Blumen zur Eröffnung des Havemann-Archivs für Katja Havemann von Siegfried Zoels.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Am Info-Tisch Sebastian Pflugbeil und Bärbel Bohley.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Jens Reich und Bärbel Bohley die Beiratsmitglieder der Robert Havemann-Gesellschaft am Tag der Eröffnung des Archivs.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Tina Krone, Archivleiterin des Havemann-Archivs am Tag der Eröffnung mit Siegfried Zoels. Im Hintergrund Werner Theuer, Archivar des Havemann-Nachlasses.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Besucher der Eröffung des Havemann-Archivs am Info-Tisch.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Siegfried Zoels, Vorstandsvorsitzender der Robert-Havemann-Gesellschaft, bei der Eröffnung des Robert-Havemann-Archivs im Mai 1994 in der Schliemannstraße 23 in Berlin-Prenzlauer Berg.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

"Hier können wir unsere Geschichte selbst dokumentieren, daraus lernen"

30 Jahre Eröffnung des Archivs der Robert-Havemann-Gesellschaft

"E.H. ist tot, es lebe Havemann" betitelte die taz einen Artikel über die Eröffnung des Archivs der Robert-Havemann-Gesellschaft am 31. Mai 1994. Zwei Tage zuvor war Erich Honecker im selbstgewählten chilenischen Exil gestorben. Dem Zufall, der zu dieser Schlagzeile verleitete, haftete etwas Symbolisches an. Im Gegensatz zu Honecker erhielt Robert Havemann an diesem Tag einen neuen Ort, der die Öffentlichkeit einlud, sich mit seinem Lebenswerk auf der Grundlage seiner Publikationen, unterschiedlichster privater Dokumente sowie den schriftlichen Zeugnissen seiner Verfolgung in beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts lebendig auseinanderzusetzen. Darauf machte auch Siegfried Zoels, damals Vorstandsvorsitzender der Robert-Havemann-Gesellschaft, in seiner Rede aufmerksam, mit der er die Mitstreiter*innen und Gäste zur feierlichen Eröffnung des Archivs im Innenhof der Schliemannstraße 23 in Berlin Prenzlauer Berg begrüßte.

Diesem letzten Maitag im Jahr 1994 waren zwei Jahre intensiver Arbeit vorausgegangen:

Anfang der 1990er Jahre, nach der Öffnung der staatlichen, SED- und Stasi-Archive zeigte sich schnell, dass Wissenschaftler*innen vorrangig deren Materialien als Basis der Geschichtsschreibung über die DDR nutzten. Was dabei verlorenzugehen drohte, war die Sicht jener, die die SED-Herrschaft kritisch hinterfragt hatten. Sie warnten vor der Verharmlosung des SED-Regimes und Versuchen der Geschichtsklitterung. Sie wollten am geschichtspolitischen Diskurs beteiligt werden und sich in den Prozess der Aufarbeitung einbringen. Zudem erkannten weder die staatlichen noch die kirchlichen Archive das Potenzial des Materials der unabhängigen Gruppen und Bürgerbewegungen und stuften es als nicht archivwürdig ein. Darum waren die Vertreter*innen aus Opposition und Widerstand entschlossen, ihre Geschichte und ihre Rolle in der DDR selbst zu dokumentieren, zu erforschen und darüber aufzuklären - so hatte es auch die Robert-Havemann-Gesellschaft (RHG) in ihrer Satzung festgeschrieben. Vor diesem Hintergrund begannen einzelne Engagierte im Mai 1992 ein Archiv aufzubauen. Die Räumlichkeiten dafür fanden sich in einem Hinterhaus der Schliemannstraße 23.

Den archivalischen Grundstock bildeten der Nachlass Robert Havemanns und die Überlieferungen der im Herbst 1989 gegründeten unabhängigen Vereinigungen und Initiativen. Katja Havemann vertraute dem neu gegründeten Archiv Manuskripte, Korrespondenzen, Notizen und lebensgeschichtliche Dokumente ihres 1982 verstorbenen Mannes an. Rund 1.400 einzelne Schriftstücke daraus waren zum Zeitpunkt der Eröffnung erschlossen.[1] Dazu kamen Kopien der Akten von Volksgerichtshof und Gestapo, der ca. 300 Bände, die das Ministerium für Staatssicherheit über Havemann angelegt hatte (Zentraler Operativer Vorgang "Leitz"), sowie von Materialien aus dem SED-Parteiarchiv, die noch aufgearbeitet werden mussten.

Die Dokumente aus Opposition und Widerstand trugen die Mitarbeiter der RHG in mühevoller Kleinarbeit zusammen. Sie ruhten noch in Schreibtischschubladen, Hinterzimmern, Kellern oder Dachböden. Aus Angst, von der Staatssicherheit entdeckt zu werden, waren sie verstreut an unterschiedlichen Orten deponiert worden.

Die Sammlung und Erschließung des Archivmaterials nahm Tina Krone federführend in die Hand. Sie hatte verschiedene Berliner Archive besucht und sich dort die Grundlagen des Archivierens angeeignet. Eigentlich war sie Englischlehrerin und hatte zuletzt als Erzieherin gearbeitet, da sie aufgrund ihrer kritischen Haltung zum DDR-Staat nicht mehr als Lehrerin arbeiten durfte. Obwohl sie nicht vom Fach war, hat sie das Archiv professionell und mit großem persönlichen Einsatz aufgebaut. An ihrer Seite und ebenso engagiert arbeitete über viele Jahre hinweg Irena Kukutz. Ab 1993 kam Werner Theuer dazu. Er war ausgebildeter Dokumentar und erschloss den Havemann-Bestand. Unterstützt wurden sie von einer wechselnden Anzahl Mitarbeiter*innen, die im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingestellt werden konnten. Tina Krone übernahm die Archivleitung bis zum Jahr 2018.

Im Juli 1993 zog auch das Matthias-Domaschk-Archiv in die Schliemannstraße 23. Die Umwelt-Bibliothek in der Berliner Zionsgemeinde, die in der DDR verbotene Literatur zugänglich gemacht hatte und ein bedeutender Treffpunkt für Mitglieder der Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen gewesen war, hatte ein Jahr zuvor angefangen, die bereits seit 1986 zusammengetragenen Selbstzeugnisse verschiedener oppositioneller Gruppen zu archivieren. In der vor Ort aufgebauten geheimen Druckerei waren Samizdat-Zeitschriften wie die "Umweltblätter" oder "Grenzfall" gedruckt worden. Das im Januar 1992 gegründete Matthias-Domaschk-Archiv konnte also auf einem umfangreichen Grundstock aufbauen, der durch neu gesammeltes Material laufend erweitert wurde. Das Interesse daran war groß. Frank Ebert und Tom Sello haben hier wesentliche Aufbauarbeit geleistet. Dieses und das Havemann-Archiv ergänzten sich inhaltlich hervorragend und arbeiteten fortan eng zusammen. Sie blieben aber als eigenständige Archive sichtbar.

Die Finanzierung der Archive entwickelte sich in diesen ersten Jahren zu einem dauerhaften Problem. Neben Geldern, die für Umbaumaßnahmen und notwendige Anschaffungen von geeignetem Mobiliar anfielen, mussten vor allem Mittel für die laufenden Kosten und die Bezahlung der Mitarbeiter*innen aufgebracht werden. Der größte Anteil wurde hier über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abgedeckt, die aber zeitlich befristet waren und immer wieder neu beantragt werden mussten. Eine langfristige Planung der Archivarbeiten und beabsichtigter Publikationen war so schwer möglich. Dass die Archive die finanziellen Hängepartien immer wieder überlebten, ist wiederum dem enormen Engagement der Beteiligten zu verdanken, die die unentgeltlich gearbeiteten Stunden nicht zusammenzählten. Erst 1995 entspannte sich die Lage etwas, als der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes die Mittel für zwei volle Stellen im Havemann-Archiv und eine im Domaschk-Archiv bereitstellte.[2]

Als die Archive am 31. Mai 1994 offiziell öffneten, lagen hinter den Beteiligten nicht nur zwei von intensiver Arbeit geprägte Jahre, sondern auch eine Zeit des gemeinsamen Lernens und der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Die politische Verortung in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen und die Frage nach der Ursache für das Scheitern vieler Visionen waren Gegenstand der Diskussionen. Die erlittenen Repressionen und die Verfolgung durch den Staatssicherheitsdienst sollten aufgearbeitet werden. Dazu traf man sich in regelmäßigen Abständen zu den sogenannten „OV-Treffen“, um die individuelle Einsicht in die Stasi-Akten zu koordinieren, Fragen der Auswertung zu besprechen und die Ergebnisse zusammenzufassen.

Zum Zeitpunkt der Eröffnung verfügte das Archiv der RHG neben Robert Havemanns Nachlass auch über Schriftgut, Film, Foto- und Tonmaterial des Neuen Forums und weiterer Bürgerbewegungen, vollständige Filmaufnahmen und schriftliche Dokumente der Sitzungen des Zentralen Runden Tisches und der regionalen Runden Tische, Materialien zur Öffnung der MfS-Archive, Zeitschriften der Bürgerbewegungen und eine Pressedokumentation zu diesen Schwerpunkten. Auch zwei Veröffentlichungen waren bereits erschienen: ein Handbuch zum Umgang mit den Stasi-Akten von Tina Krone, Henry Leide und Irena Kukutz sowie eine Dokumentation von Stasi-Unterlagen der Hauptabteilung XX/4 von Tina Krone und Reinhard Schult. Weitere Publikationen waren in Planung. Das Matthias-Domaschk-Archiv war neben den umfangreichen und vielfältigen Materialien oppositioneller Gruppen (Schriftgut, Fotos, Tonbänder, Videos) um Unterlagen zu den Repressionsorganen der DDR und eine Presseauswertung zur DDR-Vergangenheitsdebatte sowie zu ausgewählten Themen zu Opposition und Repression erweitert worden.

In 30 Jahren ist viel passiert. 1998 war das Archiv der RHG am Aufbau des Netzwerkes „Archive von unten“ maßgeblich beteiligt. 2003 übernahm die RHG das Archiv GrauZone und erweiterte damit seine Bestände um Archivalien zur ostdeutschen Frauenbewegung – eine wichtige Ergänzung, um dem Anspruch gerecht zu werden, die Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR möglichst vollständig abzubilden. Die mittlerweile drei Archive in der Schliemannstraße 23 wurden im Jahr 2007 endgültig zusammengefasst zum Archiv der DDR-Opposition, das beständig gewachsen ist. Viele persönliche Nachlässe sind hinzugekommen, so jüngst der von Jürgen Fuchs, aber auch bedeutende Bestände wie der des Kirchlichen Forschungsheimes in Wittenberg oder der Wochenzeitung „die andere“. Aktuell umfasst das Archiv der DDR-Opposition ca. 1.600 lfm. Schriftgut, ca. 820.000 Fotos und mehrere Hundert Audio- und Videoaufnahmen. Seit August 2017 befindet sich sein Standort in der Ruschestraße 103 auf dem ehemaligen Gelände des MfS-Hauptquartiers, dem künftigen Campus für Demokratie. Seine Arbeit wird seit 2018 gemeinsam von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziert. Inzwischen ist das Archiv nicht mehr allein ein Ort, um selbst die eigene Geschichte zu dokumentieren – es ist ein Anlaufpunkt für deutsche und internationale Wissenschaftler*innen, Publizist*innen, Journalist*innen und Künstler*innen, die die Geschichte der DDR aus der Perspektive jener erzählen möchten, die sich gegen das SED-Regime zur Wehr gesetzt hatten und es schließlich in der Friedlichen Revolution überwanden.


[1] "Die eigene Geschichte annehmen". Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft eröffnet, in: Der Tagesspiegel vom 1.6.1994.

[2] Werner Theuer: Die Archivalische Überlieferung der Bürgerrechtsgruppen der DDR in den Archiven der Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., in: Archive und Gesellschaft. Referate des 66. Deutschen Archivtags, Beiband 1: Der Archivar. Mitteilungsblatt für das deutsche Archivwesen, Siegburg 1996, S. 116–128, bes. S. 118-121.

 

 

Einladung zur feierlichen Eröffnung des Archivs der Robert-Havemann-Gesellschaft am 31. Mai 1994. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V.