Der Preis der Halbherzigkeit. Was für die Ukraine und den Westen auf dem Spiel steht

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

von Wolfgang Templin, DDR-Oppositioneller. Publizist und Autor

 

Begriffe können verräterisch sein. Als im Herbst 1989 die Stunde der Befreiung für ein Land des Ostblocks nach dem anderen schlug, als mit dem Fall der Berliner Mauer die DDR endgültig zusammenbrach, tauchte in Ostberlin das Wort von der Wende auf. Als ginge es um ein bloßes cleveres Manöver in Regierungskreisen, nahmen es die Einen erleichtert und die Anderen berechnend auf, bis es aus dem Mund von Egon Krenz gesprochen, irgendwann zum Unwort wurde. Ob man von einer friedlichen Revolution sprechen wollte oder nicht, es war ein Epochenbruch, der die Weichen für ein neues Europa stellte.

Mehr als drei Jahrzehnte danach, lässt ein seit dem 24. Februar tobender unmenschlicher Angriffskrieg Russlands gegen seine Nachbarn in der Ukraine, deutsche Politiker von einer Zeitenwende sprechen. Die Tatsache, dass dieser Krieg seit der Besetzung der Krim und der Installation der Besatzungsregime im Donbass und Lugansk seit acht Jahren geführt wird, dass er jetzt nur eine ganz andere Stufe erreicht hat, wird nur langsam zur Kenntnis genommen. Dass es hier um einen erneuten Epochenbruch, nur unter anderem Vorzeichen geht, dringt verzögert ins Bewusstsein vor. Die Schockstarre hält an, Erklärungen für die eigene Blindheit, das eigene Versagen, bleiben zumeist an der Oberfläche.

Die Europäische Union und Deutschland haben seit Jahrzehnten auf eine stabile Friedensordnung, den Ausgleich und die Verständigung mit Russland gesetzt, von der Möglichkeit einer strategischen Partnerschaft gesprochen. Eigene ökonomische Interessen standen dahinter. "Wandel durch Handel", schien die alte und neue Zauberformel dafür. Das Problem ist nur, dass sie nicht bei jedem Gegenüber funktioniert. Um die wirtschaftliche und energiepolitische Interessengemeinschaft mit Russland nicht zu gefährden, wurde die seit Jahrzehnten existierende unabhängige Ukraine, mit ihrem Streben hin zur Europäischen Union, ihrem Beitrittsbegehren in die Nato, immer wieder als lästiger Bittsteller angesehen, vertröstet oder abgewiesen.

Der Schock der neuen Eskalationswelle, eines unmenschlichen Annexionskrieges gegen die gesamte Ukraine, sitzt tief. Jetzt spricht man im Westen von einem Psychopathen im Kreml, der jeden Wirklichkeitsbezug verloren habe, die Mitglieder seines engsten Führungskreises vorführe und demütige. Alle dazu passenden Bilder stimmen, übersehen aber die andere Seite. Das Kalkül hinter diesem unmenschlichen Vorgehen - die gezielte Wirkung auf den Westen- wird immer noch unterschätzt. Die Widerstandskraft, der Widerstandswille der Ukrainer wird in den höchsten Tönen gelobt, doch es gibt einige Militär- und Sicherheitsexperten die den militärischen Sieg Russlands für unausweichlich halten. Für sie scheint es realistischer, die ukrainische Seite würde sich in territoriale Verluste und eine Demilitarisierung fügen.

Die Ukrainer haben ihren Schock viel schneller überwunden. Sie geben in diesen Wochen Beispiele für Widerstandswillen, Würde und Tapferkeit – für Eigenschaften ohne die Demokratien nicht überleben können. In ihrer Mehrheit schließen die Menschen in der Ukraine ein Leben als Vasallen, als Sklaven Russlands aus.

Putin und seine unmittelbaren Helfer können den Widerstand der Ukrainer nicht brechen, es sei denn man misst den militärischen Sieg an der Anzahl zerbombter und ausgelöschter Städte.

Der ukrainische Präsident Selenskyj wird in diesen Wochen zur Verkörperung des ukrainischen Widerstandswillens, nicht nur in seinen Appellen an die eigene Bevölkerung und die russischen Landsleute, sondern auch in seinen Botschaften an die Parlamente und die Gesellschaft der westlichen Welt. Es sollte kein bloßes symbolisches Pathos sein, dass er für seine Videobotschaft nach London die Worte aus der Rede Winston Churchills vor dem britischen Parlament im August 1940 wählte. Es war die gefährlichste Stunde für den Europäischen Kontinent.

An seine englischen Landsleute gerichtet, formulierte Churchill damals diese Konsequenz:

"Wir werden bis zum Ende gehen. Wir werden auf See kämpfen, wir werden in der Luft kämpfen, wir werden unser Land verteidigen, was immer es kosten mag. Wir werden in Wäldern, Feldern, an den Küsten in Städten und Dörfern, auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen".

Selenskyj fügte hinzu: "Wir werden in den Hügeln an den Ufern der Flüsse Kalmius und Dnipro kämpfen".

Genau das tun die Ukrainer seit Wochen, mit allen militärischen und zivilen Opfern, die sie es kostet. Sie hoffen, dass die damit verbundene Botschaft auf der Gegenseite ankommt.

Putin ist kein Psychopath mit totalem Wirklichkeitsverlust. Er ist ein eiskalt rationaler Politiker, der die Mentalität und die Schwächen seiner Gegenüber einschätzt und jeden seiner eigenen Schritte bis an kalkulierte Grenzen treibt. Zugleich ist er ein zutiefst aufgewühlter von imperialen Obsessionen und Komplexen getriebener Mann. Obsessionen, die ihn gegenüber der Ukraine, an das eigene Zerrbild von einer nicht vorhandenen Nation glauben lassen, an Menschen, geführt von einer fremdgesteuerten Regierung von Nazis, unfähig zur Verteidigung.

"Putin hasst uns, ohne uns zu kennen", schreibt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowitsch und warnt davor, ihm eine wirkliche Verständigung zuzutrauen. Er ist ein Mann, der keine Niederlage akzeptieren kann und der über Brücken, die ihm Wohlmeinende bauen wollen, nicht gehen wird. Er könne ja, da die Ukraine, trotz ungeheurer militärischer Übermacht der russischen Seite nicht zu besiegen sei, die Verantwortung für die immer größeren russischen Verluste, auf sich nehmen und freiwillig vom Amt zurücktreten. Damit sei er in persönlicher Sicherheit und der Weg frei für einen Nachfolger und mögliche Kompromisse. Westliche Gesprächspartner und Verhandler setzen auf eine dauerhafte Waffenruhe und Vereinbarungen, welche beiden Seiten mögliche Zugeständnisse abverlangen. Dass damit das Existenzrecht einer unabhängigen Ukraine in Frage gestellt wird, fällt unter den Tisch.

Putin wählt konsequent einen anderen Weg. Alle Gespräche und Dauertelefonate seit dem 24. Februar ließen den Bombenhagel nicht abebben, die Raketen richten sich weiter auf zivile Ziele, fordern das Leben von Frauen und Kinder. Putin setzt auf Zeit, um die eigenen Truppen zu verstärken und die Ukrainer zur Kapitulation zu bomben. Sein Drohen mit dem Atomschlag soll den Westen einschüchtern und von wirksamer Hilfe für die Ukraine abhalten.

Er wird nur dann zu einem wirklichen Kompromiss getrieben sein, der das Ende des Bombardements, den Abzug russischer Truppen bedeuten kann und die territoriale Integrität der Ukraine erhält, wenn er die volle Stärke seines westlichen Gegenübers spürt. Die Erwartungen der Ukrainer dafür liegen auf dem Tisch und könnten aufgenommen werden

Alle bereits vollzogenen ökonomischen Sanktionen gegen den Finanzsektor Russlands, lassen sich schnell komplettieren.

Einreisesperren und finanzielle Sanktionen gegen Verantwortliche für die Kriegsmaschinerie Russlands und Begünstigte unter seinen Eliten ließen sich sofort verstärken

Experten der Leopoldina und anderer Institute berechneten, dass ein sofortiger Stopp aller russischen fossiler Energielieferungen, ein totales Embargo möglich sei, dass das einschneidende aber zu verkraftende Konsequenzen für die deutsche und die europäische Seite bedeutet, die aber solidarisch aufgefangen werden könnten.

  • Wenn die Forderung der Ukraine nach der Einrichtung einer Flugverbotszone, von NATO und Deutschland gleichermaßen abgewehrt wird, könnte ein internes Ultimatum, mit den Vorbereitungen dafür zu beginnen, wenn nicht binnen kürzester Zeit die Bombardements eingestellt werden, seine Wirkung zeigen.
  • Der internationale Gerichtshof in Den Haag und der internationale Strafgerichtshof setzen sich intensiv mit russischen Kriegsverbrechen auseinander. Ihre Recherchen, die Erfassung aller Kriegsverbrechen und die Vorbereitung der Anklagen, müsste durch die schnelle Ausweitung aller dafür benötigten Kapazitäten unterstützt werden.
  • Da die mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine in weite Ferne rückt, kann und muss dem Land nach dem russischen Bruch des Budapester Memorandums 2014 eine erneute Sicherheitsgarantie gegeben werden.

Jedes Hoffen auf eine längerfristige Wirkung der bisherigen Sanktionen, ein Wirken des Energie-Teilembargos und der bisherigen Waffenlieferungen, hat eine Zeit vor sich, nach der die Städte und Orte der Ukraine in Schutt und Asche liegen könnten. Auch dann wird das Land, werden seine Menschen nicht besiegt sein, nicht aufgeben. Sie zahlen aber dann einen grauenhaften Preis für das Zögern des Westens, für seine Unentschlossenheit. Tage und Wochen weiteren Zauderns, halbherziger Schritte und Entscheidungen, werden aus einem Versagen eine historische Schande machen. Ebenso ein Waffenstillstand und Friedenschluss, welcher der Ukraine unerfüllbare Bedingungen aufzuzwingen sucht.

Die Geschichte hält dafür Beispiele bereit. Das Münchner Abkommen 1938 sollte einen großen Krieg verhindern. Neville Chamberlain als britischer Verhandlungsführer sah sich als Friedensbringer und setzte auf die Beteuerungen und Versprechen Adolf Hitlers. Statt den Frieden zu bringen öffnete das Abkommen, öffnete diese Zaudern der Westmächte, die Tore für den zweiten Weltkrieg.

 

Der Text erschien bereits am 30. März 2022 bei Forum Dialog. Perspektiven aus der Mitte Europas: forumdialog.eu/2022/03/30/der-preis-der-halbherzigkeit-was-fuer-die-ukraine-und-den-westen-auf-dem-spiel-steht/