75 Jahre Jürgen Fuchs

Portrait von Jürgen Fuchs.
© Robert-Havemann-Gesellschaft e.V./Bernd Markowsky/RHG_Fo_BeMa_657

75 Jahre! Dürfen wir ein Jubiläum feiern, das es nicht gibt?! Macht es Sinn, den Geburtstag eines Toten zu „feiern“?

In der Öffentlichkeit bei Veranstaltungen werden Reden gehalten und es wird gesungen. Die Stimmung verändert sich, Traurigkeit und Rührung werden spürbar. Bei den eingeladenen Freunden ist hörbar, dass sich die Stimme verändert. Die Stimme wird leiser und sucht Halt an den vorbereiteten Zeilen. Die Stimme wird brüchig, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Als Zuschauerin von diesen Veranstaltungen sehe ich die Traurigkeit und spüre, dass die Eingeladenen viel Kraft brauchen, um die Situation überhaupt auszuhalten. Dann wird mir klar: Sie brauchen die Erinnerungsrituale nicht, weil Jürgen sie nach so vielen Jahren immer noch begleitet!

Ich brauche die Erinnerungsrituale erst recht nicht! Ich denke fast täglich an ihn. Er begleitet mich schon mein Leben lang. Vielleicht kann ich es gut, weil ich seit 1976 „trainiert“ war, ihn nicht sehen, ihn nicht treffen zu können! Die Trennung dauerte 13 Jahre. 13 Jahre – wie viel Leben ist das? In der Zeit gab es Anrufe, die protokolliert wurden, und Briefe, die kontrolliert wurden! Jedoch lebte er noch. Dann schaffte es die friedliche Revolution die DDR-Knasttüren zu öffnen. Wir standen am 10. November 1989 in Tempelhof und klingelten bei Jürgen. Es war schon ganz schön verrückt! Wir hatten 10 Jahre, nur noch 10 Jahre! Weniger als nach seiner Verhaftung und Abschiebung. 10 Jahre uns zu sehen, zu reden, zusammen zu lachen.

Neu Kennenlernen? Nein, wir kannten uns, dank der vielen Briefe in den 13 Jahren zwischen dem anfangs zehnjährigen Mädchen und dem Onkel, „dem Fuchs“, wie er in den Stasiakten mit den kopierten, geraubten Briefen genannt wird. Briefe, die Jürgen als Zeitzeugen in „Magdalena“[1] geholt hat, aus den Stasi-Akten befreit hat. Als er mir 1997 das Manuskript vorab zu lesen gab, verstand ich nicht, was er mit diesen Brief-Akten wollte! Von mir, einem Kind, einer Jugendlichen. Mit dem, was ich halt so erlebte und schrieb. Ich wollte ja nur, dass er an meinem Leben Anteil hat! Wir diskutierten auch; viel über Pazifismus. Ich schrieb damals: Ich werde mich wehren, wenn ich angegriffen werde! Das war in der großen Debatte in den 1980er Jahren. Beim Lesen der alten Briefe in „Magdalena“ finde ich seine Stimme und seine Gedanken über Krieg und Frieden finde ich in seinem Buch „Einmischung in eigene Angelegenheiten / Gegen Krieg und verlogenen Frieden“1: Es ging um „wirklichen Frieden … ohne Gefängnisse, ohne Lager“.2

Und hier und heute? 26 Jahre nach seinem Tod? Jürgen fehlt mir als Diskussionspartner. Ich suche ihn in seinen Büchern, suche nach seinen Gedanken. Dann lache ich, ja Jürgen: Selbst denken! Ich denke selbst!

Ich mache jetzt mal eine Durchsage! Jürgen Fuchs hat uns das Buch „Magdalena“ hinterlassen. Hinterlassen klingt so bedeutend, oder?

Nach fast 30 Jahren habe ich es kapiert, das mit den Briefen. Und jetzt meine Durchsage an die Mitarbeiter des MfS, es werden schon noch ein paar leben und sich vielleicht zu Lesungen von Egon Krenz schleppen. Da sitzen Sie dann, die selbst 

Gewendeten! Ihren Eid haben sie vermutlich nicht aufgelöst. Da sitzen sie und fühlen sich sicher und gut. Obwohl: früher war ja eh alles besser.

Ich blättere in „Magdalena“ – das ist der Beweis! Als Kind verstand ich nicht, warum mein so freundlicher und lustiger Onkel Jürgen im 19. November 1976 verhaftet wurde. August 1977 folgte die erzwungene Ausbürgerung nach Westberlin. Jürgen forderte mich auf, ihm zu schreiben. Der Psychologe forderte mich auf: „Schreib mir, was du denkst, was du fühlst.“ Das habe ich später auch als Psychotherapeutin gemacht. Die Jugendlichen bekamen von mir Schreibhefte, die Kleineren Malhefte. Sie konnten dort schreiben und malen und sagen „was ist“. Jürgen forderte mich auf und jetzt erst verstehe ich beim Lesen, es waren Briefe der Selbstfindung und Selbsterkenntnis. Ich habe „ich“ gesagt und aufgeschrieben, was ich wahrnahm. Durch die Beobachtung und die Erfahrung der Trennung, erkannte ich dieses Verkommene und Verlogene. Ich sah die angeblichen Sieger der Geschichte im Porzellanwerk und in der Maxhütte!

Wie stellen wir uns Geheimdienste vor? Ich klebte die Briefe zu mit extra Leim. Die Briefe von Jürgen waren geöffnet worden, man konnte sie zu leicht aufziehen. Aber damals als Kind und Jugendliche konnte ich mir nicht vorstellen, dass erwachsene Männer über meinen Briefen hockten und sie abschrieben und auswerteten. Die Staatssicherheit war vor allem männlich. Das hat doch auch was Schlüpfriges und Obszönes. Bei mir kommt bei diesem Bild Ekel hoch. Hat schon was Perverses! Der „Erfolg“ des Schnüffelns war ihr Urteil über mich: „feindlich negativ“.

Sie hatten keinen Erfolg. Sie suchten Geheimnisse und fanden sie nicht. Was sie nicht erkannten, war, dass sie mich schon lange verloren hatten! Sie hatten damals schon verloren! Sie selbst machten mich zum „Feind“, zur „feindlich-negativen“ Schülerin, zur Bürgerin, die sagte, was sie dachte, sagte „was ist“! Ich habe „ich“ gesagt und das ohne Angst. Beginnend mit dem Tag seiner Verhaftung fand ich meine Freiheit und verlor meine Feigheit. Sie konnten mich nicht „knacken“. Trotz der geraubten Telefongespräche und Briefe hatten sie nichts verstanden. Erst keine Zulassung zum Abitur und dann (vergebliches) Locken mit der Internatsschule in Wickersdorf3, um mich so früh wie möglich von zu Hause zu trennen und unter Kontrolle zu bringen. Er hatte verloren, dieser männliche Geheimdienst. Ich lachte sie damals schon aus. Und ich bin nicht weg. Sie wollten vielleicht, dass ich weggehe. Bis zuletzt hatten sie weiterhin so viel Arbeit mit dem Briefe abschreiben. Wenn ich heute in den Stasi-Akten und in „Magdalena“ lese und lache, höre ich mein Lachen von damals. Ich wusste ja nicht, dass so viel Arbeit darin steckte. Was hat der Bearbeiter gefühlt, wenn er die Briefe gelesen hat und dann nach Hause zur gleichaltrigen Tochter gegangen ist? Wie war das so? Hatte er Sorge um seine Tochter? Wollte er sie schützen vor der anderen, der „feindlich-negativ“ gesinnten Jugendlichen? Sogar zu Hause wurde kontrolliert. Und – alles im Griff gehabt?

Mich hatten sie nicht im Griff. Das war vielleicht ihre Illusion. Sie merkten nicht, dass die Briefe therapeutischen Tagebüchern ähnlich sind: „Schreib auf, was du fühlst!“ Sie beurteilten (meint: verurteilten) Jürgens Reaktionen auf meine Briefe: „Der Fuchs geht auf alles ein und verstärkt die feindliche Gesinnung!“ Es ist zum Lachen! Normale zwischenmenschliche Beziehungen werden zur Gefahr erklärt und überstehen doch 13 Jahre erzwungene Trennung. Und alle Zersetzungsmaßnahmen, um die Nähe zu zerstören, waren umsonst. Meine Illusion war, dass ich keine Angst haben muss.

Jürgen war da realistischer. Rückblickend, nach 1989 sagte er: „Wir hatten immer Angst um dich. Du hast alles einfach so geschrieben, geschrieben was du denkst … wir hätten dich nicht retten können …“ Aber es war und ist wichtiger, wahrhaftig zu sein, um gegen die Geheimnisse der Mächtigen bestehen zu können und menschlich zu bleiben.

Und wisst ihr was? Ich brauche auch keine Erklärungen, ich erwarte keine Wahrheit mehr, ob und wie Jürgen vergiftet oder verstrahlt wurde. Ist egal, die Täter halten sowieso den Mund und schauen mit der Macht der vermeintlich Wissenden. Ihr Täter könnt jetzt abtreten. Aber ich habe noch eine schlechte Nachricht für euch! Jürgen Fuchs lebt, in seinen Büchern ist er immer da! Er lebt in den Büchern, ihr bekommt ihn nicht los, ihr Verlierer!

Und hier und heute? 26 Jahre nach seinem Tod? Er lebt in den Büchern und Köpfen, niemand bekommt ihn los. Jürgen Fuchs war ein Sozialpsychologe, Menschenrechtler und Schriftsteller. In seinen Texten finden wir eine feinfühlige Stimme, die es nicht „besser“ weiß, er teilt mit uns seine Erfahrungen mit Gewalt und Erniedrigung und bietet Optionen an, wie damit umgegangen werden kann.

Beim Lesen seiner Bücher finden sich Antworten auch auf aktuelle Fragen (falls jemand mal Zweifel an den zu schnell bereitgestellten einfachen Antworten hat). Selbst denken müssen wir trotzdem, z.B. zum Thema Frieden in der – nein, richtiger: für die – Ukraine. Ein Frieden, der im Gulag oder im Gefängnis endet, ist kein Frieden! Kann nachgelesen werden in „Einmischung in eigene Angelegenheiten“. Selbst nachdenken werden wir trotzdem müssen und uns als solidarische Zivilgesellschaft positionieren. Das können wir lernen von der sehr aktiven, vernetzten Zivilgesellschaft in der Ukraine. Die alten Losungen aus den Achtzigern müssen wir dringend überarbeiten und neu verhandeln. Putin hat sich nicht „gewendet“. Er ist und bleibt ein KGB-Mann, ein Geheimdienstler!

Jürgen Fuchs fordert viel beim Lesen, weil er uns sofort anspricht und fragt: „Und du? Was ist mit dir?“ Trotz aller harten Auseinandersetzungen war sein Credo: „Sei milde.“ Die „Anderen“ sollten immer respektiert werden, aber ohne sich anzubiedern und Grundrechte aufzugeben oder aufzuweichen.

- Ein Beitrag von Simone Stognienko, Nichte von Jürgen Fuchs

Quellennachweise

[1] Jürgen Fuchs: Magdalena: MfS, Memfisblues, Stasi, Die Firma, VEB Horch & Gauck - ein Roman; Reinbek b. Hamburg (Rowohlt) 1998.

[2] Jürgen Fuchs: Einmischung in eigene Angelegenheiten; Reinbek b. Hamburg (Rowohlt) 1984.

[3] Spezialschule mit erweitertem Russisch-Unterricht und Patenschaftsvertrag zur Dienststelle des MfS in Saalfeld.