Rede von Eckart Hübener zur Trauerfeier für Reinhard Schult am 29. Oktober 2021 in der Berliner Zionskirche

© Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter

Eckart Hübener, REDE in der Trauerfeier für Reinhard Schult (1951-2021)
am 29.10. 2021, Zionskirche Berlin 

Der Traum ist Traum zu dieser Zeit,
doch nicht mehr lange, mach dich bereit
zum Kampf ums Paradies

Liebe Franka, liebe Paula, Liebe Ina,
Liebe Freunde und Gefährtinnen,

Wir sind hier, um ihn, der gegangen ist, gehen zu lassen. 

Der in uns bleiben wird. 

Reinhard Schult, mein Freund.

Ich lernte mit ihm: 

Was braucht es, um von der Diktatur zu einer dem Menschen gemäßen Lebensform zu kommen? 

Welche Grundsätze?

Welche Menschen?

Was brauchen Ungeduld und Aufbegehren, Aufklärung und Transformation in der DDR, um stärker zu werden?

 

Es braucht Räume, Ideen, geopferte Zeit und Kraft. Es braucht Geld und List, Toleranz – die ungeklärten Dinge auszuhalten.

Und es braucht vor allem begabte Wesen, Menschen, die das wollen, die trotz Zwang, gesundheitlicher Bedrohung, trotz Ausgrenzung, trotz Verrats und Haft nicht verhärten wollen.

Und die nicht weg gehen. 

Die auf die Welt kamen, um zu bleiben. Hier zu bleiben.

So einer war der, dessen leibliche Hülle tot ist, Reinhard Schult, mein Freund, dessen Inspiration, Mut, Trotz, Klugheit Strategie, dessen Fähigkeit, mit engagierten Menschen anderer Richtungen Offenheit und Freundschaft zu praktizieren uns allen frisch im Gedächtnis ist.

Räume zu erkennen, sie zu Spielräume zu weiten, Grenzgänger zu sein, über Grenzen gehen das war sein großes Geschick. Grenzverletzer, natürlich.

Die Junge Gemeinde Mahlsdorf hatte solche Räume, da begann es. Nicht in der FDJ. 

Entscheidung auf Entscheidung folgte, nach einer Maurerlehre das Theologiestudium, eine frühe Heirat und die Tochter Franka mit Freude, Vater- Fürsorge und Verantwortung ... 

Dann 1976 der Dienst ohne Waffe als Bausoldat, mit Rudolf Kessner und Henning Utpatel. Ihr wart kreativ: Der Heizungskeller wurde zur Druckerwerkstatt, und Vorsicht stand über allem.

1977, vor 44 Jahren, lernte ich Reinhard kennen, wir musizierten auch, dann freche 1848er Lieder, später Georg Danzer, Die andere Seite und sangen Biermanns Lieder. 

Und natürlich wurde getippt und vervielfältigt. Damit einher ging die Prüfung aller Kontakte, wuchs Vertrauen aber auch. So festigte sich die belastbare Basis. 

Als er zurück war, im Zivil der DDR-Diktatur, wohnte er zunächst unweit von mir in der Christburger, dann Kanzower Str., wir sahen uns oft täglich – bis die Stasi ihn durch Verrat 1978 ergriff wegen eines Kommunistischen Blättchens: ROTER MORGEN, AUSGABE DDR … 

Die wackerste und damals löwenhafte Unterstützerin war seine Mutter Ingeborg Brückner, die ich ebenso  kennen lernte wie seine Tochter, das Schulkind Franka, die ihren Vater liebte und vermisste. 

März 1979 kam er frei.

Gemeinsam gingen wir zur ESG, brachten die Wehrdiensterfahrung ein und den Pazifismus, gründeten mit andern einen Friedenskreis und den Arbeitskreis Kirche und Gesellschaft. 

Mit Studentenpfarrer Hans Schreiber war das möglich, als der geschasst wurde, wurde es schwierig. 

Neue Themen: Die gesellschaftliche Neukonstruktion oder Wiederaufbau einer – so die Hoffnung – erneuerten Gesellschaft. Linke Ideen kamen dazu, Geschichte der Arbeiterbewegung, Anarchosyndikalismus aus Spanien, das kam.

Für so etwas brauchte es Konkretisierung in die Gegenwart. 

Vieles war weit über den gegebenen und zugestandenen kirchlichen Rahmen hinaus. 

Aber was konnten wir dafür, wenn die Kirche so weit hinter ihren Aufgaben zurückbleiben wollte? 

Kirche baute sich auch als Täterin aus und hat das bis heute wenig realisiert. Wir spürten die Feigheit und Verrat der Verantwortlichen.

Wir wussten noch nicht, dass nahezu alle Juristen in den DDR-Kirchenleitungen IMs waren, Konsistorialpräsidenten, Generalsuperintendenten, Kirchendiplomaten.

Geheimniskrämer, Wichtigtuer.  – IM oder nicht, egal – und dutzend Weitere, die eine Strategie der Unterdrückung im Auftrag betrieben. Ihre Namen mögen vergessen werden.

Aber ein Name sei hier festgeschrieben in dem Mutprojekt Friedliche Revolution, der von Reinhard Schult.

Konkret zu werden, im Ostblock eine Gegengesellschaft wachsen zu lassen – der Impuls kam vielmehr von auswärts, von Charta 77 und aus Polen. 

Wieder Grenzüberschreitung zum Lernen.

Reinhard und ich waren im Juli-August 1980 nahe Danzig zelten. Leider war unser Polnisch so mangelhaft, dass wir die Relevanz der Streiks unterschätzten. … Wir erlebten nur die Reaktionen der Dorfleute auf das, was im TV am Konsumeingang zu sehen war. Skepsis, Schadenfreude, Wut. Kania kam an die Macht.

Dort vor allem wurde die erfolgreichste zivilgesellschaftliche Formation SOLIDARNOSC erkämpft und geboren, begleitet von Besetzungs-Streiks, Unterstützungs-Gottesdiensten weltweit, mit Flugblättern und Unterdrückung. 

Nur nicht in der DDR. 

Hier war Ruhe und Zeit der Pflege von Feindbildern über Polen als Charakter und als Nachbarn in Europa. Streiks? Da steckte 1953 noch in den Knochen derer, die nicht wussten, dass sie ein Rückgrat haben konnten.

Wir fragten: Was würde sein, wenn die NVA über die Oder schreitet? 

Die Gefahr war sehr real und wir erhielten glaubwürdige Kenntnis von Manövern solcher Zielstellung. Der uns das sagte, ist heute unter uns. Er alarmierte uns …

Am 8. September 1980 gründeten wir eine Polen AG, die natürlich nicht so hieß, die zunächst 8 dann 14 Mitglieder hatte. 

Namen nenne ich nicht, aber die meisten sind heute hier.

Über diese Gruppe ist noch nie publiziert worden.

Wir trafen uns zweiwöchentlich und bis lange nach 1985 waren wir ohne jeden IM, und das, obwohl zwei von uns wegen Solidarnosc-Zeitungen in Gefängnis kamen.

Reinhard organisierte, schärfte Geheimhaltung ein, entwarf Strategien, Vertrauenswürdige von Schwätzer zu scheiden.  

Wegen Konspiration blieben die Fenster der verwaisten Wohnungen zu. Und dunkel. Aber Reinhard rauchte wie ein Schlot, so dass ich am nächsten Tag kaum denken konnte.

Er ermutigte uns, auch über unsere jeweilige Blase zu schauen – bei mir war es die kirchliche. Es war unsere private Uni, wir lasen Anarcho- und SED-Texte, Bahro, Trotzki und Feministische Linguistik.

Wir bereiteten Auftritte mit einem Liederkreis vor, später FF-Liederkränzchen, sangen Ton Steine Scherben-Lieder, gingen in Vorbereitung der Friedenswerkstatt Erlöser, in Königswalde, Kessin etc. Auf allen Ebenen knüpften wir vielfältige Kontakte zu Pazifisten der Welt, aber auch zu CHARTA 77, zu Linken im Land, zu Punks, zu Künstlern in der DDR und weit darüber hinaus aus Europa und der Welt. Wir knüpften Bänder zu westdeutschen Linken, die auch das Wort Wiedervereinigung erwähnten. 

Ich war mit Klaus Tessmann ab August 1981 ein bisschen weg. Für 13 Monate Gefängnis wegen polnischer Literatur. 

Würde unsere Gruppe diese Belastung überstehen?

Irgendwann, vielleicht am 13. August 1981 wurde es schwer. Da mein Großvater 1937 im gleichen Neustrelitzer Gefängnis wie ich war, bedankte ich mich beim Vernehmer für diese Gelegenheit, seine Zelle zu sehen. Das kam schlecht an. Ein Vernehmerfossil der bösen Sorte war plötzlich da, schrie mich an, dass ich die Staatsorgane belüge und nicht sage, wem ich die mitgebrachte Literatur geben wollte. Und dass sich mein Großvater im Grabe umdrehe.

Mir ging der Mut aus. Ich sagte nur: „Von uns hier im Raum kennt nur einer den Großvater: Das sind sie nicht.“

Da öffnete sich eine Kraftglocke, wie im Film Harry Potter: Expecto patronum“. 

Der Geist meines Großvaters war da, und alle Freunde draußen waren da, auch Reinhard. 

Und eine innere Stimme sagte: „Du geh beiseite. Es geht hier nicht um dich! Ich übernehme! 

Meine Kraft ist in den Schwachen stark. Du musst Zeuge sein, es wird einen Wandel geben!“ 

Mit diesem Versprechen konnte ich es weiter aushalten, weil ich begriff, dass hier Größeres dran war: Das Mutprojekt Widerstand war auch spirituelles Projekt Kirche von Unten, dank Reinhard Schult, dank vieler Anderer drinnen und draußen.

Reinhard kam mit vielen anderen zum Prozess im Gerichtssaal (der nur 7 Plätze hatte) und flog raus.

Januar 1982 im Zuchthaus Brandenburg, im Kellerkarzer sangen mein MITGEFANGENER Peter Finger und ich die frechen Lieder: In dem Kerker saßen zu Frankfurt an dem Main.

Wir sangen:
Du, lass dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die allzu hart sind, brechen
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich … 

und Oh Freedom! mit diesen neuen Strophen: 

No more STASI, no more Mielke
And before I‘ll be a slave I‘ll be buried in my grave
And go home to my LORD and be free

Das tat gut!!

Und Reinhard besuchte mich als mein Cousin im Zuchthaus Brandenburg, wir schauten uns fragend an, ob einer den Anderen gefährdet haben könnte, begriffen, dass dies nicht der Fall war.

Und wir lachten an diesem dunkelsten Ort 

ein dreckiges, 

kehliges, 

berührendes, 

befreiendes, 

ein wunderschönes Lachen. 

Er tröstete mich: Du, lass dich nicht verhärten 

Das war einmalig. Bald hatte die Stasi Familienforschung betrieben. Schluss mit Cousin-Besuch.

Nach dem erfolglosen Versuch der Allianz Stasi/Manfred Stolpe, mich freikaufen zu wollen gegen meinen Willen, holte er mich morgens um 8 am Gefängnistor Karl-Marx-Stadt ab, erklärte, ich müsse gleich mit nach Berlin kommen, wo eine Party warte. Und Geld war auch gesammelt worden für Miete und anderes. 

Gelebte Solidarität war das. Reinhard war nicht nur Stratege, sondern lebte so etwas vom Neuen, auch wenn‘s manchmal barsch daher kam.

RS hat so viel gegründet: 

Kirche von Unten (KvU):  

Räume mussten besetzt werden, wo Kirche ihre Macht zurückhält oder missbraucht, ihre Aufgaben trotz größten Reichtums an ideeller Basis, Personal und Räumlichkeiten nicht erfüllen will und zur Mittäterin im Unterdrückungssystem wird. 

Ihr von der KvU werdet das erinnern.

In der Gemeinde Friedrichsfelde fand er ein Zuhause und zugleich einen FreundVerräter. Was er 1991 erfuhr…

Anstrengend waren auch die heftigen Auseinandersetzung mit Kirchenebenen

Die zweite Tochter, Paula, wurde hineingeboren in Reinhards sehr anstrengende Jahre 1987-89 im Untergrund, ständig mit Stasi-Verfolgern in Nebenstrassen; beschäftigt hat er sich sehr mit der Untergrundbibliothek mit 400 Titeln und Konspirativen Wohnungsdurchsuchungen. 

Endlich im September 1989 Gründung des NEUEN FORUMs.

Nicht die SDP, nicht in die GRÜNE PARTEI der DDR, nicht zum DEMOKRATISCHEN AUFBRUCH, nicht DEMOKRATIE JETZT war seins. 

Selbst gründen macht froh! Jacek Kuron empfahl: Zerschlagt keine Parteibüros, sondern gründet neue! 

Keine Anbiederung bei nichts und Niemandem.

Ein Stasi-General bedauert heute nur eines: mit Reinhard Schult nicht geredet und keinen DEAL gemacht haben. 

Aber da hätte Reinhard erstmal wollen müssen…

Erhobenen Hauptes und notfalls auch allein stehend ging er für das NF zum Runden Tisch, organisierte Januar 1990 mit andern den Sturm auf das MfS-Hauptquartier und erzwang endlich die Verabschiedung des Stasi-Unterlagengesetzes der DDR durch die Volkskammer und die Durchleuchtung ihrer Abgeordneten.

Später ab 1994 haben sich für einige Jahre die Fäden anders gesponnen, ich war ja in Mecklenburg, 

Reinhard war Abgeordneter, zog nach Fredersdorf bei Prenzlau, hatte zeitweise dort eine Basis als Gastwirt und wurde lebensgefährlich von Neonazis niedergeschlagen.

Wir wissen nicht, wie das Leiden entstand, das zu seinem Tod führte. Hinweise und Vermutungen sind jetzt noch wohlfeil. Vielleicht gibt es mal Transparenz, wie das MfS die Gesundheit seiner Feinde vorsätzlich ruinierte bis zu deren Tod. Das gehört aber woanders hin.

Ich weiß nur, dass er die letzten 10 Jahre durch Ina freundliche, liebevolle und sehr aufopfernde Pflege erhalten hat!

Ich hatte in ihm einen Freund, der mir und dem ich vertraute, und die wir uns gegenseitig ohne Weiteres ins Gefängnis bringen konnten 

­­–  wie Uwe Johnson es beschrieb.

Ich weiß, dass Reinhard mir, Dutzenden und ja, Hunderten ein Beispiel 

- für Selbst-Klugheit auch in Niederlagen, 

- für wunderbar schnoddrige Abfälligkeit und Sarkasmus gegen jedes die Opfer am Wegesrand ignorierende Institutions-Gedusel und falsche Spielregeln war, 

- für die Bereitschaft, sich mit bereiten ernsthaften Menschen ganz anderen Denkens einzulassen, präsent zu sein auch wo‘s knirscht eben

Für ein lustiges und trauriges, 

identitätsstiftendes und noch unbekanntes, 

dreckiges und wunderschönes

Deutschland, ein  

FREIES LAND DER FREIEN MENSCHEN

Reinhard, Du bist dabei, neue Räume zu erschließen und sie werden dir sicher erschlossen werden, auch ohne Kampf, ohne Zaudern und mit großer Liebe, 

Gehaltensein und Licht

Mit Ton Steine Scherben:

Kind Tochter und Sohn Zion, freue dich

Ultreia

Ahoi

Amen.