Debatte um den Transformationsprozess

In der lesenswerten Reihe „Zeitenwende“ der Berliner Zeitung wird über die Umbruchszeit 1989/90 debattiert. Wurden dem Osten die Werte des Westens aufgezwungen und so die demokratische Emanzipation der Ostdeutschen unterdrückt? Oder hat sich eine Mehrheit der DDR-Bürger der Bundesrepublik bereitwillig angepasst? Wir dokumentieren im Folgenden die Debattenbeiträge.

©Robert-Havemann-Gesellschaft/Rüdiger Spott

"Der Mutige wird wieder einsam", von Klaus Wolfram, in: Berliner Zeitung vom 6. April 2020.

Link zum Artikel in der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung 

Die komplette Rede, die Klaus Wolfram vor der Mitgliederversammlung der Akademie der Künste im November 2019 gehalten hat, finden Sie im "Journal der Künste", herausgegeben von der Akademie der Künste.

"Jede Revolution geht zu Ende – zum Glück!", von Ilko Sascha-Kowalczuk am 15. April 2020.

„Wo waren die, die dagegen waren?“, von Ilko-Sascha Kowalczuk, in: Berliner Zeitung vom 15. April 2020. 

Jede Revolution geht zu Ende – zum Glück! Eine Replik auf Klaus Wolframs „Das Ende der Revolution“

von Ilko-Sascha Kowalczuk 

Unter der Überschrift „Das Ende der Revolution“ veröffentlichte die Berliner Zeitung am 8. April eine Rede von Klaus Wolfram, die er im November 2019 an der Akademie der Künste gehalten hatte. Wolfram bemerkte, die Stimmungslage nach seiner Ansprache war „scharf getrennt“. Die Anwesenden fielen „entlang der Linie ihrer Herkunft“ in zwei Lager. Ostdeutsche erkannten ihre Situation wieder, Westdeutsche waren ratlos oder empört.

Das wundert mich. In den letzten Monaten habe ich an vielen Debatten landauf, landab über Deutschlands und Europas Weg seit 1989 teilgenommen. Bei diesen vielen Debatten konnte ich keine Ost-West-Lager mehr ausmachen. Ich habe in den letzten Tagen viele Freunde nach ihren Eindrücken über Wolframs Vortrag befragt. Ich fand unter ihnen keinen, der sich in dem Geschriebenen von Wolfram wiederfand. Die Absolutheit von Wolframs Behauptung stimmt also nicht.

Klaus Wolfram gehörte zu den Aktivisten vom „Neuen Forum“ auch dann noch, als es sich ab etwa Februar 1990 politisch überlebt hatte, weil die politischen Ziele vom September 1989 erreicht worden waren. Verdienste erwarb er sich auch mit der Gründung der Wochenzeitung „die andere“ und den Verlag „BasisDruck“, der den ersten Bestseller nach dem Mauerfall herausbrachte – Anfang März 1990 die Dokumentation „Ich liebe Euch doch alle“ mit Stasi-Dokumente zum Jahr 1989. Ich schrieb 1992 der Redaktion von der „anderen“ eine Postkarte und erklärte mich bereit, für Klaus Wolfram ersatzweise eine Woche ins Gefängnis zu gehen, sollte er tatsächlich, wie angedroht, wegen der Veröffentlichung der Namen der obersten 10.000 MfS-Offiziere in seiner Wochenzeitung verurteilt werden.

Nun behauptet er, die Stasi-Debatte sei eine Westerfindung gewesen, auch der „Unrechtsstaat“ und die Bezeichnung „totalitär“ sei dem Osten aufgezwungen worden. Nein, die Debatte war keine Westdiskussion, es war in den frühen 1990er Jahren eine Ost-Ost-Debatte, die der Westen am liebsten mit dem Wegschließen der Stasi-Akten ein für alle Mal beendet hätte. Ich glaube nicht, dass Klaus Wolfram das vergessen hat. Der Aufbruch vom Herbst 1989 war auch der Versuch, die Hoheit über die eigene, von den SED-Kommunisten okkupierte Vergangenheit zurückzuerlangen. Dazu bedurfte es keiner westlichen Bevormundung, um zu wissen, in was für einem politischen System man gelebt hatte. Protagonisten des „Neuen Forum“ wie Rolf Henrich, Bärbel Bohley, Werner Schulz, Martin Böttger, Katja Havemann oder Joachim Gauck, die aus anderen politischen Milieus als Klaus Wolfram kommen, haben das mit solchen Begriffen gekennzeichnet, die Wolfram als westlich kontaminiert tituliert. Er unterschlägt das in seinem Selbstgespräch, um seiner Grundthese, der Westen befinde sich in einem Dauerselbstgespräch und unterjoche den Osten, Geltungskraft zu verleihen. Natürlich, die Stasi-Debatte lief irgendwann aus dem Ruder, ich habe das in den letzten fünfzehn Jahre häufig öffentlich kritisiert, auch in dieser Zeitung.

Klaus Wolfram schreibt: Am Anfang steht der 10. September 1989, die Gründung des „Neuen Forums“, verkörpert durch eine Frau, durch Bärbel Bohley. Das Ziel war mit Händen greifbar: eine basisdemokratisch ausgerichtete Gesellschaft. Utopien schienen sich in Realität aufzulösen. Die Menschen hatten sich darauf, so Wolfram, seit den 1970er Jahren vorbereitet. In der DDR orientierten sich, glaubt er, die Menschen aneinander und nicht an Hierarchien. Das schlug nun voll durch. Zuletzt hockte nur noch die Regierung in der „Nische“. Der Herbst 1989 war in Wolframs Durchblick die logische Konsequenz der DDR-Geschichte.

Ich weiß ja nicht, welche DDR Klaus Wolfram meint, aber die reale Honecker-Ära wohl nicht. Was er da über das Sozialverhalten dichtet, mag in linken Theorieseminaren auf größte Zustimmung stoßen. In eher empirisch orientierten Kreisen würde man zuerst nach den Beweisen fragen. Schnell würde sich herausstellen, dass es die dafür nicht gibt. Die DDR-Gesellschaft war eine extrem an Hierarchien orientierte. Diktaturen funktionieren anders nicht. Und die SED-Diktatur hat lange ziemlich gut funktioniert. Eine Bedingung dafür war, dass die absolut meisten Menschen mitmachten, sich einrichteten, sich abduckten. Die einen aus innerer Überzeugung. Die anderen als strukturelle Opportunisten, ohne die Diktaturen nirgends auskommen. Es geht nicht darum, solche Überlebensstrategien zu kritisieren. Aber das Schlimmste an Diktaturen sind nicht allein ihre Richter und Parteifunktionäre, ihre Geheimpolizisten und Politiklehrer, ihre Armeeoffiziere und Verbandsfunktionäre, sondern die schweigenden, duldenden, petzenden, wegsehenden Nachbarn und Arbeitskollegen. Genau jene, die Wolfram nun so heroisiert und zu den stillen Helden hochstilisiert.

2007 gab es in der Robert-Havemann-Gesellschaft eine Debatte, die die kleine Gesellschaft mit dem größten Archiv der DDR-Opposition an den Rand ihrer Existenz brachte. Klaus Wolfram hatte diese Gesellschaft bis dahin mitgeprägt. Es ging darum, eine Konzeption für eine geplante Open Air-Ausstellung auf dem Alexanderplatz zu diskutieren. Die Ausstellung sollte die Revolution von 1989 würdigen. Wolfram legte eine Konzeption vor, die die These enthielt, die er immer noch vertritt: Die Revolution von 1989 war dem „Neuen Forum“ zu danken, die Mehrheit wollte eine basisdemokratische Gesellschaft und erst durch den Mauerfall und dann die Volkskammerwahlen am 18. März 1990 wurden die ursprünglichen Revolutionsideen überwölbt.

Wolfram setzte sich mit seiner Konzeption nach harten Debatten und vielen gegenseitigen Drohungen nicht durch. Er zog sich aus der Havemann-Gesellschaft zurück. Gezeigt wurde auf dem Alex eine Ausstellung, die die Revolution mit ihrer gesamten Vorgeschichte und in ihrer gesamten Breite würdigte. Über 1,5 Millionen Besucher in wenigen Monaten ließen die Ausstellung zum größten Erfolg der Havemann-Gesellschaft werden.

Die Revolution von 1989 hatten innen- und außenpolitische Gründe. Keine Revolution basiert auf einer einzigen Ursache. Das System ist ab Sommer 1989 durch zehntausende Flüchtlinge nachhaltig destabilisiert worden. Keine Revolution siegt gegen ein starkes System. Es bedurfte einer Opposition, um die Stimmung im Lande politisch zu kanalisieren – auch das bedarf jede Revolution, organisierte Gruppen, die das Konzept des Handelns in der Hand halten. Die Opposition organisierte und stellte Öffentlichkeit her. All das hatte sie in den Jahren zuvor erlernt. Nun, im Sommer und Herbst 1989 konnte sie das Erlernte ausspielen. Die Stärke der Opposition bestand darin, dass sie politisch heterogen war, dass sie viele Angebote unterbreitete, so dass fast jeder, der wollte, etwas politisch Passendes für sich fand.

Das „Neue Forum“ war enorm wichtig, gar keine Frage. Aber allein hätte es die Sammlungsbewegung, die erklärtermaßen weder ein konkretes gesellschaftspolitisches Ziel noch ein Programm noch eine realpolitische Idee aufwies, nicht geschafft. Das war im Herbst 1989 ihre Stärke und ab Januar 1990 ihre Schwäche. Und Bärbel Bohley, die Mutter der Revolution? Als sie nach der Maueröffnung diese kritisierte, zeigte sich, dass sie sich und mit ihr ein Teil des von ihr begründeten „Neuen Forums“ wieder in einer politischen Minderheitsposition befand. Sie stand für die Moral des Herbstes, nicht für realpolitische Absichten: Die Revolution entließ nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Mutter. Das „Neue Forum“ war von Anfang an ein politisch heterogenes Gebilde. Hier die Basisdemokraten, dort die Konservativen; hier diejenigen, die Parteien ablehnten, dort jene, die eine Partei anstrebten; hier die Befürworter einer schnellen deutschen Einheit, dort die Freunde einer eigenständigen DDR. Und Klaus Wolfram gehörte zu einer besonders kleinen Gruppe, die 1990 mit Gregor Gysi über eine Zusammenarbeit von PDS und „Neuen Forum“ verhandelten, mehr oder weniger Geheimverhandlungen übrigens, weil die meisten im „Neuen Forum“ solche Verhandlungen nicht sonderlich amüsiert hätte.

Die Revolution von 1989 ist von einer kleinen Minderheit politisch Engagierter „gemacht“ worden. Sämtliche Zahlen von Demonstrationsteilnehmern und Unterzeichnern von Aufrufen wurden im September und Oktober aus guten Gründen hochgejazzt. So mobilisiert man Menschen und lässt jeden Einzelnen fragen: Und was tue ich? Wenn man heute die Leute so reden hört, hat man den Eindruck, alle waren dabei. Wenn aber alle dabei waren, wo waren dann die, die dagegen waren? Wolfram glaubt, die gab es nicht, außer diese Regierung in der „Nische“. Tatsächlich war nur eine Minderheit „dabei“, wenige Hunderttausend bis Ende Oktober. Aber auch nur eine Minderheit des Regimes war noch aktivierbar, um aktiv „dagegen“ zu sein. Wie in jeder Revolution stand die absolute Mehrheit dazwischen und wartete ab.

Am Wochenende vom 4./5. November 1989 kippte das Regime praktisch: Die Grenze zur CSSR war wieder offen und jeder konnte, der wollte, von der CSSR direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Das taten dann auch ein paar Zehntausende an diesem Wochenende. Die DDR war eine andere geworden. Sogar das DDR-Fernsehen übertrug nun einfach eine sozialistische Massenkundgebung vom Berliner Alex mit nicht mehr als 200.000 Teilnehmern – mehr passen da und auf die angrenzenden Räume nämlich nicht rauf –, ohne jemanden zu fragen. Fünf Tage später fiel aus Versehen die Mauer, obwohl sie bereits offen war.

Anders als Klaus Wolfram glaubt, ist es auch jetzt nicht zu einer basisdemokratischen Massenwelle gekommen. Die Absetzung von Betriebsleitern und die Wahl neuer geschah von Mitte Dezember 1989 bis ins späte Frühjahr 1990 durchaus vereinzelt, aber eine Massenbewegung, wie von ihm behauptet, gab es nirgends. Die Revolution fand außerhalb der Betriebe statt. Und auch das Lieblingsbeispiel Bischofferode, die Kali-Kumpel von 1993 mit ihrem Hungerstreik eignet sich gerade nicht für Wolframs These: Die Kumpel wollten nicht in Wolframs Paradies leben – hier im Eichsfeld holte die CDU seit 1990 immer ihre absolut besten Ergebnisse, teilweise zwei Drittel aller Stimmen, am 18. März 1990 75 Prozent!

Die Wahlen am 18. März 1990 hatten nur eine Frage zum Gegenstand: Auf welchem Wege kommt die deutsche Einheit. Jeder zweite entschied sich für Helmut Kohls schnellsten Weg. Wolfram konstruiert eine konservative Hälfte, die Kohl wählte, und eine linke Hälfte, die sich um SPD, PDS und Bürgerbewegung versammelt hätte. Keine Ahnung wie er dazu kommt und dann auch noch behauptet, das sei die gleiche Hälfte, die heute in Thüringen links wähle. Es ist eine Behauptung, die nichts mit der Realität zu tun hat. Die PDS stand damals in einem scharfen politischen Kontrast zu SPD und Bürgerbewegungen, daraus einen politisch homogenen Block zu basteln, ist ziemlich keck.

Klaus Wolfram macht das nicht absichtslos. Denn sein eigentliche Grundthese zielt auf etwas anderes ab. Sie behauptet, der Westen habe nichts anderes als Entmündigung und Belehrung gebracht. Auch wenn das völlig überzogen ist, eigentlich müsste er von Selbstentmündigung reden. Aber auch das wäre unsinnig. Denn irgendwie müsste das Wahlergebnis vom 18. März erklärt werden. Sicher, die zum Teil dramatischen Folgen der Währungsunion konnten die meisten Menschen nicht vorhersehen, aber es war die eindeutige Wahl einer deutlichen Gesellschaftsmehrheit, genau diesen Weg zu gehen. Ihr Ziel bestand darin, die bundesdeutsche Gesellschaft, den bundesdeutschen Staat, das bundesdeutsches Gesamtsystem nachzuahmen und zwar Eins zu Eins und ohne jedes Experiment. Das war keine Hälfte der Gesellschaft, das waren mindestens 75 Prozent aller Wähler, denn die SPD wollte das grundsätzlich auch – und diese Entscheidung fiel am 18. März in der DDR. Klaus Wolfram gehörte damals zu der Viertel-Minderheit, ich übrigens auch. Er übersieht, dass das nicht eine Minderheit war, sondern zwei: eine wollte eine demokratische DDR, um auf Augenhöhe die Wiedervereinigung anzustreben in einem geeinten Europa. Eine andere Minderheit wollte die im Grunde alte DDR mit neuem Personal behalten.

Nun behauptet Wolfram aber noch: Kein (!) Ostdeutscher habe je vor oder nach 1989 Demokratie verachtet. Ich weiß nicht, wie er darauf kommt. In der DDR war man umgeben von Demokratieverächtern, überall: in der Schule, an der Universität, bei der Armee, im Betrieb, in den Medien, kein Ort, nirgends ohne Antidemokraten. Das sollte Folgen haben nach 1989: 75 Prozent wollten so schnell wie möglich in die Bundesrepublik, aber die meisten wussten nicht, wie das neue System funktioniert. Erklärt hat es ihnen auch niemand. Der Westen ging davon aus, sein System sei selbsterklärend. Die Folge ist, dass die repräsentative Demokratie im Osten einen schweren Stand hat und zwar seit 1990. Das Meckern hörte nie auf: Man könne zwar demonstrieren gehen, hört man oft, aber es ändert sich ja eh nichts. Leider haben die meisten Meckerköppe bis heute nicht begriffen, dass ein System, das jeder Kritik nachgeben würde, untergehen müsste in buchstäblicher Anarchie. Repräsentative Demokratie ist verdammt anstrengend, auch das haben viele nicht verstanden, sogar anstrengender als das Leben in einer Diktatur. Dort ist gefährlicher für jene, die sich nicht abfinden wollen mit den Vorgaben und Regeln.

Und damit wären wir bei Wolframs AfD. Nein, die Wählerinnen der AfD sind keine Protestwähler, die aus lauter Gram über den Westen der Demokratie einen Denkzettel verpassen wollen und eigentlich die besseren Demokraten sind, und nein, nicht nur fünf Prozent – wie kommt er auf diese Zahl? – folgen der AfD-Parteiführung. Längst ist erwiesen, dass die AfD genauso ein ostdeutsches wie ein westdeutsches Produkt ist. Vielleicht ist die AfD weniger ein deutsches Projekt denn ein Globalisierungsergebnis ausgerechnet auf Seiten ihrer heftigsten Gegner. Wie dem auch sei, in Sachsen, in Thüringen, in Sachsen-Anhalt haben zuletzt 75 Prozent ihrer Wähler die AfD nicht trotz, sondern wegen ihres nationalistisch-rassistisch-völkischen Programms ihre Stimme gegeben. Das hat mit Demokratie und Denkzetteln nichts mehr zu tun. Es geht um Rassismus, aber auch um Nationalismus und autoritäre Staatsstrukturen. Darüber wird in Gesamtdeutschland laut geschwiegen. Und auch hier beginnt die ostdeutsche Geschichte nicht erst 1989. Diese Geschichte reicht weit zurück. Sie wurde nicht gebrochen, weder in der DDR noch nach 1990. Rassismus, Nationalismus und Autoritarismus waren stets mehrheitsfähig, sind es heute in anderen postkommunistischen Staaten ebenfalls. Basisdemokratie noch nie. Wir brauchen neue Foren, um über unsere Zukunft und unsere Verfassung zu diskutieren. Aber wir brauchen keine gesamtgesellschaftliche Basisdemokratie. Die funktioniert nämlich nur, wenn alle freiwillig mitmachen. Das aber ist in Freiheit unmöglich zu garantieren. Die Revolution von 1989 begann als basisdemokratischer Aufbruch und war nach dem Mauerdurchbruch ihr nachdrücklichster Abgesang an basisdemokratische Phantasien. Das haben noch nicht alle verstanden.

 

 

"Die Revolution haben alle gemacht", Interview der Journalistin Jana Hensel mit Klaus Wolfram, in: Die Zeit vom 29. April 2020

Link zum Artikel bei Zeit Online (noch hinter einer Paywall)

 

 

Hintergrund: Redebeitrag von Klaus Wolfram zur Gedenkveranstaltung für Bärbel Bohley in der Akademie der Künste am 25.09.2010

Klaus Wolfram

Ich bin einer von Bärbels kommunistischen Freunden. Wir haben uns erst im stürmischen Herbst von 1989 kennengelernt, im Oktober wohl, und seit Dezember ständig zusammengearbeitet; vier Revolutionsjahre hindurch alles gemeinsam getan. Bis sie im Herbst 1993 die Arbeiter von Bischofferode im Regen stehenließ, da trennten sich unsere Wege. Ihren ging sie allein weiter, der zwei Jahre später nach Jugoslawien führte. Noch bevor sie von dort zurückkehrte, knüpften wir - anfangs per Mail - an die früheren, im Grunde unverarbeiteten Erfahrungen wieder an. Daraus wurden drei gemeinsame Nachdenkjahre, die der Krebs zu ihren letzten machte. Alles drehte sich für sie darum, die Lasten der Niederlage und die Spur der Selbstbefreiung deutlicher auseinanderzulegen.

Bärbel war zweifellos das stärkste politische Temperament in der letzten Staffel der DDR-Opposition - darin hat sie tatsächlich den Stab von Robert Havemann übernommen und bis in das erste Ziel getragen, das die Geschichte hinter dem Rücken von uns allen aufgebaut hatte. Eine Revolutionärin ohne Theorie, aber eine Revolutionärin! Und hatten die Theorien nicht so oft in die Enge, ins Leere, in den Zynismus geführt? Sie dachte nicht in Kategorien, sondern in Bildern, Gesichtern, Haltungen. Sie bezog ihre Kraft, auch ihre Führungskraft, aus sinnlichen, künstlerischen Quellen. Das machte sie öfter undurchschaubar, manchmal hart bis zur Zerstörungswut, auch unter Freunden.

„Mit der Bürgerbewegung ist etwas Neues in die Geschichte getreten.“ Das ist ein Satz von ihr, den sie festhielt und an dem sie sich festhielt. Etwas „Neues“, also ein Anfang! Die öffentliche Reflexion reicht heute nur so weit, viele Enden zu erkennen. Ende der Diktatur, Ende der Nachkriegszeit, Ende des Kalten Krieges, Ende der Arbeiterbewegung ..., ja, ja, vielleicht. Aber doch nicht das Ende der Emanzipation.

Als ihren größten Fehler betrachtete sie, 1990 eine Zeitlang die Gründung von Bündnis 90 unterstützt zu haben. Sie spürte darin eine Abtrennung von den Tausenden persönlichen Aufbrüchen im ganzen Land, die Zurückbindung der neuartigen Bewegung an die nun alte Opposition und eine vorauseilende Selbstbindung an das westdeutsche Parteiensystem, seien es auch die Grünen. Sie kämpfte dann bald dagegen an. - Derselbe weite Blickwinkel kehrt 18 Jahre später wieder, als wir über gewisse Buchprojekte in Vorbereitung auf den 20. Jahrestag von 1989 sprechen. Sie sagt dazu: „Wir waren doch nicht die Opposition; wir haben nur am richtigen Faden gezogen.“ Klar und scharf sieht sie durch die Oppositionellen hindurch, einschließlich ihrer eigenen Leistung, allein interessiert an den wirklichen Mehrheiten und an deren Ausdruckskraft.

Einmal sagte ich ihr folgenden Satz eines Freundes weiter: „1990 haben eigentlich die Unpolitischen gewonnen.“ Da ging ein Leuchten über ihr Gesicht, eine verborgene Bedrückung löste sich. Sie war regelrecht dankbar dafür, trug mir Grüße an den Absender auf. Was war so wichtig daran? Die „Unpolitischen“ sind keine Gegner, aber auch sie werden noch in Bewegung geraten, in Eigenbewegung, in Bürgerbewegung. Der Satz verknüpfte für sie ihre Vergangenheit mit einer lebbaren Zukunft. Und er erklärte etwas davon, warum das Bild der ersten Revolutionsmonate mit dem der folgenden Jahre so schlecht zusammenpaßte.

Die langjährige, erschöpfende Arbeit in Jugoslawien entsprach ihrem Bedürfnis nach Bodenhaftung. Aus der Hofbegrünung mit Irena war Wiederaufbauarbeit im zerfetzten Bürgerkriegsgelände geworden. Die hiesige Staatsschauspielerei mancher Ex-Oppositioneller konnte sie nicht mitmachen; ganz bewußt entzog sie sich im vorigen Jahr dem Dominospiel  hier unten am Brandenburger Tor. Ihre Revolutionsfeier wäre das gewesen, was derzeit in Stuttgart geschieht: Eine breite, rein sachliche, gewaltfreie Bürgerbewegung, die jenseits aller Parteien die Karten neu mischen will. Sie hatte so etwas ersehnt, sie hätte da mitgetan. -

Und wir werden hier auch noch andere Zeiten sehen.