© Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter

Rede des Bürgermeisters und Kultur- und Europasenators von Berlin Dr. Klaus Lederer zur Trauerfeier für Reinhard Schult am 29. Oktober 2021 in der Berliner Zionskirche

Liebe Franka, liebe Paula, liebe Ina Messer,

liebe Angehörige von Reinhard,

liebe Freundinnen und Freunde,

liebe Weggefährtinnen und Weggefährten,

verehrte Anwesende,

in meiner Funktion mag jetzt eine quasi offiziöse Würdigung erwartet werden. Darin müsste betont werden, dass Reinhard sich Zeit seines Lebens für Freiheit und Demokratie eingesetzt hat. Dass Reinhard von der Staatssicherheit 1989 zu den 60 Menschen gezählt wurde, die den (Zitat) „harten Kern“ einer relativ kleinen Zahl „unbelehrbarer Feinde des Sozialismus“ in den Farben der DDR bildeten. Dass er für seine Überzeugungen gesessen hat. Dass er aktiv beteiligt war bei der Aufdeckung der Wahlfälschungen im Mai 89, bei der Gründung des Neuen Forums, am Zentralen Runden Tisch, bei der Besetzung der Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990, erneut im September, um die gesellschaftliche Aufarbeitung anhand der Akten zu erstreiten.

Es müsste hervorgehoben werden, dass er sich unter den neugewonnen und erkämpften Verhältnissen von Freiheit und Demokratie weiterhin politisch engagiert hat, in der Gruppe Neues Forum/Bürgerbewegung im Abgeordnetenhaus, als Kommunalpolitiker in seinem brandenburgischen Heimatdorf, als Rehabilitierungsberater für vom SED-Regime kujonierte Menschen.

Ja, all das müsste erwähnt werden. Und die Liste ist nicht vollständig. Das wäre dann quasi das Bild eines staatlich anerkannten Helden der Bundesrepublik, auf dessen Lebenswerk in getragenen Worten voll Dankbarkeit zurückgeblickt wird. Und in der Tat: Bundesverdienstkreuz und Deutscher Nationalpreis nähren dieses Bild.

Und dennoch spreche ich hier heute als jemand, der Reinhard sehr persönlich eine Unmenge zu verdanken hat.

Wir, die wir heute hier sind, kannten Reinhard Schult. Und jeder hat eine ganz spezifische, individuelle Erinnerung an ihn, auch wenn wir alle denselben Reinhard kannten: Einen unprätentiösen Menschen, der nicht viel Gewese um seine eigene Person machte, den Ungerechtigkeiten aller Art permanent um- und antrieben.

Nein, ich kannte Reinhard zu DDR-Zeiten nicht. 1989 war ich fünfzehn, aufgewachsen in einem Ost-Elternhaus, wo von Opposition und Widerstand gegen die starren, engen, spießigen und unfreien Verhältnisse, von Bespitzelung und Verfolgung der eigenen Bevölkerung, nicht die Rede war.

Unsere Biografien kommen erst da in eine Nähe, wo Reinhard gemeinsam mit Rolf Henrich und Ingrid Köppe am Runden Tisch der DDR saß, und ich für den Runden Tisch der Jugend am Berliner Runden Tisch, zu Jahresbeginn 1990. Was für Reinhard gewiss überhaupt keine Neuigkeit war, nämlich Ausmaß und Wahnsinn der Stasi-Akten, lernte ich da kennen. Und (nicht nur, aber auch) das war für mich Anlass, alles infrage zu stellen, was ich bis dahin für richtig hielt.

In den 1990er Jahren, im Prenzlauer Berg, setzte sich für mich dieses Lernen fort. Dazu gehörten Bekanntschaften, Freundschaften, mit Menschen aus der früheren DDR-Opposition. Unter anderem solchen, die sich immer als Linke verstanden hatten, und genau und eben deshalb in das Visier des Regimes gerieten. Weil der Staatssozialismus es nicht aushielt, an den eigenen hehren Ansprüchen gemessen zu werden. Weil die diktatorischen und fragilen Verhältnisse, auf denen sich der selbst ernannte Arbeiter- und Bauern-Staat gründete, es nicht duldeten, dass Menschen kritisierten, Veränderung bewirken wollten, widersprachen und ihrem eigenen Gewissen folgend handelten. Zu diesen Menschen gehörte auch Reinhard.

Er hat mich geprägt, wenn er sich als antikapitalistisch beschrieb und zurecht anmerkte, dass ein Erbe der politischen Linken war, alle alternativen Gesellschaftsvorstellungen kapital in den Dreck gezogen und dies bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet zu haben. Der immer sehr bewusst die Distanz zur Macht hielt, auch unter den neuen Nachwende-Verhältnissen.

Er hat mich geprägt als ein Mensch, der Rassismus und alten und neuen Nazis keinen Fußbreit Raum zugestand, der sich mit ihnen auseinandersetzte, wo immer möglich. Und das wurde dann eben, wenn es darum ging, Räume zu verteidigen, auch mal handfest.

Er hat mich geprägt als ein Antimilitarist, der er schon war, als es mich noch nicht gab. Und der er blieb, als es die SED, NVA, Militärparaden und den Warschauer Pakt nicht mehr gab. Weil er auch den Golfkrieg und den Angriffskrieg gegen Jugoslawien für Grund genug hielt, zur Verweigerung des Kriegsdienstes aufzurufen.

Er hat mich geprägt als ein Mensch, für den Freiheitsrechte ohne soziale Gerechtigkeit nicht die volle Freiheit bedeuteten. Der gegen den Privatisierungskurs der Treuhand genauso opponierte wie gegen die Agenda 2010, der die Kalikumpel in Bischofferode unterstützte und im (teils vom Geheimdienst überwachten) Berliner Sozialforum mitarbeitete. Als jemand, der nicht akzeptieren konnte, dass Menschen an den Außengrenzen Europas ertrinken.

Er hat mich geprägt als jemand, der den Abbau von Bürgerrechten auch kritisiert hat, wenn sie unter demokratischen Verhältnissen, von legitimierten Volksvertretungen, beschlossen wurden, sei es beim ASOG in den frühen 90ern in Berlin gewesen oder den sogenannten „Otto-Paketen“. Den „Horch und Guck“ auch in der Bundesrepublik störte, ohne dass er – erfahren und abgeklärt genug – auch nur auf die Idee gekommen wäre, dies mit der Sammelwut und der Repression der Stasi gleichzusetzen.

Letztmalig sahen wir uns, da konnte er schon nicht mehr sprechen, im „Metzer Eck“. Er hatte zum Geburtstag geladen. Viele Menschen kannten sich, ich kannte viele nicht. Ich erinnere mich an einen sehr schönen Abend mit vielen Diskussionen bis weit in den Morgen. Und an Reinhard, der sichtlich fröhlich unter all diesen Menschen mit sehr unterschiedlichen Ansichten und Haltungen saß, die ihn feierten. Eine solche Feier wird es nun nicht mehr geben. Das ist traurig. Aber ich bin sehr froh, dass wir heute hier in der Zionskirche gemeinsam an ihn denken, einem Ort, der sich so mit seiner Biografie verbindet. Reinhard hat mir schon länger gefehlt, als Bürgerbewegter und Oppositioneller.  

Nein, eng verbunden waren wir nicht, freundschaftlich wohl. Wir begegneten einander hin und wieder, in unterschiedlichen Kontexten – und in Kneipen. Reinhard war immer entwaffnend offen und konsequent, direkt und unverblümt, und das ohne jede Oberflächlichkeit. Er hat mit seiner menschlichen Haltung viel dazu beigetragen, mich zu kritischen Einsichten und Haltungen zu bringen, die mich heute ausmachen. Dafür bin ich Reinhard meinen Lebtag dankbar.