„Der Konflikt Demokratie – Diktatur begleitet die Menschheitsgeschichte“

Das Vermächtnis von Jürgen Fuchs

„Als selbstloser Freund, als stark befeindeter Menschenrechtler, als streitbarer Schriftsteller lebt er weiter in der Erinnerung vieler. Sein kompromisslos klarer Geist findet sich in seinen Büchern und Texten. Man kann sie entdecken.“ - Udo Scheer1

Ein Portrait von Jürgen Fuchs, aufgenommen von Bernd Markowsky.
© Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Markowsky/RHG_Fo_BeMa_396

Vor 75 Jahren wurde Jürgen Fuchs geboren, am 19. Dezember 1950 – in der DDR. Er wurde einer, der sich verantwortlich fühlte für den Menschen neben sich und für das große Ganze. Und er konnte angesichts der ihm offenbar werdenden Kluft zwischen den offiziellen Behauptungen und der Realität in einer Diktatur sein Unbehagen in Worte fassen wie nur wenige. Jürgen Fuchs sagt in seinen Büchern, was so schwer zu erzählen ist, macht begreiflich, wie die Anpassung in totalitären Verhältnissen erzwungen wird. Wie Widerspruch und Kritik erstickt werden, was Militarisierung einer Gesellschaft bedeutet. Es ist, als erzähle die Wirklichkeit sich selbst, formulierte es Herta Müller auf der Gedenkveranstaltung am 3. Dezember diesen Jahres in der Konrad-Adenauer-Stiftung. „Gedächtnisprotokolle“, „Gefängnisprotokolle“, „Einmischung in eigene Angelegenheiten“, „Fassonschnitt“, „Ende einer Feigheit“ und „Magdalena“ sind einige der Bücher, die zu seinem Erbe gehören.

Geboren wurde Jürgen Fuchs in Reichenbach im Vogtland, einer Kleinstadt im Süden der DDR. Hier ging er zur Schule und machte 1969 das Abitur gleichzeitig mit einem Facharbeiterabschluss als Betriebs- und Verkehrseisenbahner bei der Deutschen Reichsbahn2. Im Jahr davor hatte er als 17jähriger Sympathie für den Prager Frühling 1968 bekundet3, denn er teilte die Sehnsucht nach einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der CSSR dieser Zeit und lehnte die Niederschlagung der Reformbewegung dort durch sowjetische und andere Truppen aus dem damaligen Ostblock ab.

Der sich an die Schulzeit anschließende Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee schärfte den Blick von Jürgen Fuchs für die Mechanismen einer Diktatur, wie sehr eindrucksvoll im Roman „Fassonschnitt“ nachzulesen ist. Danach ging er an die Friedrich-Schiller-Universität Jena, um Sozialpsychologie zu studieren. Während seines Studiums wurde er Mitglied der SED, der Staatspartei der DDR. In einem Brief vom 26.7.1975, gerichtet an den damaligen Ersten Sekretär des ZK der SED, Erich Honecker, erklärt er seine Motivation: „Auch bin ich sehr dafür, dass wir uns alle kräftig einmischen in unsere eigenen Angelegenheiten. Aus diesem Grund wurde ich vor zwei Jahren Mitglied der Partei.“4 Wie es jemandem, der ernsthaft versuchte, sich einzumischen, damals in den Diktaturen Osteuropas nach sowjetischem Vorbild erging, hatte Jürgen Fuchs da schon erfahren. Mit Lyrik und Prosaskizzen hatte er sich zu Wort gemeldet, Ungerechtigkeiten, Machtmissbrauch und Lügen benannt. 1975, wenige Wochen vor dem Abschluss seines Studiums, war er von der Universität exmatrikuliert, gleichzeitig aus der FDJ, der staatlichen Jugendorganisation und der SED ausgeschlossen worden. Ab jetzt konnte er in der DDR nirgends publizieren und nicht mehr mit Lesungen auftreten.

V.l.n.r.: Lilo Fuchs, Jürgen Fuchs, neben Jürgen Fuchs sitzt Lutz Leibner, daneben Michael Blumhagen.
© Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernd Markowsky/RHG_Fo_BeMa_987

Jürgen Fuchs verließ Jena und zog im Sommer desselben Jahres mit Frau und Tochter ins Gartenhaus auf dem Grundstück von Katja und Robert Havemann, mit denen sie befreundet waren. Hier in Grünheide bei Berlin fand er Arbeit als Erzieher für Sonderschüler in einem Heim der Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee, war vorerst verschont von weiteren Attacken der Staatsmacht und konnte sein Buch „Gedächtnisprotokolle“ beenden.5

Am 19. November 1976, drei Tage nachdem sein Freund, der Sänger und Dichter Wolf Biermann gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert worden war, wurde Jürgen Fuchs verhaftet. Zwar waren Proteste gegen die Ausbürgerung der Anlass, Jürgen Fuchs und andere zu inhaftieren, aber eigentlich ging es in seinem Fall um seine literarischen Arbeiten.6 Ihm wurde „staatsfeindliche Hetze“ im verschärften Falle vorgeworfen.

Um sich für „politisch und persönlich bedrohte DDR-Bürger“ einzusetzen, wurde im Dezember 1976 das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ in West-Berlin gegründet. Die Mitglieder des Schutzkomitees starteten sofort eine Solidaritätskampagne für diejenigen, die gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatten und deswegen verhaftet worden waren. Sie übernahmen die Patenschaft über Jürgen Fuchs und sorgten für das Erscheinen seines Buches „Gedächtnisprotokolle“ im Februar 1977, noch während er im Gefängnis saß. Der junge Schriftsteller und seine Freunde, darunter die kurz nach ihm verhafteten Musiker Gerulf Pannach und Christian Kunert, erhielten weiträumige Unterstützung im Westen, darunter auch von anerkannten Berufskollegen.7

Nach neun Monaten Untersuchungshaft wurde er am 26. August 1977 ohne Prozess aus dem Gefängnis entlassen, ausgebürgert und nach West-Berlin ausgewiesen. Ab 1980 arbeitete er als Sozialpsychologe im „Treffpunkt Waldstraße“, einer Kontakt- und Beratungsstelle für Jugendliche in Berlin-Moabit. Hier teilten seine Frau Lilo und er sich eine Stelle.

Bis zum Fall der Mauer 1989 publizierte Jürgen Fuchs zahlreiche Bücher, entfaltete eine lebhafte Lese- und Vortragstätigkeit, engagierte sich in der Friedensbewegung und in Schriftstellervereinigungen. Gleichzeitig unterstützte er die Opposition in der DDR und setzte sich für Oppositionelle und verfolgte Künstler aus Osteuropa ein. Beharrlich machte er Menschenrechtsverletzungen dort bekannt und forderte Solidarität mit den Opfern ein, was ihm mitunter heftigen Widerspruch von sich links gebenden Intellektuellen im Westen einbrachte. „Der Konflikt Demokratie – Diktatur begleitet die Menschheitsgeschichte. Freiheit und Würde des Menschen sind antastbar.“ Diese Erkenntnis bestimmte sein Handeln.8

Deckblatt des Buches „Gedächtnisprotokolle“, erschienen im Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Februar 1977
Seite 54 aus „Gedächtnisprotokolle“, erschienen im Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Februar 1977
Manuskriptseite aus „Gedächtnisprotokolle“ mit Korrekturen von Jürgen Fuchs, Vorstufe zum publizierten Text, der auf S. 54 zu sehen ist
 

Jürgen Fuchs war außerordentlich vielbeschäftigt, trotzdem hat er von 1985 bis 1989 eine Art Kopierzeitschrift, wie Jürgen Fuchs sie selber bezeichnete9, für die DDR herausgegeben. Unter dem Titel „dialog“ erschienen unter Mithilfe von Lilo Fuchs, von Roland Jahn und Ralf Hirsch, zwei ebenfalls in den Westen getriebene Oppositionelle, 12 bis 18 Ausgaben pro Jahr mit Beiträgen aus Zeitungen und Zeitschriften aus der Bundesrepublik. Vor allem Artikel zu in der DDR unterdrückten Themen aus Politik, Literatur, Philosophie und Geschichte, Berichte über das Geschehen in Osteuropa fanden Berücksichtigung. Durch einige mutige, in der DDR akkreditierte Journalisten aus der Bundesrepublik in das abgeriegelte Land geschmuggelt, wurden sie eine wichtige Quelle der Information für die sich in der DDR entwickelnde Opposition. Es war Aufklärung im besten Sinne, um die Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen zu können.

Für die Herrschenden in der DDR blieb Jürgen Fuchs ein unbedingt zum Schweigen zu bringender Staatsfeind. 1982 eröffnete das Ministerium für Staatssicherheit ein Ermittlungsverfahren gegen ihn. Obwohl er in West-Berlin, also außerhalb des DDR-Machtbereichs lebte, war er zahlreichen „Zersetzungsmaßnahmen“10 ausgesetzt. Es gab immer wieder Versuche, seinen Ruf zu zerstören, und Anschläge auf ihn und seine Familie wie ein Autobombenanschlag 1986 vor seinem Haus oder Sabotage der Bremsschläuche seines Autos 1989.

Als Wolf Biermann das erste Mal wieder in der DDR auftreten konnte, am 1. Dezember 1989 in Leipzig, hielt Jürgen Fuchs dort die Eröffnungsrede für das Konzert. Er erinnerte an die verbotenen und aus dem Land getriebenen Künstler, Musiker und Schriftsteller, gedachte vor allem all jener, welche die Friedliche Revolution nicht mehr miterleben konnten. „Was für bittere Jahre. Und wie groß die Chance, die wir jetzt haben.“11

Brief von Heinrich Böll an Jürgen Fuchs zum Tode von Robert Havemann am 9. April 1982

Das nächste Jahrzehnt war von unermüdlicher Aufklärung der Verbrechen des MfS und der SED erfüllt. Dazu gehörten die eigene Forschungstätigkeit in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und der Einsatz für das Schaffen von Strukturen, Gesetzen und Einrichtungen, um die Geschichte der zweiten Diktatur in Deutschland aufarbeiten zu können. Bis zu seinem viel zu frühen Tod am 9. Mai 1999 arbeitete Jürgen Fuchs in verschiedenen Beiräten, Komitees und Stiftungen mit und war gefragter Experte für Anhörungen zu verschiedenen Gesetzen. Ein Beispiel ist seine Mitarbeit an der Vernetzung der Aufarbeitungsinitiativen und der Aufklärung über die Tätigkeit des MfS im Rahmen der von ihm initiierten OV-Treffen12, organisiert von der Robert-Havemann-Gesellschaft und der Heinrich-Böll-Stiftung. Schon im Sommer 1991 hatte Jürgen Fuchs zusammen mit dem Ostberliner Oppositionellen Reinhard Schult ein Konzept für ein Dokumentationszentrum in der Robert-Havemann-Gesellschaft vorgelegt. Dieses große Vorhaben eines Institutes zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte konnte nicht umgesetzt werden, aber ein Archiv wurde aufgebaut, das Robert-Havemann-Archiv13, das sich dieser Aufgabe annahm. Ab Oktober 1992 wurden vierteljährliche Arbeitstreffen organisiert, um die seit Januar 1992 mögliche Einsicht in die Stasi-Akten zu koordinieren und die Erkenntnisse über die Funktionsweise von SED, Stasi14 und Staatsapparat zusammenzutragen. Diese DDR-weiten Arbeitstreffen wurden bis 1998 veranstaltet.15

Mit seinem letzten Roman „Magdalena“, löste Jürgen Fuchs 1998 eine große Kontroverse über das Ob und das Wie der Aufarbeitung der DDR-Geschichte als Geschichte einer Diktatur aus. Hier wird Klartext über die Mechanismen autoritärer Gesellschaften und die Folgen für die Einzelnen gesprochen. Die überraschende Aktualität und die Brisanz heute gelten für das Erbe von Jürgen Fuchs insgesamt.

Seinen umfangreichen Nachlass hat Lilo Fuchs dem in der Robert-Havemann-Gesellschaft angesiedelten Archiv der DDR-Opposition übergeben, wo schon die hinterlassenen Materialien seiner Freunde Robert Havemann und Gerulf Pannach sowie das Fotoarchiv von Bernd Markowsky ihren Platz gefunden haben. Das Schriftgut von Jürgen Fuchs befindet sich noch in der Erschließung und wird ab Frühjahr 2026 zugänglich sein.

- Ein Beitrag von Tina Krone (Archvarin des Nachlasses von Jürgen Fuchs) 


Textnachweise:

[1] Udo Scheer: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition, Berlin 2007, S. 372f

[2] Jürgen Fuchs: I. Variante für WDR-Sendung, Manuskript, o. D. [Robert-Havemann-Gesellschaft, Archiv der DDR-Opposition (RHG), Nachlass Jürgen Fuchs, 78c – vorläufige Signatur)

[3] „Frankfurter Rundschau“, 26.5.1979, Andrea Kunstmüller, Insel aus Flitter und Stein. Jürgen Fuchs´ Versuch, sein Leben als ganz normales zu begreifen (RHG/JF 435 – vorläufige Signatur)]

[4] Jürgen Fuchs: Gedächtnisprotokolle, hier: Der Brief, S. 35, Reinbek b. Hamburg 1977

[5] Jürgen Fuchs: Einmischung in eigene Angelegenheiten, Reinbek bei Hamburg, 1984, S. 38

[6] Doris Liebermann: „Gegen die Angst, seid nicht stille“. Das geheime Tonband von Pannach, Kunert und Fuchs, Halle 2022, S. 185

[7] Die Gründungserklärung des Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus hatten prominente Schriftsteller unterzeichnet, darunter Heinrich Böll, Max Frisch, Heinz Brandt, Friedrich Dürrenmatt, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass; siehe Andreas W. Mytze (Hg.): „europäische ideen“, Sonderheft „Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS-Akten 1995, siehe besonders S.3 und 33

[8] „Ich habe eine Botschaft, die heißt: keine Sicherheit“. Eine spezifische Form des DDR-Terrors gegen Oppositionelle, Jürgen Fuchs über „Zersetzungs“-Strategien, Frankfurter Rundschau, 23.4.1997

[9] Scheer, S. 200, Fußnote 20

[10] Begriff des Ministeriums für Staatssicherheit, beschrieb ein ganzes Bündel von Aktionen zur Verunsicherung und Diskreditierung von Personen und Gruppen, die als politische Feinde bekämpft wurden; von Jürgen Fuchs als „spezifische Form des DDR-Terrors gegen Oppositionelle“ bezeichnet, siehe „Frankfurter Rundschau“ v. 23.4.1997

[11] RHG/JF 72b – vorläufige Signatur

[12] „OV“ ist eine Abkürzung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und steht für „Operativer Vorgang“. Damit gemeint waren jene Aktenvorgänge, in deren Rahmen der Geheimdienst verdeckte, teilweise auch offene Ermittlungen gegen missliebige Personen führte, um gegen sie vorgehen zu können.

[13] Bildete später zusammen mit dem Matthias-Domaschk-Archiv Berlin und Archiv Grauzone das Archiv der DDR-Opposition

[14] Stasi: damals gebräuchliche Abkürzung für Ministerium für Staatssicherheit

[15] Tina Krone: Gründung und Aufbau. Die Robert-Havemann-Gesellschaft und ihr Archiv, in: Gegenentwurf. Ausschnitte deutscher Demokratiegeschichte, Frank Ebert/Anja Schröter (Hg.), Berlin 202