Ein Requiem für Werner Schulz

von Gerhard Rein

Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg?
Der Stachel sitzt tief. Unsere Traurigkeit hält an.
Als uns die Nachricht erreichte, haben wir geheult. So oft kommt das ja nicht vor.
Wir lesen noch einmal seine Texte, seine Reden, Jahre her, und die letzten E-Mails, nur ein paar Wochen alt.
Werner Schulz hat wiederholt den Pankower Friedenskreis als Einübung in Demokratie geschildert. Man lernte sprechen, diskutieren, abwägen. Werner hat hier sein rhetorisches Talent entdeckt, das ihm später mit denkwürdigen Reden im Deutschen Bundestag zu einem bemerkenswerten politischen Weg verholfen hat. 

Wer zum Friedenskreis kam, konnte die DDR nicht stumm ertragen. Man wollte sie nicht abschaffen. Man wollte eine andere DDR, sie demokratisieren. Man sprach von einem demokratischen Sozialismus. Was ich aber erinnere: Werner dachte anders. Er dachte über die DDR hinaus. Alles für eine Demokratie. Aber nicht in den Farben der DDR. Die friedliche Revolution hat er als eine protestantische Revolution beschrieben, weil die Evangelischen Kirchen das Basislager für die Revolution bereitgestellt hatten. "Die Kirchen als Basislager für die friedliche Revolution" gehört längst zu den denkwürdigen Sätzen von Werner Schulz.

Was ich bis heute kaum begreife, kaum erklären kann: Warum hat Werner Schulz, früher als wir alle, also fast alle, wahrgenommen, welche Gefahr von Putin ausgeht?

Es ist ja in den letzten Wochen oft beschrieben worden, dass Werner Schulz den Bundestag still, aber demonstrativ verlassen hat, als Wladimir Putin dort 2001 den Kalten Krieg als beendet erklärte. Stehende Ovationen für Putin, aber Werner verlässt das Hohe Haus. Er hatte Kontakt zu russischen Oppositionellen, zu Andersdenkenden, zu Kritikerinnen des russischen Regimes. Er wusste, dass dem Diktator nicht zu trauen war. Der Tschetschenien-Krieg war für ihn ein Beleg dafür. 

Allen, die es genauer und intensiver wissen und nachlesen wollen, empfehle ich einen Text von Werner aus dem Jahr 2012. Es ist die Begründung dafür, warum die russische Punkband "Pussy Riot" den Preis "Das unerschrockene Wort" erhalten sollte. Ein Preis, den deutsche Lutherstädte seit 1995 alle zwei Jahre in Erinnerung an Martin Luthers Mut verleihen.

Der Text von Werner Schulz über  die Preiswürdigkeit der Frauenband "Pussy Riot" ist nur 21 Seiten lang. Er zitiert aus dem kurzen Gebet der drei Frauen in der leeren Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau.

"Mutter Gottes, Ave Maria,
erlöse uns von Putin" 

"Mutter Gottes, Ave Maria,
erlöse uns von Putin" 

und später:

"Der Patriarch glaubt an Putin,
besser sollte er, der Hund, an Gott glauben" 

Diese provokativen Gebete, vor mehr als zehn Jahren gesprochen, kommen uns sehr aktuell vor.
Werner Schulz kommentiert die Aktion der drei Frauen so: 

"Sie haben das getan, was uns Protestanten geläufig sein müsste:
Sie haben ein Zeugnis der Wahrheit abgelegt."

"Pussy Riot" hat den Preis "Das unerschrockene Wort" nicht erhalten. Das lag auch daran, dass zwei, wie sagt man heute, "namhafte Christen", Friedrich Schorlemmer und Richard Schröder, über den Vorschlag von Werner Schulz sehr erschrocken waren und lautstark, wie es ihre Art ist, öffentlich dagegen protestierten, und den drei Frauen "Gotteslästerung" vorwarfen. Der Protestant und Laie und Christ Werner Schulz, immerhin sechs Jahre lang Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags, hat dann die berühmten Theologen darüber aufgeklärt, was Gotteslästerung ist – und was nicht.

Der verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine, Krieg in Europa, hat zahlreiche Menschen überrascht, irritiert, verängstigt.

Für Werner Schulz war er voraussehbar. Dass er mit seiner Einschätzung Putins Recht behalten hat, brachte Werner keine Entlastung. Die innere Spannung, die ihn auszeichnete und ständig begleitete, war unverändert zu spüren. Er hielt die Fehleinschätzung von so vielen Politikern aller Schattierungen für fatal und ihre Kehrtwende kam ihm viel zu spät.

Am 1. März 2022 schrieb er mir:

"Lieber Gerhard, es scheint mein Schicksal zu sein, immer wieder gegen den Strom zu schwimmen... Dabei halte ich mich nicht für einen notorischen Rebellen. Offenbar haben mich die Lebensumstände in der DDR in eine besonders kritische Habachtstellung gebracht. Das begann schon mit dem Mauerbau, dem Einmarsch der Sowjets 68, der Invasion 79 in Afghanistan. All das hat meinen Widerspruch ausgelöst und mich in große Schwierigkeiten gebracht. Im Friedenskreis war es die nationale Frage, die der Mehrheit unpassend schien. Im Bundestag dann Schröders Agenda und die verlogene Selbstauflösung des Parlaments, wogegen ich angekämpft habe."

In Werner Schulz ungemein kenntnisreichen Texten und Vorträgen über die Ukraine und Putins Verbrechen kommen die USA, die NATO, der Westen in der Regel nicht vor. Und der gelernte Wessi, politisch auch geprägt vom Vietnam- Krieg und weiterem Unheil, das die USA  bewirkt haben, lässt seinen Freund aus der Uckermark das auch wissen. Er empfindet es als nicht richtig. Werner bestätigt das, und wir fangen an, uns über die Gründe für Werners strikte Haltung  auszutauschen.

Ach was, wir haben angefangen. Aber das ist ja nun alles vorbei.
Der Jammer setzt wieder ein. Und die Tränen.
Der Stachel sitzt tief.