Trauerpredigt von Pfarrer Philipp Mosch für Pf. i. R. Hans Simon am 22. September in der St. Gotthardtkirche Brandenburg an der Havel

 

Liebe Trauergemeinde

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Normalerweise endet eine Predigt mit diesem Wort aus dem Philipperbrief. Wir beginnen damit, weil es das Bibelwort ist, unter das wir das Leben und Sterben von Hans Simon stellen wollen, weil der Friede Gottes, der Shalom, sein Lebensmotiv und sein Lebensziel war.

Er hat nach diesem Shalom gesucht, in der hebräischen Bibel, die er mehrmals übersetzt hat. Im Leben der Menschen, die ihm nahe waren oder die er zu seinen Nächsten gemacht hat. In der Gesellschaft, in der er lebte und in der er den Frieden Gottes bezeugte.

Shalom im Sinne der hebräischen Bibel, wie sie Juden und Christen gemeinsam lesen, meint mehr als unser deutsches Wort Frieden. Wir denken Frieden oft als Gegensatz zum Krieg. Und wenn eben kein Krieg herrscht, dann sei Frieden. Das ist aber nicht so. Denn zum Frieden Gottes, zum Shalom gehört auch die Gerechtigkeit, die dazu führt, dass alle Menschen im umfassenden Sinn leben können. Und dieser Gerechtigkeit fühlte sich Hans Simon zeitlebens tief verbunden und er war bereit, dafür einzustehen, auch wenn es bedeutete, dafür ein Risiko einzugehen. Shalom heißt, in der Wahrhaftigkeit zu leben und Unrecht deutlich als solches zu benennen. Das tat er reichlich und oft in vielen Gesprächen und Diskussionen, persönlich als auch öffentlich. Auch zu einer Zeit, als das öffentliche Aussprechen von Wahrheit etwas kostete. Doch er wusste sich in dem, was er tat, von dem Gott unserer jüdischen Mutter und Väter getragen, der dieser gebrochenen Welt seinen Frieden verheißen und seinen Sohn gesandt hat.

Als Hans Simon geboren wurde, war kein Shalom, kein Frieden in der Welt, in Deutschland nicht und vor allem für Juden nicht, mit deren Glauben und Heiligen Schriften sich Hans Simon später intensiv befassen wird. 1935, im Jahr seiner Geburt, wird in Deutschland der Ariernachweis gefordert und jüdisches Leben Schritt für Schritt vertrieben und vernichtet. In diesem Jahr werden von den Nazis über 700 Pfarrer der Bekennenden Kirche verhaftet, unter ihnen Martin Niemöller, der das Denken und Handeln von Hans Simon später prägen wird. In dieses Jahr voller Unfrieden wird er am 24. September in Kayna im Kreis Zeitz hineingeboren. Kayna liegt abseits von der Weltgeschichte, im Burgenland, ein Marktflecken im südlichen Sachsen-Anhalt an der Grenze zu Thüringen. Sein Vater Walter Simon war ein Händler für Tuche, Stoffe und Textilien. Dieses Erbe hat Hans Simon geprägt, der eine Affinität für feine Stoffe hatte und etwas für elegante Kleidung übrighatte. Er erzählte manchmal, wie er sich erinnern konnte, dass er als Kind auf den Ladentisch gestellt und fein angezogen wurde. Wenn er später mit Kleidung in Berührung kam, befühlte er immer die Qualität des Stoffes.

Wenn er Bekanntschaft mit dem König Salomo aus der hebräischen Bibel gemacht hätte, der von uns in Paul Gerhardts Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud“ besungen wurde, dann hätte Hans Simon gewiss „Salomonis Seide“ geprüft, ob diese wirklich etwas taugt.

Als Hans 4 Jahre alt war, begann der 2. Weltkrieg. Sein Vater musste auch als Soldat in den Krieg ziehen und Hans erfuhr bald am eigenen Leib, was es bedeutet, wenn Menschen Gottes Shalom verletzen und im Krieg Leben vernichten. Als 8jähriger Junge bekamen Hans und seine Mutter Marta die traurige Nachricht, dass der Vater vermisst ist, dass er nicht mehr wiederkommt aus dem Krieg.

Wie Menschen nicht genug zum Leben haben, wie sie Hunger haben, wie sie unfrei sind, wenn politischer Größenwahn Vater und Mütter und Kinder in den Tod reißt, das hat Hans Simon von klein auf erlebt. Weil Medikamente fehlten, wurde dem 12jährigen sogar noch seine Mutter geraubt, die an einem Wundstarrkrampf verstarb.

Hans Simon wurde zu einem Waisenkind gemacht, weil Krieg herrschte. Das hat ihn für sein ganzes Leben geprägt und war eine wesentliche Quelle für seine Sehnsucht nach Shalom, dem umfassenden Frieden für alle Menschen und die ganze Schöpfung Gottes.

Das zu diesem Frieden auch Gerechtigkeit gehört, das erfuhr er in dem neuen Staat, der sich nun demokratisch nannte, aber die Demokratie bald darauf aufs schärfste bekämpfte und Andersdenkende äußerst ungerecht behandelte.

Hans Simon musste als fast noch Kind und heranwachsender Jugendlicher ohne Eltern leben. Sein 8 Jahre älterer Bruder Jochen war auch im Krieg und ging später nach Westberlin. Seine Cousine Lorchen hat sich um Hans gekümmert. Er kam schließlich nach Roßleben ins Internat mit Schule, wo sich 2 Lehrer und die Pfarrfrau im Ort seiner annahmen. Von dort kam er in die sozialistische Heimoberschule mit Internat in Droyßig. Das war eine ziemlich rote Schule und alsbald bekam er Ärger, weil er sich zur Kirche hielt. In den frühen 50er Jahren wurde die Junge Gemeinde vom Staat mit massiver Propaganda bekämpft und weil sein Bruder in den Westen geflüchtet war, galt Hans Simon als verdächtig. Er, der es ohnehin aufgrund des frühen Todes seiner Eltern schwer hatte, wurde sehr ungerecht behandelt und wegen seiner Aufmüpfigkeit aus politischen Gründen von der Oberschule relegiert. Er flog von der Schule und was ihn besonders verletzte, kaum einer setzte sich für ihn und gegen diese Ungerechtigkeit ein. Diese Erfahrung prägte sein sensibles Empfinden für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

Aber diese Schule in Droyßig war für ihn nicht nur mit diesem Bruch in seinem Leben verbunden. Es öffnete sich für ihn auch eine neue Tür. An dieser Schule lernte er Barbara Hintzsche kennen, die alle Bärbel nannten. Sie wurde die Frau seines Lebens. Auch das bedeutete Droyßig für ihn. Der, dem seine Lieben so früh entrissen wurden, erschloss sich hier die tiefste Dimension des Friedens Gottes, die Liebe. Und diese Liebe sollte nicht mehr aufhören.

Damals fing ihr gemeinsamer Weg an und Bärbel machte in Droyßig ihr Abitur, während Hans Simon seine Zukunft im Kirchlichen Oberseminar in Potsdam auf der Halbinsel Hermannswerder fand. Ihre Beziehung und Liebe bewahrten beide auch über diese Entfernung und Trennung hinweg.

Für Hans Simon war der Ort Hermannswerder mit seiner kirchlichen Schule, in der für DDR Verhältnisse in besonderem Umfang freie Rede erprobt werden konnte, ein Sehnsuchtsort, der ihn entscheidend geprägt hat. Er konnte wieder Halt finden in der lebendigen Jungen Gemeinde und Gemeinschaft erleben, die sich unter den jungen Menschen aus der ganzen DDR, die dort zusammenkamen, herausbildete. Lebenslange Freundschaften entstanden, die in regelmäßigen Klassentreffen über die Jahre immer wieder erneuert und vertieft wurden. Über Bärbel bekam Hans auch später wieder Zugang zu Klassentreffen der Droyßiger Oberschule und es versöhnte ihn, dass einige der früheren Mitschüler sich bei ihm entschuldigten, dass sie sich damals nicht für ihren Mitschüler eingesetzt hatten. Bärbel und Hans pflegten die Kontakte ehemaligen Mitschülern ihr Leben lang.

Bärbel Hintzsche war Pfarrerstochter. Ihre Mutter Elisabeth war eine geborene Begrich und bei Elisabeth bekam Hans immer eine Tasse Bohnenkaffee. Als einziger, weil Bohnenkaffee damals noch etwas Besonderes war. Bärbel und Hans studierten beide Theologie in Berlin, Bärbel an der Humboldt-Universität und Hans am Sprachenkonvikt. Aber weil die Grenze noch offen war, studierte Hans im Prinzip an der Kirchlichen Hochschule in Westberlin und genoss es, seinen Geist und Sinn zu schärfen an den Dozenten wie Helmut Gollwitzer und Martin Albertz, die aus der Tradition der Bekennenden Kirche kamen und Theologie nicht als innerkirchliche Angelegenheit verstanden, sondern als christliche Einmischung in Gesellschaft und Gegenwart. Hans Simon hat sich an den Theologinnen und Theologen orientiert, die früh erkannten, dass die Ideologie der Nazis sich in tiefer Feindschaft befindet zu dem Frieden Gottes, der die Völker einst in Zion zueinander führen will. Auch das weitgehende Versagen der Kirche beim nationalsozialistischen systematischen Völkermord an Jüdinnen und Juden, die Shoa, hat das Denken von Hans Simon geprägt, der sich in seiner theologischen Existenz der jüdischen, alttestamentlichen und rabbinischen Tradition verpflichtet fühlte. Auch die Erforschung der menschlichen Psyche und seines unterbewussten Wesens mittels der Psychoanalyse traf das Interesse von Hans Simon. Er war neben seiner ganz handfesten Art, den christlichen Glauben zu leben und zu deuten, ein Intellektueller mit Herz und Verstand.

Der Friede Gottes, der höher ist als die Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne. Das hat Gott bei Hans Simon gemacht, er hat zeitleben sein Herz bewahrt, dass immer zuerst für andere geschlagen hat und seinen Sinn geschärft, der Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden wusste. Und Gott gab ihm einen Glauben, der manchmal stärker war als die Vernunft, mit dem er sich für den Shalom, den Frieden Gottes in der Welt mit ganzer Kraft eingesetzt hat.       

Die Grundlagen dafür wurden am Sprachenkonvikt und vor allem in Zehlendorf gelegt, das für die beiden jungen Studierenden ein prägender Ort war, an den sie später auch wieder zurückkehren würden.

Weil sich beide, Hans und Bärbel für die tiefen Fragen der Theologie, der Glaubens und der Gesellschaft interessierten, waren sie sich immer gegenseitig geschätzte Gesprächspartner, manchmal auch engagiert diskutierend und gelegentlich nicht einer Meinung. Doch ihre Liebe war so tief und innig, dass sie beide ein Leben lang trug. Sie heirateten kurz nach dem Mauerbau am 28. Oktober 1961 in Erfurt. Die Hochzeitsreise führte sie bis nach Brandenburg an der Havel, allerdings eher ungeplant. Später erzählten sie gern, das Geld habe nur bis Brandenburg gereicht, eigentlich wollten sie weiter nach Norden. Auch Brandenburg wird ein Ort, an den Hans Simon später zurückkehren sollte.

Die erste Pfarrstelle von Hans führte das junge Ehepaar Simon nach Göllingen, eine kleine ehemalige Kali-Bergarbeitergemeinde im Kyffhäuserland. Dort gab es eine Dorfkirche und eine Klosterruine. Von Berlin nach Göllingen war für beide auch ein Kulturschock. Die Gegend war nicht sehr reich und auch bei dem jungen Ehepaar Simon war lange das Geld knapp und sie hatten manches Mal Sorge, wie sie bis zum Monatsende über die Runden kommen sollten. Das wurde nicht leichter, als sie in freudiger Erwartung waren. In recht kurzem Abstand wurden drei Töchter geboren: Anna, Elisabeth und Juliane. Jedes Mal gratulierten die Dörfler mit dem Spruch, nächstes Mal wird’s bestimmt ein Junge. Mit dem Moped fuhr Hans Simon über die Dörfer und Bärbel war Mutter und als Pfarrfrau Seelsorgerin in der Gemeinde. Während Hans Pfeife rauchend in seinem Arbeitszimmer saß und Sigmund Freud las, hat sie in der Küche Seelsorgegespräche mit Menschen aus der Gemeinde geführt. Sie hat ihm, wie es so schön heißt, den Rücken freigehalten und dabei selbst Gemeinde mitgestaltet. Sie war ihm auch eine ebenbürtige und herausfordernde Gesprächspartnerin, die ihn stets daran erinnerte, dass die Predigt keine Vorlesung über Sigmund Freud ist. Er hat ihr oft seine Predigten vorgelesen und dann haben sie darüber diskutiert. Einmal ist Bärbel später sogar bei so einer Diskussion von der Leiter gefallen, weil sie gerade Fenster putzte oder Gardinen aufhängte, während beide über seine Predigt diskutierten und sie dabei wild gestikulierte.

Ohne sie, und das wusste und sagte Hans Simon oft, hätte er seine Berufung als Pfarrer nicht ausüben können. In Gesprächskreisen haben beide als junges Ehepaar andere junge Ehepaare zu kritischen Debatten herausgefordert. Dabei hat Bärbel gewusst, dass alle gesellschaftlichen und theologischen Diskussionen auch eine leibliche Stärkung brauchen und stets dafür gesorgt, dass auch etwas zu Essen da war und es nett aussah. Flötenunterricht, Chor und Christenlehre hat sie mit übernommen und so hat die Kirche zwei Arbeitskräfte bekommen zum Preis von einem. Beide waren sehr sozial haben sich auch um Leute am Rande der Gesellschaft gekümmert. Das Pfarrhaus der Simons war immer ein offenes Haus und oft war jemand da zu Besuch. Die Kinder waren gewöhnt, dass Leben im Haus war. Eine Junge Gemeinde und andere Gemeindekreise baute Hans Simon auf und so geriet er schon dort in Göllingen in den Fokus der Staatssicherheit, die versuchten, das Wirken der Simons in Schach zu halten und ihn sogar anzuwerben. Er widerstand.

Nach 12 Jahren war es Zeit für eine Veränderung und gemeinsam mit Bärbels Bruder Henning Hintzsche, der ebenfalls Pfarrer war, suchten sie einen Ort, wo beide Familien in der Nähe zueinander eine neue Gemeinde finden könnten. Sie wollten auch wieder näher an Berlin heran. Die Wahl der Simons fiel auf Brielow bei Brandenburg und die Hintzsches gingen ins nahe Pritzerbe. Brielow war das Pfarrhaus mit dem langen Flur und einem schönen Garten, den Simons immer mit großer Sorgfalt hegten und pflegten. Denn der Gemeinde war der Pfarrgarten manchmal wichtiger als die Predigt, denn in Brielow waren mehrere Gartenbaubetriebe und Gärtnereien ansässig. Da wurde sonntags vor dem Gottesdienst immer erst ein Schlenker durch den Pfarrgarten gemacht und geschaut, ob der in Ordnung ist. Er war es und der Garten war ein schöner Ausgleich für die zuweilen Kraft raubende Gemeindearbeit. Auch in Brielow und in den umliegenden Dörfern wuchs die Gemeinde, und die Gemeindekreise und Gesprächskreise bei den Simons waren sehr beliebt. Hier konnte offen gesprochen werden. Zur Friedensdekade wurde diskutiert über den Frieden Gottes und was er konkret bedeutet für das Leben der Menschen und die Umwelt. Ein Plakat im Schaukasten sollte Hans Simon entfernen und er wurde zur Abteilung Kirchenfragen im Rat des Kreises vorgeladen. Er gab nicht nach. Das Plakat blieb hängen. Auch Jugendliche fanden eine Heimat in der Jungen Gemeinde und wurden geprägt von Pfarrer Simon, der lebensnah mit den jungen Leuten reden konnte und sie animierte, Fragen zu stellen.

Dabei waren Simons sehr bescheiden, nie leisteten sie sich viel. Auch wenn die materielle Not der Familie in Brielow sich endlich ein wenig entspannte. Sie konnten sich sogar ein kleines Paddelboot mit Außenmotor leisten, der aber meistens nicht ging. Natürlich benannte Hans Simon das Boot nach seinem Lebensthema: Shalom. Frieden.

Allerdings in hebräischen Buchstaben, das konnte der gemeine Brandenburger nicht entziffern.

Auch die Nähe zum alten Sehnsuchtsort Potsdam-Hermannswerder spielte eine wichtige Rolle und viele Freundschaften aus der damaligen Zeit sowie zur weit verzweigten Familie wurden über die Jahre von beiden behutsam gepflegt.

Was Hans Simon später sehr verletzte und wo er nicht drüber hinwegkam, weil seine späteren Gesprächsversuche nicht beantwortet wurden, war der Umstand, den er geahnt hat und der ihm dann beim Studium der Stasiakten schmerzlich bewusst wurde. Die Stasi war auch in Brielow besten informiert, was dort gesprochen wurde. Sie hatte ihre Spitzel dabei und die Simons hatten ihnen als Freunde vertraut. 

Von 1973 bis 84 waren sie dort und hinterließen in jeder Hinsicht eine gut bestellte Gemeinde. Sie suchten nun ein neues zu Hause und es klappte zu ihrer Freude mit einer Stelle in Berlin und es war wirklich wie ein nach Hause kommen an den Ort ihrer gemeinsamen Studienzeit. Sie bezogen das Pfarrhaus in der Griebenowstraße 15/16 in der Nähe des Zionskirchplatzes an der Grenze von Mitte zum Prenzlauer Berg. Für ihn ein geprägter Ort durch den Theologen der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen die Nationalsozialisten Dietrich Bonhoeffer, den er als Vorbild schätzte und verehrte.  

Dietrich Bonhoeffer übernahm 1931 eine verwaiste Klasse Konfirmanden an der Zionskirche in einem Stadtteil, der besonders von der Weltwirtschaftskrise betroffen war und praktizierte vor diesem Hintergrund eine „Kirche für andere“.

Dieses Erbe Bonhoeffers an der Zionskirche hat Hans Simon Jahre später in die Realität der DDR übersetzt und die dortigen Ereignisse haben ihn und seine Familie in das Brennglas der Weltgeschichte befördert.

Ein Vorläufer der späteren Umweltbibliothek hatte sich Mitte der 80er Jahre im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg gegründet. Vielleicht nicht der ideale Ort, um eine systemkritische Umweltbibliothek zu betreiben in unmittelbarer Nachbarschaft zum Minister für Staatssicherheit. So suchten die jungen Leute und widerständigen Aktivisten einen alternativen Ort. „Fragt doch mal den Pfarrer Simon in der Zionskirche.“ Sie fragten ihn und wurden nicht weggeschickt. Hier kommt Hans Simons Empfinden für Gerechtigkeit zum Tragen, dass sich aus seinem Ideal eines umfassenden Friedens für alle speist, auch für die, welche kritische Fragen stellten und auf der Suche waren nach einer Umwelt, in der alle frei und selbstbestimmt leben können. Die Simons öffneten ihr Pfarrhaus und gaben ihren Keller als Ort für Treffen und für die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit zum staatlich gelenkten Informationsmonopol. Die Umweltbibliothek an der Zionskirche war geboren und fortan wurden dort die kritischen Umweltblätter gedruckt. Mit dem Stempel: Nur für den innerkirchlichen Gebrauch, damit waren sie legal und wurden von Hand zu Hand weitergereicht. Hans Simon hat die Kirche dafür geöffnet und das bleibt sein bleibendes Verdienst. Er war auch ein Vermittler, denn die Gemeinde war keineswegs begeistert und fürchtete Ärger. Er musste im Kollegenkreis und in der Gemeindeleitung vermitteln, aber er blieb auch klar und deutlich seinem Lebensthema, dem göttlichen Shalom treu, dem Frieden, der auch die gesamte Gesellschaft umfasst. Später sagte er einmal unmissverständlich: „Von Gott kann nur verantwortlich gesprochen, gedacht und an ihn geglaubt werden, wenn zugleich vom Menschen und seiner sozialen, ökonomischen und politischen Wirklichkeit geredet wird. ... Kirche darf nicht für sich selbst da sein, sie muss mit ihren Aktivitäten in die Gesellschaft hineinwirken.“

Auf den Einwand, die Kirche sei damals „instrumentalisiert“ worden, antwortete er einmal: „Das finde ich in Ordnung. Wo es um Freiheit und Gerechtigkeit geht, da muss sich Kirche instrumentalisieren lassen.“

Er machte einige von denen, die in diesen kirchlichen Räumen sich für Freiheit, Bewahrung der Umwelt und Gerechtigkeit einsetzten zu Gemeindegliedern und konnte so sagen, sie gehören zu uns. Er nahm sie mit hinein in die Gemeindeleitung, um so den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und Mitbestimmung zu ermöglichen. Dabei saß er nicht selten zwischen den Stühlen, den einen zu theologisch und nicht radikal genug und anderen zu offen und zu politisch. Er suchte Mitstreiter und fand Kolleginnen und Kollegen, die diese Arbeit mit unterstützten. Die Kirche wurde geöffnet für alternative Kultur und Konzerte. Simon hat es mitgetragen und seine Hand darüber gehalten. Berühmt ist das Foto des mit Auftrittsverbot belegten Frontmanns von der Bluesband Freygang, der bei einem Konzert auf die Kanzel der Zionskirche gestiegen ist und dort oben Bass spielt. Sein Schatten wird durch die Scheinwerfer riesenhaft im Kirchenschiff an die Wand projiziert.

Hans Simon beobachtete vor der Kirche immer den Bauwagen, der dort stand, obwohl dort nie gebaut wurde. Die Stasi beobachtete alles und hörte mit.  

Hans Simon wusste wie es ist, als junger Mensch ausgegrenzt zu werden und Repressalien zu erleben, er, der 1953 selbst von der Oberschule runtergeflogen ist, weil er für das einstand, woran er glaubte. Als die Jugendlichen vor ihm standen, hat er sich wiedergefunden in ihnen, in ihrer Geschichte und sich geöffnet für ihre Themen Gerechtigkeit, politische Veränderung, Freiheit, Zerstörung der Umwelt und der Lebensgrundlagen, Frieden. Im Grunde für ihn alles Dimensionen und seines Lebensthemas Shalom.

In der Galerie der Umweltbibliothek wurden Diskussionsabende, Lesungen und Ausstellungen veranstaltet, auch mit und von Künstlern, die sonst verboten oder unerwünscht waren. Im Grunde genommen war die Umweltbibliothek die einzige freie Druckerei der DDR. Und Hans Simon widerstand dem Druck von allen Seiten.

Der ständigen Observation und Unterwanderung durch die Stasi folgte am 24. November 1987 der Zugriff: die Stasi und ein Staatsanwalt drangen bewaffnet kurz vor Mitternacht gewaltsam in die Pfarrwohnung ein. Das Kommando der Stasi holte Bärbel und Hans Simon aus dem Bett und wollte die Drucker im Keller auf frischer Tat überrumpeln und durchsuchte die Gemeinderäume und verhaftete sieben Personen, beschlagnahmte Druckmaterial und Druckmaschinen. Unmittelbarer Anlass: die Stasi vermutete aufgrund eines Verrats, dass die illegale Veröffentlichung der „Initiative für Frieden und Menschenrechte", der „Grenzfall“, gedruckt werden sollte. Ein solch gewaltsames Eindringen in ein Pfarrhaus war ein beispielloser Vorgang und für die Simons zutiefst verstörend. 

Noch in der Nacht informierte Pfarrer Simon Aktivisten in der Bürgerbewegung und diese benachrichtigten Kontakte in Westberlin. Bereits am nächsten Morgen war die ARD vor Ort, um über den Überfall und die Verhaftungen zu berichten

Der Überfall löste einen Proteststurm mit Mahnwachen, Transparenten, Fürbitt-Andachten aus. Westmedien verbreiteten diese Aktionen. Viele solidarisierten sich mit der Umweltbibliothek. Der öffentliche Druck bewirkte die Freilassung der Inhaftierten. Diese Aktion wurde zu einem Weckruf für die Bürgerrechtsbewegung in der gesamten DDR und ein wesentliches Ereignis auf dem Weg zur Friedlichen Revolution im Herbst 1989. Eine bessere PR hätte sich die Umweltbibliothek nicht wünschen können, als dieser Überfall im Herbst 1987.

Pfarrer Hans Simon trug die Arbeit der Umweltbibliothek mit, weil er in ihr das verwirklicht sah, was er für christliche Werte hielt, Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – es war für ihn Arbeit am Shalom, am Frieden Gottes, der höher ist als die Vernunft. Wenn Hans Simon vernünftig gewesen wäre, hätte er gesagt, geht woanders hin. Aber sein Glaube hat ihm bedeutet, unvernünftig zu sein, und die Kirche zum richtigen Ort zur richtigen Zeit werden zu lassen – als eine Kirche für andere.

„Natürlich hatten wir Angst“, sagte Hans Simon, der auch an seine Frau und an seine Kinder denken musste. Aber die Angst wurde nicht zum bestimmenden Faktor für ihn. Der Glaube und seine Überzeugung waren stärker, im Zweifel Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.

Die Ereignisse des Herbstes 1989 nahmen ihren Lauf, Hans Simon mischte mit. Als der Umbruch kam, veränderte sich auch wieder das Gemeindeleben an der Zionskirche. Die Umweltbibliothek fand neue Räume. Hans Simon blieb noch bis 1997 an der Zionskirche tätig und prägte hier die Gemeinde in besonderem Maße. 1991 wurde ihm der Verdienstorden des Landes Berlin verliehen. Aber er und seine Frau Bärbel blieben immer bescheiden.

Sie zogen im Ruhestand wieder an einen ihrer Sehnsuchtsorte zurück, nach Zehlendorf, wo die theologische Suche nach dem Frieden Gottes begonnen hatte.

Als Vater war er für seine Kinder und ihre Familien da. Er war ein herausfordernder Vater, der seine Kinder zum Nachdenken und Diskutieren anregen wollte. Er war ein liebevoller Großvater. Aber er war immer mit Leib und Seele Pfarrer und teilte sein Familienleben mit der Gemeinde. Zum Unverständnis für manchen Kollegen ging er jedoch vom Konvent früher nach Hause, weil er mit seinen Kindern Kindergeburtstag feiern wollte. Da wusste er, für wen in diesem Moment da war. Für seine Familie.

Seine Frau Bärbel hat ihn zeitlebens geerdet und mit ihrer Liebe gestärkt. Sie haben es geliebt, miteinander zu reden, zu streiten, zu singen und zu tanzen. Als sie im Jahr 2014 für ihn viel zu früh von uns ging, hat sein Leben einen tiefen Bruch erfahren, von dem er sich nie mehr erholt hat. Diese ewig junge Liebe, die ihn einst aus der Einsamkeit des Waisenkindes befreit hat, gab ihm den Halt, mit dem er so stark für andere da sein konnte. Auch Bärbels Eltern waren früh verstorben. Doch als dieser Halt für Hans Simon wegbrach, brach für ihn auch sein Lebenssinn weg.

Hans wusste seine Bärbel in Gottes Frieden geborgen. Er wollte jedoch gemeinsam mit ihr in diesen ewigen Frieden eintreten. Das hat er nun geschafft. Es war ein Segen, dass er mit seiner schweren Erkrankung noch einmal an einen Sehnsuchtsort seines Lebens zurückkehren durfte. Er kehrte heim nach Potsdam-Hermannswerder. Hier konnte seine Familie im Hospiz in Frieden Abschied nehmen und gemeinsam mit ihm beten und ihn dabei in den ewigen Frieden Gottes entlassen: Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.      

(Pfarrer Philipp Mosch)

Trauerfeier für Hans Simon am 22. September in der St. Gotthardtkirche Brandenburg an der Havel. © Frank Ebert
Gesteck der Umwelt-Bibliothek zur Trauerfeier für Hans Simon am 22. September in der St. Gotthardtkirche Brandenburg an der Havel. © Frank Ebert