© Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter

Rede von Ulrike Poppe zur Trauerfeier für Reinhard Schult am 29. Oktober 2021 in der Berliner Zionskirche

Trauerrede für Reinhard Schult, 29.10.2021

Liebe Franka, liebe Paula, liebe Ina, liebe Trauergemeinde,

wir sind hier zusammen, um mit einander um Reinhard zu trauern und an ihn zu denken, in Dankbarkeit und Liebe. Er war uns nah, war unser Weggefährte, Mitstreiter und Freund.

In den letzten Jahren seines Berufslebens war Reinhard in meiner Potsdamer Behörde, also bei der Brandenburgischen Aufarbeitungsbeauftragten tätig. Er beriet Menschen, die durch das SED-Regime Unrecht erlitten hatten, die politisch verfolgt, benachteiligt und inhaftiert waren. Und unterstützte sie dabei, ihre Ansprüche auf Rehabilitierung und Entschädigung durchzusetzen. Er hörte ihnen zu und ließ sie spüren, dass er genau wusste, wovon sie sprachen.

Hat er doch selbst die verschiedensten Verfolgungsmethoden erlebt. Wie wir alle wissen, ließ er sich davon nicht abschrecken. Manchmal schien es, dass er sich durch Stasiaktivitäten erst recht angetrieben fühlte. Was ja auch insofern nachvollziehbar ist, da Reinhard alles verabscheute, was den Menschen Mündigkeit absprach und ihnen Selbstbestimmung raubte. Von Jugend an gestaltete er sein Leben unabhängig im Geist und eindeutig mit dem Herzen auf der Seite der Schwachen und Benachteiligten.

Was er für sich in Anspruch nahm, sich eine eigene Meinung zu bilden, sie zu vertreten und im politischen Raum wirksam werden zu lassen, forderte er für alle ein. Eine Diktatur, die Menschen in eine Norm zu pressen versuchte, hat seinen zähen Widerstand herausgefordert.

Reinhard ermutigte nicht nur zu selbständigem Denken und Urteilen. Er wusste, dass die eigene Urteilsfähigkeit vor allem auf umfassende Informationen angewiesen ist.

Deshalb waren viele seiner Aktivitäten darauf gerichtet, das staatliche Informationsmonopol durch eigene Informationsquellen zu brechen.

Schon während der Bausoldatenzeit initiierte er eine geheime Druckerei. Die ganzen 80er Jahre lang betrieb er den Schmuggel von westlicher Literatur in den Osten. Das lief über den EPD-Korrespondenten Hans-Jürgen Röder. Die damit aufgebaute geheime Bibliothek, ca. 300 Bände, wurde in Wohnungen versteckt, deren Mieter nicht im Stasi-Focus standen. Er organisierte Seminare und Werkstätten, war an der Umweltbibliothek hier an der Zionskirche tätig, verfasste und verbreitete Flugschriften, den „Friedrichsfelder Feuermelder“, und es gelang ihm sogar einen Piraten-Sender, den sogen. „Schwarzen Kanal“ einzurichten. Ab 1987 schrieb und beschaffte er Artikel für die Ostberlin-Seite der in West-Berlin erscheinenden TAZ.

All das trug dazu bei, dass Menschen aus dem „Gewebe von Lüge und Heuchelei“ (wie Vaclav Havel es nannte) herausfinden konnten.

Auch wenn das alles nur Tropfen auf den heißen Stein waren, - denn es gab nicht viele in der DDR, die sich erkennbar gegen das politische System stellten. Aber dank solch unerschrockener und unaufhaltsam aktiver Persönlichkeiten, wie Reinhard, ist doch einiges bewegt worden, das letztlich dazu geführt hat, die Machthaber in die Knie zu zwingen.

Am Zentralen Runden Tisch, an dem er das Neue Forum vertrat, wurde seine Stimme endlich landesweit hörbar. Seine konsequenten Forderungen, insbesondere zur Auflösung der Staatssicherheit, schufen mit die Voraussetzungen, unter denen die ersten freien Wahlen möglich wurden.

Er führte Regie bei der Besetzung der Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 und der zweiten Besetzung Anfang September. Er engagierte sich für den Erhalt und die Öffnung der Stasi-Akten. Ich erinnere mich gut, wie er sich Zutritt verschaffte zu einer Sitzung der frei gewählten Volkskammer und mit donnernder Stimme die Überprüfung der Abgeordneten auf frühere Stasi-Tätigkeit forderte.

Auch nach dem Systemumbruch sah Reinhard sich der Aufklärung verpflichtet, insbesondere, was die Aufarbeitung der DDR-Geschichte betraf.

Zusammen mit Jürgen Fuchs verfasste er das erste Konzept für die Robert-Havemann-Gesellschaft. Geplant war damals ein großes Dokumentationszentrum mit 60 Mitarbeitern. Obwohl das Personalbudget heute weit darunter liegt, ist daraus tatsächlich eine wichtige Einrichtung zur Aufarbeitung mit dem größten Archiv über Opposition und Widerstand geworden.

Reinhards wichtigstes Wirkungsfeld blieb immer jenseits des etablierten Machtgefüges. Zwar hatte er sich auch mal ins Berliner Abgeordnetenhaus wählen lassen, aber solch eine Funktion wurde nie sein Standbein. Taktieren, jonglieren, Kompromisse eingehen, sich vor Meinungsführern oder Mehrheiten krümmen, - das war seine Sache nicht.

So bewahrte er sich seine Klarheit, seine Authentizität, seine Geradlinigkeit. Und das habe ich an ihm so geschätzt, - auch wenn es manchmal nicht einfach war, sich mit ihm zu einigen.

Die heftigste Auseinandersetzung, an die ich mich erinnere, und in der Reinhard eine entscheidende Rolle spielte, war die, in der es Anfang 1986 um die Vorbereitung eines MR-Seminars ging. Diese führte zu einer Spaltung der Vorbereitungsgruppe in die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ und die Gruppe um Reinhard, die sich „Gegenstimmen“ nannte. „Gegenstimmen“ war sozusagen der linke, anti-westlich geprägte Flügel. Trotz der heftigen Auseinandersetzung und der formalen Trennung aber blieben die Beteiligten weiter in Verbindung und in vielfältiger Zusammenarbeit.

Das gehörte auch zu Reinhards Vorzügen: im Grunde konnte er gut mit anderen Meinungen umgehen. Gemeinsame Aktivitäten sind auch immer mit Kontroversen verbunden - und er scheute sie nicht. Vor allem ließ er nicht zu, dass damit die übergeordneten gemeinsamen Ziele außer Acht gerieten.

Mit Reinhard konnte man eben gut ein Bier zusammen trinken und Bedrohungsängste weglachen. Man konnte sich wunderbar mit ihm streiten, auch ohne sich gleich zu zerstreiten. Manchen war er vielleicht zu radikal, zu antiwestlich, zu kompromisslos, zu apodiktisch, oder mit seiner derb-berlinischen Art einfach zu prollig. Aber das alles verblasst, wenn wir uns Reinhards  offene, klare und ehrliche Haltung vergegenwärtigen, meinungsstark, phantasievoll und mitreißend. Vielen um ihn herum hat er eine neue Welt eröffnet, hat ihnen gezeigt, wie man auch in der Diktatur sein Leben in die eigene Hand nehmen kann. Er lebte es ihnen vor.

Ich kannte ihn seit Anfang der 80er Jahre und habe ihn für sein unermüdliches Engagement bewundert. Als ich Ende 2009 mit ihm ein Gespräch über seine Anstellung in meiner neuen Potsdamer Behörde führte, war ich etwas irritiert. Er sprach ungewöhnlich langsam und stockend und wirkte erschöpft. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass dies schon die ersten Anzeichen seiner Krankheit waren. Der einst so energiegeladene und wortgewaltige Reinhard wurde zum Rückzug gezwungen. Noch brachte er alle Kräfte auf, um Menschen zu helfen, die unter dem SED-Regime gelitten haben.

Daneben setzte er sich mit großer Ernsthaftigkeit mit verschiedensten radikalen und extremistischen Strömungen auseinander. Er war in der Lage, mit Menschen aus einem breiten politischen Spektrum zu reden, und zwar auf Augenhöhe.

Vor allem behielt er seinen kritischen Blick auf gegenwärtige politische Fehlentwicklungen, in denen Menschenrecht und Menschenwürde dem Ränkespiel von Machtinteressen zum Opfer fallen.

Er fehlt uns. - Aber in unseren Köpfen und in unseren Herzen bewahren wir die Erinnerung an ihn und an all die Aktionen, die er initiiert und vorangetrieben hat. Er hat einen festen und unersetzlichen Platz in der Geschichte, die er maßgeblich mitgeschrieben hat. Aber auch sein Platz in der Gegenwart ist leer geworden. Mag die Erinnerung an diesen unerschrockenen und unbeirrbaren Streiter für eine gerechtere Welt dazu beitragen, dass andere in seine Fußtapsen treten.

Reinhard, wir werden Dich nicht vergessen. Gute Reise!