hat einen Umfang von 5,5 laufenden Metern.

Ausbürgerungsurkunde für Freya Klier, ausgestellt am 1. Februar 1988. Die Ausbürgerung galt auch für ihre Tochter Nadja.
Robert-Havemann-Gesellschaft/FK Pu 03.
Am 25. Januar 1988 wird Freya Klier verhaftet. Am selben Tag wird ihre Wohnung durch die Staatssicherheit durchsucht. Hier: Auszug aus der Liste der Hausdurchsuchung vom 25. Januar 1988. Robert-Havemann-Gesellschaft/FK Pu 03.
Am 2. Februar 1988 werden Freya Klier und Stephan Krawczyk unfreiwillig aus der DDR ausgebürgert. Nach Ihrer Ankunft in West-Berlin treffen sie sich mit Roland Jahn, der für das Politmagazin KONTRASTE arbeitet. (v. l. n. r.: Stephan Krawczyk, Freya Klier, Roland Jahn).
Robert-Havemann-Gesellschaft/Holger Kulick/RHG_Fo_HKu_F1040_34A.
Pressekonferenz von Stephan Krawczyk am Morgen des 3. Februar 1988. Er fordert seine und Freya Kliers sofortige Wiedereinreise in die DDR.
Robert-Havemann-Gesellschaft/Holger Kulick.

[1] Aus dem Lebenslauf von Nadja Klier auf ihrer Homepage, https://nadjaklier.de/nadja/ (Zugriff am 8.6.2021).

[2] Nadja Klier in einem rbb-Interview am 4.11.2019, https://www.rbb24.de/politik/thema/2019/30-Jahre-Mauerfall/beitraege/interview-nadja-klier-mauerfall-ddr-buergerrechtlerin-freya.html (Zugriff am 8.6.2021).

[3] Nadja Klier in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau am 9.1.2020, https://www.fr.de/kultur/momente-habe-damals-eine-andere-familie-gewuenscht-13429292.html (Zugriff am 8.6.2021).