Christoph Prüfer vor seiner Verhaftung im Jahr 1973. Quelle: Privat

Christoph Prüfer (24.7.1950 – 28.9.2022)

Ein Nachruf von Simone Trieder

Christoph Prüfer lernte ich erst vor eineinhalb Jahren kennen. Ich befragte ihn im Auftrag des Vereins Zeit-Geschichte(n) zu seiner Zeit in der halleschen Fleischerstraße, wo sich in seiner Abrisshauswohnung junge Leute trafen, die mit den DDR-Verhältnissen unzufrieden waren. Das war vor einem halben Jahrhundert. Christoph selbst sah diese Treffen und seine Kontakte zu ähnlichen Jenenser und Berliner Gruppen als Ost-68er-Bewegung.

Im Mai 2021 traf ich in seiner lichtdurchfluteten kleinen Wohnung an der Heideallee einen von seiner Krankheit gezeichneten Mann, der gern mit mir sprach. Aber nicht länger als eine Stunde, hatte er sich vorher ausgebeten – es wurden bei den vier Treffen, die wir hatten, doch meist fast zwei Stunden, die ihn aufwühlten und auch anstrengten. Seine Geschichte, zu der ich ihn befragte, berührte mich und ich staunte, dass uns nur neun Lebensjahre trennten. Offensichtlich entscheidende Jahre. Er hatte die Ost-68er-Zeit erlebt, da war er 18, 19, 20 Jahre alt, ich noch ein Kind. Beide stammen wir aus Pfarrersfamilien.[1]

Vom Verein bekam ich einige Kilo Stasiakten, deren Titel lautete: Parasit. So wurde Christoph von der Stasi „getauft“.[2] Wir pafften ein, zwei Zigaretten über den Aktenordnern, die er kannte.  Die Zeit, die es betraf, Anfang der 70er bis zu seiner Verhaftung im November 1973, lebte in ihm, wenn auch viele Einzelheiten nach denen ich fragte, vergessen waren.

Christoph begann 1969 ein Theologiestudium in Halle: „Da bin ich über die Sprachen  gestolpert. Ich konnte nicht auswendig lernen. Griechisch, Hebräisch, Lateinisch, Altgiechisch. Das war mein Handicap.“ Bereits vorher, Mitte der 1960er Jahre, in der Jungen Gemeinde, die eine diskutierfreudige Pfarrerin an der Marktkirche leitete. Um  „die Müllerin“, versammelten sich freie Geister, die über Literatur und Philosophie sprachen, die in der DDR verbotene Bücher – in Zeitungspapier eingeschlagen –tauschten, Marcuse, Sartre, Camus. Im Sommer 1968 war Christoph in Prag gewesen, hatte den Prager Frühling gerade noch einatmen können und war dann wie alle in seinem Freundeskreis über die Niederschlagung durch das sowjetische Militär entsetzt. Nach zwei Semestern Theologie wurde er exmatrikuliert und jobbte erst als Küster, dann als Hilfsarbeiter in einer Gießerei bis „ich eine sehr glückliche Zeit als Heizer in der Moritzburg hatte“. Da wohnte er bereits in dem Abrisshaus in der Fleischerstraße 41. Dort sammelten sich nach und nach jugendliche Unangepasste des DDR Regimes. Im Haus gegenüber wohnte der Burgstudent Jürgen Friedrich und gründete dort die „Feuchtraumgalerie“[3], entsprechend der baulichen Substanz dieser von der Wohnungsverwaltung vernachlässigten, dann aufgegebenen Häuser, die nach und nach besetzt wurden. Tobias Ebert, der Sohn des Malers Albert Ebert[4] wohnte dort, die Keramikerin Ute Lohse, Uli Jork, der Burgstudent Volker „Charlie“ Henze und andere Freunde. Es war ein Treffpunkt auch wenn die Genannten nicht alle an den politischen Diskussionen in seiner Wohnung teilnahmen. Deren Besucher kamen meist aus ähnlichen Treffpunkten in der Kellnerstraße, Steg, Spitze, Brunoswarte. „Ich habe jedenfalls laufend Besuch gekriegt, so dass ich irgendwann regelrecht Sprechtage einrichten musste. Ich muss was gehabt haben, was die Leute angezogen hat. Vielleicht, dass ich relativ locker mit dem ganzen Zeug umgegangen bin.“ Da kamen “Schüler, Studenten, auch ganz normale Lehrlinge, das war nicht unbedingt so ein abgehobener Kreis, wir haben viel getrunken, viel geliebt, aber auch mit Themen philosophischer Art auseinandergesetzt.“ Es wurden  Bücher getauscht, Tonbänder gehört, Biermann und Degenhardt.“  Jemand hat über Christoph Prüfer gesagt: Marx auf dem Schreibtisch, Krimi untendrunter.

Mitte 1971 gelingt es dem MfS einen ihrer Leute in den Freundeskreis einzuschleusen. Trotz anfänglichem Misstrauen hat Christoph Prüfer nach und nach den Eindruck, der schon etwas ältere Lutz Hampel[5]  fühle sich von dem Kreis junger Leute angezogen.[6]  Zwei Jahre lang berichtete Hampel  seinen Vorgesetzten im MfS und  trieb sogar mit eigenen „subversiven“ Vorschlägen die langsam  erschlaffende Energie der Gruppe an.

Der Operative Vorgang „Parasit“ führte schließlich am 26.November 1973 zur Verhaftung von Christoph Prüfer und Konrad Podczeck. Christoph hatte kein Foto von seiner kleinen Wohnung in der Fleischerstraße, nur in seiner dicken Stasiakte fand sich eins von seinem Schreibtisch mit Bücherregalen dahinter. „Das muss der Hampel gemacht haben“ – In den zwei Zimmern seiner Wohnung saßen bis zu 20 Leute, teils auf Matratzen. Kontakte gab es zu ähnlichen Kreisen in Jena und in Berlin. Jürgen Friedrich (der Burgstudent von der anderen Straßenseite) erfand für diese halleschen Runden den spöttischen Namen ROTZFLEISCH – Rote Zelle Fleischerstraße – eine Anlehnung an die Abkürzungswut westdeutscher 68er-Gruppen. 

Konrad Podczeck, der noch die Oberschule besuchte, wurde bald zu einer treibenden Kraft in seinem Leben, erzählte Prüfer. „Podczeck war der Theoretiker, der Intellektuelle, der Begnadetste von allen, die da rumliefen.“  Podczeck hatte zwei Schriften gefertigt, „Anspruch und Wirklichkeit in der DDR“, und ein halbes Jahr später „Kommen wir endlich aus der Knete“. Diese Texte hatte Prüfer mehrfach abgetippt und ein Exemplar gelangte in die Hände der Stasi.

Am 26. November 1973 wurden beide verhaftet und in einem kurzen Prozess – er dauerte keine zwei Stunden, ohne Zeugen – zu vier Jahren (Podczeck), und fünf Jahren (Prüfer) nach § 106 „staatsfeindliche Hetze“, und § 104, „Verunglimpfung sozialistischer Politiker“, verurteilt. Entgegen Prüfers Befürchtung fand der § 107„staatsfeindliche Gruppenbildung“ keine Anwendung, denn dann hätten ihn acht Jahre als Höchststrafe erwartet. Dass der 18-jährige Konrad Podczek „nur“ vier Jahre bekam, lag möglicherweise daran, dass die Autorenschaft der Texte  dem etwas älteren Christoph Prüfer zugeschrieben wurde  und er dem weder in den Verhören noch im Prozess widersprochen hat.

„Wir wollten eigentlich nie in den Westen. Aber wir haben damals schon rumgesponnen, wenn wir verhaftet würden – alles, was über zwei Jahre ist, das ist zu viel. Das waren dann fünf Jahre und dann habe ich den Weg genommen, den mein Vater …“ für ihn arrangiert hatte, gemeinsam mit dem Verteidiger RA Ködel , einem Kollegen des Berliner Unterhändlers RA Wolfgang Vogel. Beide Häftlinge wurden 1975 „freigekauft“[7], abgeschoben. „Wenn es weniger gewesen wäre, dann hätte ich es abgesessen und wäre hier geblieben.“ Später hatte er über einen Dritten gehört dass einer der vor ihnen verhafteten Jenenser nach seinem Gefängnisaufenthalt selbst gesagt habe: die Hallenser haben wir ganz schön belastet.[8]

Nach seiner Freikauf-Abschiebung zog Christoph Prüfer nach Heidelberg, wohin ihm im Zuge einer Familienzusammenführung  seine Frau mit den zwei  kleinen Söhnen folgte. Er  fand dort  eine ihn befriedigende, schöne Arbeit, wie er auch die Heidelberger Jahrzehnte als beglückend in Erinnerung hatte.

Über die Zeit im Gefängnis mochte Christoph Prüfer nicht mit mir sprechen, er wollte seine Erinnerungen selbst aufschreiben. Er saß erst im Roten Ochsen in Halle, später in Cottbus. Er hatte überlegt, ob er nach Cottbus fährt, aber dann kam die Krankheit. Die Zeit im Knast trug er nach diesen vielen Jahren noch in sich, er fragte mich auch, ob es für Leute wie ihn psychologische Beratung gebe. Ich versprach, die Frage an meinen Auftraggeber, den Verein Zeit-Geschichte(n) weiterzugeben.

Schließlich fragte ich ihn, wie er nach einem halben Jahrhundert auf die Zeit in der Fleischerstraße zurückschaut: „Es war eine gute Zeit, eine richtige Jugendzeit, ich war schon auch der Typ, der gern im Mittelpunkt steht. Die Freundschaften, die Gemeinschaft, das war sehr intensiv, mit den Freunden, mit der Familie. Die Freundschaften aus dieser Zeit sind andere als die späteren, manche von ihnen sehe ich jetzt wieder und das ist sehr nah.“


[1] Christoph Prüfers  Großvater mütterlicherseits war Walter Gabriel, Pfarrer der bekennenden Kirche und zeitweiliger KZ-Häftling

[2] MfS-Bezeichnung eines „Objektvorgangs“; der „OV Parasit“ wurde 1971 wegen eines „bestätigten Verdachts“ auf  § 107„staatsfeindliche Gruppenbildung“ StGB der DDR eröffnet

 

[3] Ironische Bezeichnung für mehrere inoffizielle Ausstellungen eigener Arbeiten, die der Künstler Jürgen Friedrich (1950-2012) gemeinsam mit seinem Kommilitonen Dieter Zimmermann in den leerstehenden Parterreräumen veranstaltete.

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Ebert_(Maler)

[5] Lutz Hampel, seit 1965 Inoffizieller Mitarbeiter des MfS: GI Geheimer Informator / GHI Geheimer Hauptinformator / FIM Führungs-IM, dem weitere IM unterstehen, / IME ein IM „im besonderen Einsatz“  Deckname „Renate“

[6] Die Stasi-Akten weisen allerdings aus, dass genau dies der Auftrag war: „Der FIM hat seinen Auftrag, einen guten Kontakt zu Prüfer und der Gruppierung herzustellen, erfüllt und interessante Berichte, mit großem auswertbaren Charakter geliefert.“ Nach Inhaftierung und Verurteilung von Prüfer und Podczek erhielt Hampel 1974 für seine erfolgreiche Tätigkeit die „Verdienstmedaille der NVA in Bronze“.

[7] Häftlingsfreikauf siehe https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4ftlingsfreikauf

[8] Diese Zusammenhänge zwischen den Gruppen in Halle, Jena und Berlin sowie eventuelle Verbindungen einzelner Personen zu Trotzkisten/Maoisten in Westdeutschland harren noch immer einer sachlich genauen  Erforschung. In biografischen Angaben zu Reinhard Fuhrmann, einem der Jenaer Freunde, findet sich eine Bemerkung, die sich auf Halle beziehen könnte:
„Im Juli 1972 versuchte der 24-jährige [Fuhrmann]…  mit einem Freund über Bulgarien zu flüchten. Der Fluchtversuch scheiterte… Fuhrmann und sein Freund wurden … nicht nur zu ihrem Fluchtversuch verhört, sondern auch mit dem Ziel, weitere ‚operativ interessante Informationen‘ zu erlangen – beim Staatssicherheitsdienst ein übliches Verfahren.“  https://www.stiftung-hsh.de/service/fuehrungen/zeitzeugen/inhaftierte-der-70er-jahre/reinhard-fuhrmann/