Berliner Zeitung, 04.04.2007
"Kostbare Charakterschiefheit" von Torsten Harmsen
Es geschah 1966: "Die Entfernung von Herrn Havemann war notwendig", sagte der Kernforscher Max Steenbeck. "Havemann war schon immer ein Querkopf", erklärte der Strahlenphysiker Walter Friedrich. Der Physiker und Nobelpreisträger Gustav Hertz betonte, "dass bei der Stellung der Akademie es unmöglich ist, dass ein Mitglied in irgendeiner Form Propaganda gegen die DDR macht". Alle drei waren hoch renommiert. Noch heute tragen Preise, Institute und Schulen ihre Namen. Hier jedoch stehen sie für die Schande. Sie hatten es zugelassen, dass ihre Akademie einen unbequemen Kollegen aus ihren Reihen strich - und dabei ihr Statut sowie die Unabhängigkeit der Wissenschaft bewusst verletzte.
Seit Montag kann man ihre Zitate und noch mehr in der  Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften lesen - genau in  jenem Treppenhaus, durch das Robert Havemann einst selbst oft ging. Die  Ausstellung "Robert Havemann - Ein Bürger und Wissenschaftler in  Deutschland" mit Schautafeln und Vitrinen entstand als gemeinsames  Projekt mit der Robert-Havemann-Gesellschaft, gefördert von der Stiftung  Aufarbeitung. Anlass ist der 25. Todestag Havemanns am 9. April. 
  Die Akademie, 1993 neu gegründet, geht damit einen Schritt, der längst  hätte gegangen werden müssen. Sie holte die Vorgänge um Havemann aus dem  Archiv, wo sie Jahrzehnte lang wie Gift lagerten. Und sie setzt sich  erstmals offen mit ihnen auseinander. 
 
Schon von den Nazis war Robert Havemann verurteilt worden - zum Tode!  Er konnte nur gerettet werden, weil seine chemische Forschung  kriegswichtig war. Er hatte eine Widerstandsgruppe geleitet und  versteckten Juden geholfen. Dafür ehrte ihn 2006 die  Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechten unter den Völkern". 
  Die DDR sah Havemann, der seit 1932 KPD-Mitglied war, als historische  Chance. Er wurde SED-Funktionär, Institutsleiter,  Volkskammerabgeordneter, Nationalpreisträger. Er war sehr aktiv und auch  an Unrecht beteiligt, etwa der Relegierung christlicher Studenten. Aber  bald quälten ihn Zweifel an diesem Weg, und er wurde - so konsequent,  wie er alles tat - zum Dissidenten. "Ja, ich hatte Unrecht", schrieb er  später. Zur Ausstellungseröffnung am Montagabend erzählte sein Freund,  der Linguist Manfred Bierwisch, wie Havemann begann, das Regime  öffentlich mit dem zu konfrontieren, was es selbst ständig im Munde  führte: Marx und die Dialektik. Er nahm den "ungleichen Kampf gegen den  Dogmatismus" auf. Havemanns Vorlesungsreihe "Naturwissenschaftliche  Aspekte philosophischer Probleme" an der Humboldt-Uni hatte von Woche zu  Woche mehr Zulauf und wurde zur Provokation. Die SED schlug zurück.  Havemann flog aus der Partei, der Universität, der Akademie und verlor  seine Forschung, obwohl sich Berühmtheiten wie Linus Pauling und Albert  Schweitzer in rührenden Briefen für ihn eingesetzt hatten. 
  Bierwisch erinnerte sich an jene legendären Vorlesungen. Havemann habe  "souverän, zwanglos, zwingend" geredet. Die Skripte seiner Vorträge  kursierten vor allem unter jungen Leuten. Im Westen, dem Rowohlt-Verlag,  erschienen seine Texte 1964 unter dem Titel "Dialektik ohne Dogma".  Havemann hatte sie auch dem Dietz-Verlag der SED angeboten. Überhaupt,  so Bierwisch, habe er geglaubt, mit Öffentlichkeit das meiste zu  erreichen. "Er hat das Risiko, das er einzugehen bereit war, ohne  Umstände auch allen anderen zugemutet." Und er habe die Folgen bewusst  in Kauf genommen, bis hin zum Hausarrest in Grünheide, wo er 1982 starb.
Ein anderer Freund, der Politikwissenschaftler Hartmut Jäckel, hielt für Havemann die Verbindung nach West-Berlin. Der emeritierte FU-Professor erzählte, wie sich in einer Wohnung im Osten mehrmals ein Kreis traf, dem neben Havemann etwa auch Stefan Heym, Heiner Müller und Marion Gräfin Dönhoff angehörten. Jäckel beeindruckte die Offenheit und Unbefangenheit Havemanns, die dazu beitrugen, dass in der Ost-West-Runde ein kaum zu beschreibendes "komplexes Lebensgefühl" entstanden sei.
Höhepunkt der Ausstellungseröffnung aber war der Auftritt Wolf  Biermanns, der mit parodistischem Talent die dramatische und zugleich  bizarre Geschichte erzählte, wie ihm 1982 als Ausgebürgerten erlaubt  wurde, für drei Tage zu seinem sterbenden Freund Havemann zu reisen. Wie  dieser die letzte Begegnung trotz Schwäche dazu genutzt habe, noch  einen kurzen Film mit Biermann aufzunehmen und diesen auf irgendeinem  Wege in den Westen zu schmuggeln. Biermann schilderte Havemanns  Charakter am bildreichsten von allen. "Er war chronisch von sich selbst  entzückt", habe nicht "an übergroßer Bescheidenheit" gelitten. Aber das  sei unter einem Regime, das jeden klein hielt, eine "kostbare  Charakterschiefheit" gewesen. Biermann habe alles getan, um sich  Havemanns "Hochmut" anzueignen. Die Basis dafür, dass er auch unter  Druck nicht einknickte, sei die Freundschaft mit Havemann gewesen. "Dass  ich die Angst hatte und nicht die Angst mich, das verdanke ich Robert."  
 
Ausstellung: Robert Havemann, BBAW, Jägerstraße 22/23, vorderes Treppenhaus