Edelbert Richter – Gegner der SED-Diktatur und Streiter für Demokratie und Freiheit

Edelbert Richter bei der Gründungsversammlung der Bürgerbewegung "Demokratischer Aufbruch" am 29. Oktober 1989. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Weu/RHG_Fo_BWeu_2097

In einem Ende September 1989 erstellten Bericht der Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt heißt es, die „operativ bekannten feindlich-negativen Personen“ hätten zu den landesweit geplanten Gründungen „sogenannter Sammlungsbewegungen“ ihre Zustimmung und aktive Beteiligung erklärt. Unter den „operativ bekannten reaktionären kirchlichen Amtsträgern“ sei „insbesondere Pfarrer Edelbert Richter hervorzuheben.“ Aufgrund der „vorliegenden operativen Erkenntnisse“ – so die Einschätzung des Ministeriums für Staatssicherheit –, „entwickelt sich Pf[arre]r. Richter zunehmend zu einem der Hauptinitiatoren bei der Schaffung einer oppositionellen Bewegung in der DDR.“[1]

Gemeinsam mit Rainer Eppelmann, Erhart Neubert, Friedrich Schorlemmer, dem später als Stasi-Spitzel enttarnten Wolfgang Schnur und anderen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern zählte der Theologe Edelbert Richter zu den Gründungsmitgliedern des ‚Demokratischen Aufbruchs‘, jener politischen Vereinigung und Partei, in der auch Angela Merkel an der Jahreswende 1989/1990 ihre ersten politischen Erfahrungen machte.  

Edelbert Richter wurde am 25. Februar 1943 in Chemnitz geboren. Nachdem er an der Erweiterten Oberschule ‚Käthe Kollwitz‘ in Zwickau sein Abitur gemacht hatte, begann er im Jahre 1961 ein Philosophie-Studium an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Wenige Wochen nach Studienbeginn wurde er jedoch wegen „ungenügender politischer Reife“ exmatrikuliert und war anschließend bis 1963 „zur Bewährung in der Produktion“ als Kranführer tätig. Von 1963 bis 1968 studierte er Theologie an der Martin-Luther-Universität in Halle und arbeitete anschließend als Assistent am Katechetischen Oberseminar in Naumburg/Saale. Dort und in Stößen (Sachsen-Anhalt) war Edelbert Richter von 1974 bis 1979 als Pfarrer tätig. Im Jahre 1976 erfolgte seine Promotion mit einer theologischen Dissertation über den Zusammenhang von Religions-, Philosophie- u. Ökonomie-Kritik bei Karl Marx. Zwischen 1977 und 1987 arbeitete er als Studentenpfarrer in Naumburg und erhielt anschließend eine Pfarrstelle in Erfurt. Er war dort auch als Dozent an der Predigerschule tätig und nahm zudem von 1987 bis 1990 einen Lehrauftrag für Systematische Theologie und Philosophie am Katechetischen Oberseminar der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Naumburg war.[2]

Ab 1977 engagierte sich Edelbert Richter gemeinsam mit seiner Frau Andrea in oppositionellen Gruppen unter dem Dach der evangelischen Kirche und war zudem in der Friedens- und Umweltbewegung aktiv. Gerade der Friedensbewegung – so bemerkte er in der Rückschau – habe Robert Havemann mit seinen Briefen an Honecker und Breshnew im Jahre 1981 und dem im Folgejahr verfassten Berliner Appell „wichtige Anstöße“ gegeben, denn in diesen Dokumenten „wurde nicht nur eine kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa gefordert, sondern auch die schrittweise Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas.“[3] Dieses Thema lag ihm seit Beginn seiner politischen Tätigkeit sehr am Herzen und brachte ihn vor allem im Jahre 1989 in Widerspruch zu vielen Oppositionellen, die auf eine reformierte aber eigenständige DDR hofften. Nach der Beobachtung Erhard Epplers stand Edelbert Richter „politisch und theologisch links von der Mitte.“[4] Er unterhielt auch zahlreiche Kontakte zu kritischen Marxisten und war nach Einschätzung Erhart Neuberts „ein wesentlicher Inspirator des christlich-marxistischen Dialogs.“[5] Darüber hinaus hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass Naumburg zu einem Anlaufzentrum für die Opposition im Süden der DDR wurde. Als Regimekritiker geriet e   r ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, das im Zuge seiner „politischen, ideologischen und operativen Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ im Jahre 1987 auch einen Zersetzungsplan für Edelbert Richter einleitete.[6] 

Im Juni 1989 erklärte er im Rahmen eines in Berlin stattfindenden kirchlichen Kolloquiums, die Gruppen seien „jetzt als die Keime einer pluralistischen Gesellschaft unter den Bedingungen noch vorherrschender Parteistaatlichkeit zu verstehen“ und seien darüber hinaus „ein Ansatz zu öffentlicher Willensbildung.“ Es gehe nicht mehr um das spannungsvolle Verhältnis zwischen Kirche und Basisgruppen, „sondern um den Freiraum der Gesellschaft gegenüber dem Parteistaat.“[7] Im Rahmen des Kolloquiums erfuhr er von Rainer Eppelmann, dass Ende August ein informelles Treffen zur Formierung einer Oppositionsbewegung stattfinden solle.

Bei diesem Treffen am 21. August 1989 in Dresden vereinbarte man die Gründung einer politischen Vereinigung und gab ihr den Namen „Demokratischer Aufbruch – sozial, ökologisch“ (DA). Die Stasi zählte zum kleinen Kreis der „Inspiratoren dieser Sammlungsbewegung“, bei der es sich „um eine Gruppe reaktionärer kirchlicher Amtsträger“ und „langjähriger Organisatoren feindlich-negativer Aktivitäten“ handele, auch Edelbert Richter.[8] Nachdem am 11. September 1989 das Neue Forum an die Öffentlichkeit getreten war, machte Richter die Gründungsabsichten des DA über die Westmedien öffentlich, als er entgegen der ursprünglichen Absicht in einem Interview bei einem Mitte September erfolgten Besuch in der Bundesrepublik von den Plänen des Demokratischen Aufbruchs berichtete.[9] „Bis in den Dezember 1989 hinein“ – so Erhart Neubert – „hat Edelbert Richter die inhaltlich programmatischen Aussagen des DA wesentlich beeinflusst. Er gehörte jahrelang zu den wenigen theoretisch arbeitenden Oppositionellen.“[10] Nachdem sich zur Jahreswende immer deutlicher abzeichnete, dass die Mehrheit der DA-Mitglieder eine Anlehnung an die CDU anstrebte, zog Edelbert Richter Ende Januar 1990 die Konsequenz und verließ den Demokratischen Aufbruch, der in dieser Phase knapp ein Drittel seiner Mitglieder verlor.

Er trat der SPD bei und wurde am 18. März in die Volkskammer gewählt. Beim Einzug in das erste frei gewählte DDR-Parlament fand er es „seltsam, in welch großer Zahl Opportunisten und Wendehälse in die Volkskammer hineingeraten waren.“ Er sah zwar die damalige Notwendigkeit einer Großen Koalition ein, lehnte sie aber „innerlich ab“, so dass für ihn „die Arbeit im Parlament zu einer ständigen Übung in Disziplin“ wurde.[11] Von 1991 bis 1994 war Edelbert Richter für die Sozialdemokraten im Europaparlament und vertrat als SPD-Abgeordneter von 1994 bis 2002 den Wahlkreis Weimar, Apolda, Erfurt/Land im Deutschen Bundestag. Neben seiner Ausschusstätigkeit, u. a. im Ausschuss für Bildung und Forschung war er Mitglied der Enquete-Kommission ‚Globalisierung der Weltwirtschaft‘.

Im Januar 1997 zählte er zu den Erstunterzeichnern der ‚Erfurter Erklärung‘, in der sich verschiedene Persönlichkeiten aus dem linken Spektrum für eine politische Neuausrichtung durch ein Bündnis zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS aussprachen. Edelbert Richter betonte, das Hauptanliegen der Erklärung sei gewesen, „das geistige Klima in Deutschland zu verändern […] und das Thema Gemeinsinn auf die Tagesordnung zu setzen.“[12] Der heftigen Kritik von politischen Gegnern begegnete er mit dem Hinweis, aus welchem Grund „ein mit Entschiedenheit geforderter Regierungswechsel eigentlich gleich die Infragestellung des ›Systems‹ bedeute?“[13]

Nach Beschluss und Umsetzung der Agenda 2010 durch die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder verließ Edelbert Richter im Jahr 2005 die SPD, da die durchgeführten Reformen des Sozialsystems und Arbeitsmarktes seiner Meinung nach die Prinzipien des sozialen Miteinanders verrieten. „Die Revolution von 1989“ – so bemerkte er bereits im Jahr 2000 – „war nicht der Sieg des Westens in seiner ganzen Vielfalt, sondern in seiner einseitig neoliberalen Ausrichtung.“[14] Schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung hatte er ernüchternd festgestellt: „Nicht, dass ich dem direkt-demokratischen Herbstfrühling der DDR nachtrauerte, sondern gerade weil ich die repräsentative Demokratie und die deutsche Einheit wollte, war ich irritiert und deprimiert! Und zwar über die trügerische, scheinhafte Art und Weise, wie sie ins Werk gesetzt wurde: nämlich ökonomisch gerade als Vertiefung der Spaltung und Untergrabung der Demokratie!“[15]

Im Jahre 2007 trat er der Partei Die Linke bei, „ausgerechnet […] der viel gescholtenen ‚Nachfolgepartei der SED‘“, die für ihn jedoch – wie er zwei Jahre später bemerkte – im politischen Spektrum „die einzige Alternative“ darstellte.[16] Zudem engagierte er sich in der globalisierungskritischen Bewegung „Attac“, war Mitglied der Zukunftskommission der Rosa-Luxemburg-Stiftung und besaß von 2004 bis 2008 Lehraufträge für Philosophie an der Bauhaus-Universität in Weimar. Neben seinen vielfältigen Aktivitäten verfasste Edelbert Richter zahlreiche Publikationen und Beiträge zu theologischen, philosophischen und politischen Themen.

Am 23. Juli ist Edelbert Richter in Weimar, wo er seinen Lebensabend verbrachte, gestorben. Er wurde am 20. August auf dem Friedhof Oberweimar beigesetzt.

Wir trauern um den bedeutenden DDR-Bürgerrechtler. Sein Mut und sein Engagement für Freiheit und Demokratie werden uns in Erinnerung bleiben.


[1] „Rückflussinformation zur politisch-operativen Lage unter feindlich-negativen Kräften im Verantwortungsbereich der BV Erfurt im Zusammenhang mit den gegenwärtig republikweit durchgeführten feindlich-negativen Aktivitäten zur Schaffung sogenannter Sammlungsbewegungen politisch-oppositioneller Personen.“ MfS-BV Erfurt. Leiter, gez. Schwarz, Generalmajor. Erfurt, 27.9.1989. Tgb. Nr. 563/ 89, S. 1f. (Kopie in: RHG, BW-MfS/14/04, o. Bl.)

[2] Edelbert Richter, in: Wer ist wer in der DDR: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/edelbert-richter (Zugriff am 29.07.2021)

[3] Edelbert Richter: Der linke Flügel der DDR-Bürgerbewegung, in: Klaus Kinner (Hrsg.): Linke zwischen den Orthodoxien. Von Havemann bis Dutschke, Berlin 2011, S. 63.

[4] Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik, Frankfurt/Main 1996, S. 170.

[5] Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, S. 320.

[6] Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Bonn 2009, S. 257 u. S. 564, Anm. 275.

[7] Edelbert Richter: Über die Gruppen hinaus, in: ders.: Christentum und Demokratie in Deutschland. Beiträge zur geistigen Vorbereitung der Wende in der DDR, Leipzig u. Weimar 1991, S. 276.

[8] „Information über eine geplante Zusammenkunft zur Konstituierung einer oppositionellen Sammlungsbewegung ‚Demokratischer Aufbruch‘“, 29.9.1989; Bundesarchiv (BArch), MfS-ZAIG/5787, Bl. 1.

[9] Edelbert Richter: „Die neue Partei konnte nur eine sozialdemokratische sein“ – der Demokratische Aufbruch bis zu seiner Spaltung, in: Andreas Dornheim/Stephan Schnitzler (Hrsg.): Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten, Erfurt 1995, S. 44.

[10] Erhart Neubert: Demokratischer Aufbruch, in: Eberhart Kuhrt (Hrsg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999, S. 545.

[11] Edelbert Richter: Erlangte Einheit – verfehlte Identität. Auf der Suche nach den Grundlagen für eine neue deutsche Politik, Berlin 1991, S. 50.

[12] Edelbert Richter: Aus der Individualisierung zu neuer Solidarität. Zu den moralischen Bedingungen demokratischer Erneuerung, in: UTOPIE kreativ, Heft 93, Juli 1998, S. 33.

[13] Edelbert Richter: Hundert Argumente. Ein Kommentar zur Erfurter Erklärung, Weimar 1997, S. 74.

[14] Edelbert Richter: Als hätte es 1989 nicht gegeben, in: Eckhard Jesse (Hrsg.): Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2000, S.199.

[15] Edelbert Richter: Wendezeiten. Das Ende der konservativen Ära, Köln u.a. 1994, S. 1f.

[16] Edelbert Richter: Die Linke im Epochenumbruch. Eine historische Ortsbestimmung, Hamburg 2009, S. 15f.