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12.12.2024
Knastjargon und Zwangsarbeit
Mumpe, Bello, Spanner, Pritscher, Krimi, BVer, Ost-Stich, piken, Ufos, aufjucken, Brotwein. Was bedeutet das alles? Das können eigentlich nur ehemalige Gefangene in der DDR wissen. In Cottbus mussten sie in drei Schichten "schnitzen" für den VEB Pentacon Dresden. (S. 197 ff.) Deswegen konnten die Fotoapparate aus der Ostzone so billig im Westen angeboten werden. Dumpingpreise, die Thilo Sarrazin zu der nicht unbegründeten Annahme verleiteten, dass ein solcher Staat ökonomisch bald ans Ende gelangen müsse. So äußerte sich der damalige Finanzsenator einmal bei einer Veranstaltung, die der Rezensent besucht hatte. Der Hintergrund war allerdings ein in der Bundesrepublik noch weitgehend unbekannter: Haftzwangsarbeit mit hohen Leistungsnormen, geringer Entlohnung und vielen Arbeitsunfällen.
Was hat es mit dem "Genickschuss-Barkas" (S. 123) und dem "versandfertigmachen" (S. 176) auf sich? Welche Ängste wurden hier gestreut? Aufschluss über diese Dinge gibt die autobiografisch angelegte Erzählung "Stasi-Knast", verfasst von Dietrich Kessler, 1946 geboren, Bandleader und Komponist in der DDR mit Auftrittsverbot ab 1981, im Juni 1983 verhaftet, in Magdeburg und Cottbus inhaftiert und 16 Monate später freigekauft in den Westen.
Haftkameraden und "Erzieher"
Dietrich Kessler hat als aufmerksamer Chronist seiner Haftzeit eine Sozialstudie über seine Haftkameraden geschrieben, der Titel: "Stasi-Knast".
Seine Mitgefangenen waren hauptsächlich Arbeiter - und die hatten mit der Unfreiheit im vermeintlichen "Arbeiter- und Bauernstaat" gründlich abgeschlossen, wollten nur noch raus. Das im Buch dokumentierte "Cottbus-Lied" spricht Bände. Es stammt aus den siebziger Jahren, hat dieselbe Melodie wie das "Lied der Moorsoldaten", das 1933 im KZ Börgermoor entstand "Cottbus heißt die öde Stätte, wo ein Zuchthaus fest erbaut, der politischen Gefangenen jahrelanger Aufenthalt. Das ist das Zuchthaus Cottbus, Symbol des Sozialismus - in Aktion!", heißt es darin. (S. 153) Es zu singen, war verboten, aber trotzig stimmte es die Häftlingsgemeinschaft gelegentlich an.
Zumeist waren unter den Eingepferchten aufrechte Antikommunisten, die es später im Westen mit den Linken nicht leicht hatten, die keine kommunistische Diktaturerfahrung hatten. (S. 120)
Aber unter den Mitgefangenen gab es auch posende und eingefleischte Neo-Nationalsozialisten, die sich in der Zelle gern als "Sturmbannführer" anreden lassen wollten und die das rassistische Südafrika lockte. (S. 165, 249 ff.)
Durch seine Empathie gelingt dem Autor des Buches, studierter Germanist und Musikwissenschaftler, eine nahe gehende episodenhafte Darstellung von Schicksalen und Widerfahrnissen, die typisch für im SED-Staat Unangepasste, Eigensinnige und Andersdenkende waren. Sie kündet vornehmlich von verzweifelten waghalsigen Fluchtversuchen, die grausam scheiterten. Manch „hartnäckiger Übersiedlungsersuchender“ geriet wegen Nichtigkeiten in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes (SSD).
Einem an der ungarisch-österreichischen Grenze Gefassten war in der Budapester U-Haft ein Ohr blutig geschlagen worden. (S. 216) Ein anderer berichtete von einer Scheinhinrichtung, die ihm in Bulgarien widerfuhr. (S. 230)
Ein Mithäftling hatte seine Tochter verloren, die beim Fluchtversuch mittels Schlauchboot in der Ostsee ertrank. (S. 155) Die Frau eines anderen wurde bei einem versuchten Grenzdurchbruch in Ungarn getötet. (S. 193)
Denjenigen, die wegen sogenannter "Asozialität" eingesperrt wurden, drohte eine Verdopplung der Strafe, wenn sie nach der Entlassung mit Arbeitsplatzbindung wieder einmal den Arbeitsbeginn verschlafen hatten um wenige Stunden. (S. 134) In einem demokratischen System wären sie schlimmstenfalls schlicht entlassen worden. Oder sie hätten sich drei Tage krank melden können.
Auch dass Charaktere differieren und extreme Belastungen von Betroffenen unterschiedlich verarbeitet und zum Ausdruck gebracht werden, kommt zur Sprache. Wer schlimmer als ein Tier eingesperrt wird, kann zum Tier werden. (S. 241)
Diese Passagen, obwohl recht nüchtern erzählt, sind die aufwühlendsten und kaum aushaltbar. Das kann auch einen Rock 'n' Roller schwer erschüttern.
Das Perfide war, dass auch immer Kriminelle ("BVer", Berufsverbrecher wie Mörder, Diebe usw.) unter die Politischen gemischt wurden und die entscheidenden Machtpositionen zugesprochen bekamen: Stubenältester (Mörder waren länger "drin"), Vorarbeiter, "Brigadier" usw. Manche von ihnen verkaufte das SED-Regime in den Westen für entsprechendes Salär und Kessler traf ein paar von ihnen später dort wieder. Sie agierten weiterhin im kriminellen Milieu. (S. 241)
Eine unterstützende Sozialisationshilfe gab es im DDR-Knast nicht. Kriminelle fühlten sich häufig im Gefängnis am wohlsten: da konnten sie Macht ausüben und machten die Regeln, wie Kessler schreibt. Im Alltag draußen kamen sie nach mehrmaligen Knast-Aufenthalten überhaupt nicht mehr zurecht.
Eine Amnestie, die "Amme", war aber auch unter den politischen Gefangenen nicht unbedingt beliebt, denn das konnte für Ausreiseantragsteller und Fluchtwillige bedeuten: zurück in die DDR ausgeliefert zu werden ("Ost-Stich"). (S. 136, 164) Hoffnungen richteten sich auf die Bundesrepublik. Auf einer Karte von zuvor glücklich in die Bundesrepublik Gelangten hieß es: "Im Westen gibt es nicht alles, es gibt noch viel mehr!" (S. 215).
Zunächst aber gab es viel Stress untereinander.
Lautstarke Streitereien beim Glücksspiel auch nachts, gefüllte Aschenbecher, die in die Dreistockbetten gepfeffert wurden und Erniedrigungen von Schwächeren. Nackte Hintern, die mit Schuhcreme beschmiert wurden, nachdem zuvor noch Schlimmeres angedroht worden war. (S. 238, 243)
Das Zusammenleben in der Zelle war von tiefem Misstrauen geprägt. Dennoch entwickelten sich unter den "Politischen" Freundschaften, die nach der Entlassung in den Westen anhielten, wie Kessler berichtet. (S. 215 ff.)
Die Zivilangestellten, Schließer und Knastoffiziere ("Erzieher") charakterisiert der heutige Musikverleger (3D-Verlag) ohne zu pauschalisieren, aber allein deren Spitznamennennung drückt viel aus: RT ("Roter Terror" - Obermeister Hubert Schulze), "Arafat" (Horst Jahn), der Würger "Texas", "Rambo", "Stürmer", "Russe", "Stalin" (Dillner), "Lollo" (Lehmann) wurden sie heimlich von den Insassen der Bautzener Straße 140 in Cottbus genannt. Ein Inhaftierter verstarb an einer durch Schläge verursachten Nierenverletzung. (S. 157) Wenige der brutalen Schließer wurden nach 1990 wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt und zu Haft im offenen Vollzug oder auf Bewährung verurteilt. (S. 162)
Nach der Lektüre erscheint unfassbar, was Menschen Menschen antun können. Und das, obwohl doch der Sozialismus ewige Glückseligkeit verhieß. Aber schon Lenin hatte seine Durchsetzung mit der Devise verbunden, dass Andersdenkende als Feinde zu brechen und zu liquidieren sind.
Lebensumstände
Immer wieder eingeflochten in Dietrich Kesslers Erinnerungen sind allgemeinere Betrachtungen über das Leben unter der SED-Herrschaft und der kommunistischen Ideologie. Dabei erweist sich der Autor nicht nur als belesen, wenn er Reminiszenzen an Hannah Arendt über George Orwell und Alexander Solschenizyn bis hin zu Konrad Löw und André Glucksmann in seine Erzählung einbettet. Seine Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur ist vor allem erfahrungsgestützt.
Nebenher gewährt der fast 300seitige Band erhellende Einblicke in die damaligen Bedingungen unter denen Rockbands arbeiten mussten. Backstage auf sozialistisch sozusagen. Hier berichtet Kessler über Textzensoren und die Schwierigkeiten, an Instrumente und Bühnentechnik zu gelangen. Qualitativ gute gab es nur in der Bundesrepublik und da musste geschmuggelt und gedealt werden. Der Druck von Plakaten ließ monatelang auf sich warten. (S. 57 ff., 159) Gegen Fans gingen Volkspolizisten brutal vor und der Band wurde immer wieder mit Auflösung gedroht, wenn zu viele von ihnen in die Tanzsäle kamen. (S. 59)
Bei Hilfeersuchen an die evangelische Kirche geriet die Band ausgerechnet an den dazumal unerkannt als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) für den Staatssicherheitsdienst arbeitenden Oberkirchenrat Detlef Hammer. Was dieser genau über die Musiker berichtete, steht leider nicht im Buch, obwohl der Autor 1995 seine Stasi-Akte gesichtet hat. (S. 84, 280)
Mit dem Bandverbot gingen der Entzug der Auftrittserlaubnis und Arbeitslosigkeit einher. Es drohte eine Inhaftierung aufgrund des "Asozialen"-Paragraphs. Weil sie im staatlichen Bereich keine Arbeit erhielten, versuchten die Musiker, bei der Kirche unterzukommen. Doch da saß ausgerechnet der OibE. Nach langem Suchen gelang es Kessler und Kneis, als Schaustellergehilfen angestellt zu werden. (S. 88)
Dass die Klosterbrüder einmal bei einem Fasching in Mönchskutten und mit einem Sarg die Bühne betraten, wurde zu einem Mythos über die Band. Da die Band diese Show damals nicht wiederholte, nährte das schon früh unter ihren Fans die Vermutung: "Das haben denen die autoritären Kulturpäpste verboten!". Ein wenig dauerte das aber noch, bis 1981 DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann verfügte: "Die Gruppe Magdeburg muss zerschlagen werden." (S. 280)
Gründe?
Aber warum geriet Kessler mit seiner Frau und seinem 2020 verstorbenen Bandkollegen Achim Kneis 1982 in Haft? Kritische Texte hatten sie kaum gesungen, nur die Fragen gestellt: "Was wird morgen sein? Bau'n wir nur auf Sand? Hau'n wir uns in Stein?"
Kesslers Rockband "Magdeburg", bis 1975 "Klosterbrüder", hatte schlicht die Nase voll von all den Gängelungen und nicht gewährten Bürgerrechten und stellte im September 1981 kollektiv einen Ausreiseantrag. Das konnte als "staatsfeindliche Gruppenbildung" gewertet werden. Das unrechtsstaatliche Urteil gründete sich dann auf den wenige Jahre zuvor neu eingeführten Paragraphen 100: Staatsfeindliche Verbindungsaufnahme. Kontakte in die Bundesrepublik wurden somit kriminalisiert. Das waren dann auch die Telefonate mit seinem 1978 in den Westen geflüchteten Bruder - und nunmehrigem Schlagzeuger bei Herbert Grönemeyer - Detlef Kessler. Die Rache der Genossen.
In der Urteilsbegründung wurde dem Delinquenten zudem vorgeworfen, er wäre an einem kommenden Atomkrieg schuld. (S. 142) Leider kein absurdes Theater sondern reale, sozialistische Paranoia.
Mit der Inhaftierung konnten Devisen erwirtschaftet werden, durch Freikauf in den Westen nach einer demütigenden Haft. So gab es zunehmend Gefangene, denen eine "ungesetzliche Verbindungsaufnahme" vorgeworfen wurde. (S. 138, 174)
Für Kessler hatte dies eine ganze Palette an Folgen: langjährige Stasi-Bespitzelung, Verunsicherungen, endlose Verhöre, geheimpolizeiliche Wohnungseinbrüche, Anwerbungsversuche, Stasi-Untersuchungshaft in Magdeburg, volkspolizeiliche Untersuchungshaft für Kriminelle (inklusive weiterer Stasi-Verhöre), Verurteilung zu zwei Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe, Strafvollzug im Zuchthaus Cottbus und schließlich im Abschiebeknast Kaßberg in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Und stets die bange Frage: Was ist mit meinem 13jährigen Sohn geschehen als Vater und Mutter abgeholt wurden?
Ohne die von ihm gewürdigten starken Frauen an seiner Seite, vor allem seine Frau und ihre Schwestern, wäre manches kaum durchzustehen gewesen. (S. 109 ff.)
Nachvollziehbar zu machen, wie es Inhaftierten in der DDR ergehen konnte - und nicht nur den aus politischen Gründen Weggesperrten - das gelingt Dietrich Kessler eindrucksvoll. Ostdeutschtümelnden Verklärern sei das Buch wärmstens empfohlen, das bereits 2001 im Selbstverlag erschien und nun 2024 in einer erweiterten Fassung im Engelsdorfer Verlag (Leipzig).
Am Ende finden sich Fotos von der Band und vom 22.000 Quadratmeter großen Gefängniskomplex, den ehemals Inhaftierte 2011 für 436.000 Euro kauften - jetzt Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus und Menschenrechtszentrum.
Beeindruckend ist übrigens auch die musikalisch umrahmte Lesereise "Stasi-Knast und Ostseeflucht", vornehmlich an einstigen Orten der Repression, mit Dietrich Kessler an Saxophon und Querflöte, Eberhard Klunker an der Akustik-Gitarre und Hartmut Rüffert an der Stimme. Und wenn wie am 9. November 2024 wieder Heide Schinowsky, die Leiterin der Gedenkstätte Cottbus, an der Querflöte einsteigt, wird das Ganze dann auch noch zum frenetisch bejubelten Quartett.
Dietrich Kessler: "Stasi-Knast". Engelsdorfer Verlag, erweiterte Auflage 2024. ISBN 978-3-96940-717-2
https://www.engelsdorfer-verlag.de/Belletristik/Romanhafte-Biografien/Stasi-Knast::8126.html
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geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek oder dem Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.