© Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter

Rede von Sebastian Pflugbeil zur Trauerfeier für Reinhard Schult am 29. Oktober 2021 in der Berliner Zionskirche

Liebe Franka und Paula, liebe Ina, liebe Freunde aus alter Zeit

Reinhard und ich – wir waren ganz unterschiedliche Typen. Wirklich begegnet sind wir uns in dem legendären Herbst 1989, als innerhalb weniger Wochen alles anders wurde. Wir waren beide unter den 30 Freunden, die von Bärbel Bohley, Rolf Henrich und Erika Drees konspirativ auf das Grundstück von Havemanns in Grünheide eingeladen wurden. Keiner wusste vorher, wer da alles kommt. Es entstand ein Blatt Papier, mit Durchschlägen auf einer kleinen Schreibmaschine vervielfältigt. Der erste Satz lautete: „Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört.“ Dann fuhren wir wieder nach Hause und tippten die Seite ab und schickten sie an Freunde und an die Medien. Treffen wollten wir uns das nächste Mal am 3. oder 4. Dezember. Niemand hätte für möglich gehalten, dass da schon die Mauer weg war, die ersten Stasihochburgen besetzt wurden, Schalck-Golodkowski in den Westen verschwand und während des Treffens Reinhard mit Wolf Biermann und Jürgen Fuchs hereinkam. Aber zurück: Das, was da in Grünheide entstand, ging unter dem Namen NEUES FORUM in die Geschichte ein. Es war schwierig, das wie eine Lawine wachsende Interesse an „Dialog“ so zu bündeln, dass es zu etwas führte. Wir alle waren in politischem Management denkbar ungeübt, wir hatten nicht Mal alle Telefon. Reinhard fiel sehr schnell auf. Er hatte in den vorangegangenen Jahren Kontakt zu vielen ganz unterschiedlichen Gruppen, konspirativ, halbkonspirativ oder offen – in der ganzen DDR. Er kannte die Gruppen um die verschiedenen Kirchen, hatte Kontakte zu den Genossen, zu den Reformern in der Partei und später auch zu Stasileuten. Er war groß und stark und konnte laut sprechen und er dachte ununterbrochen darüber nach, wie aus Diskussionen was Konkretes werden könnte. Einer seiner Spitznamen war „Obrist“ – da kommt der Obrist. Er liebte es, Aufgaben zu verteilen, hatte immer einen dicken Kalender dabei, in den alle Aufgaben eingetragen wurden. Das war in dem schwer überschaubaren Gewusel von gutwilligen, aber wenig oder nicht organisierten Menschen so etwas wie das organisatorische Rückgrat dieser Zeit. Auch wenn das manchmal nervte, wurde es meist respektiert. Wir waren uns nah damit, dass wir mit jedem reden sollten, der dazu auch bereit war. Das haben wir beide bis zur Erschöpfung gemacht. Das inhaltsorientierte offene Reden miteinander, nicht nur mit Freunden sondern auch mit gänzlich unbekannten fremden Leuten war nach den Jahren der Resignation und Vorsicht wahrscheinlich der Kern des Herbstes 89. Dass daran die alte DDR buchstäblich zerbrach, haben wir nicht zu träumen gewagt. Wir haben viel verpasst, aber doch mehr erreicht – nicht zu vergessen, in nur wenigen Wochen.

Reinhard war für mich ein echter Linker im alten Sinne. Mir fiel es schwer, mir das Etikett anzustecken, mich interessierten seit Jahren die Probleme mit der Kernenergie, die Physik, die Medizin. Die ständige ML-Indoktrination hat mir den ganzen „linken“ Bereich so verdorben, dass ich lieber einen großen Bogen darum gemacht habe. Was uns verband, war aber – dass wir beide nicht den Traum hatten, möglichst schnell in den Westen zu kommen oder möglichst bald Teil der Bundesrepublik zu werden. Wir wollten einfach da, wo wir waren, zunächst die Zustände verbessern. Die „westliche“ Denkweise war uns in etlichen Bereichen suspekt. Die Ideologie der westlichen Linken blieb uns weitgehend fremd. Natürlich waren wir frustriert, dass wir die Verbindung zu vielen unserer neuen Freunde in dem Moment verloren, als die Mauer fiel. 

Erst danach saß Reinhard mit Ingrid Köppe und Rolf Henrich am Zentralen Runden Tisch, ich war nur ein paar Mal dabei. Die drei wurden ernstgenommen, Reinhards Thema war die Auflösung der Stasi. Ich hätte manchmal ganz gerne genauer gewusst, was Reinhard wo wie treibt. Aber er war bei einigen Themen ausgesprochen wortkarg.

Wir haben dann auch in der Stadtverordnetenversammlung und später im Abgeordnetenhaus zusammengesessen. Ich erinnere mich noch gut an die konstituierende Sitzung des AH in der Nikolaikirche. Unsere neuen Kollegen hielten uns immerhin für so wichtig, dass im ersten Tagesordnungspunkt die Satzung des AH so verändert wurde, dass wir den Fraktionsstatus verloren. Da waren wir „angekommen“. Reinhard hat für Disziplin gesorgt und ist uns manchmal auf die Nerven gegangen. Wir haben Politik betrieben, aber es war nicht unsere Herzenssache. Wir haben gesehen, wie wenige Personen faktisch entscheiden, was ein Parlament beschließt und wieviel Abhängigkeit und Theatralik den Alltag bestimmen. Daran sind wir beide krank im Kopf geworden. Die anderen MdA waren das schon länger.

Ich hätte mich gefreut, wenn Ingrid Köppe hier die Gelegenheit bekommen hätte, die enge Zusammenarbeit mit Reinhard Schult in den politischen Wirren der Zeit genauer zu beschreiben. Sie hätte das besser können als jeder von uns. 

Hallo Reinhard,

vielleicht hörst Du ja doch zu, Du kennst diese Kirche. Seit über einem Jahr geschehen Dinge, über die ich gerne mit Dir reden würde. Ich denke immer öfter daran, was uns in den letzten Jahren der DDR dazu gebracht hat, konkreter zu werden, offen miteinander zu reden, auf die Stasi zu pfeifen, auf die Straße zu gehen und die womöglich drastischen Konsequenzen zu riskieren:

Verkalkte politische Führer, die manipulierten Wahlen, Sympathie mit der kommunistischen Macht in China, Propaganda über gleichgeschaltete Medien, Zensur, verbotene Bücher, Postkontrolle, Telefonüberwachung, verwanzte Wohnungen, Videoüberwachung, Reisebeschränkungen und Mauer total, Unfähigkeit der Mächtigen, Hausdurchsuchungen, Machtmissbrauch, brutale Polizei und Stasi, die „Zersetzung“, abhängige Justiz,  usw. usw.

Ich vermute, dass wir uns schnell geeinigt hätten, dass wir heute auf eine Weise gepiesakt werden, die als eine perfektionierte Fortführung etlicher Praktiken der damaligen „Diktatur des Proletariats“ verstanden werden kann. Vielleicht treffen wir uns gelegentlich bei Dir da oben mit einigen Kirchenvertretern und lassen uns erklären, weshalb sie nicht massiv eingeschritten sind, als so viele alte Leute einsam sterben mussten – ohne Familie und ohne geistlichen Beistand und weshalb heute die Kirchentüren vor kritischen Bürgern, die lediglich offen und ungestört über die fragwürdigen Zustände, die zunehmenden Einschränkungen unserer Grundrechte reden wollen, fest geschlossen bleiben. Vielleicht sind ja aber diese Gemeinderäte, Pfarrer und Bischöfe dann ganz woanders untergebracht.

Jedenfalls fehlen Rebellen Deines Kalibers hier unten sehr angesichts der massiven Schwierigkeiten, die wir schon haben und die noch auf uns zu kommen.

Reinhard – Du warst ein wichtiger Mann in einer für uns alle außerordentlichen Zeit. Das werden wir Altrevolutionäre nicht vergessen, auch wenn wir durchaus nicht immer einer Meinung waren. Damals waren unterschiedliche Meinungen übrigens noch ganz normal.
Reinhard - ich grüße Dich und Deine Familie mit Respekt.

Sebastian Pflugbeil

Berlin, Zionskirche

29.10.2021