Die OPK "Jazz" in Wurzen

Gerold Hildebrand rezensiert "Jazzklub 725 – Der Jazzklub Wurzen 1978-1985" von Michael Kupzok und Beate Fahrnländer

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dietrich Bahß/RHG_Fo_DiBahß_2295

Etwa 60 Jazzclubs  in der zu Ende gehenden sogenannten "DDR" hat der Weimarer Musikwissenschaftler Martin Breternitz gezählt. Die Erfahrungen waren unterschiedlich, aber es ging nie ohne Reibung ab.

Dennoch war es schon eine Lockerung gegenüber den 50er Jahren. Da nannte Walter Ulbricht den Jazz "Affenmusik" (Okay, meine liebe Oma auch später noch).

"Die 50er Jahre", erzählte Karlheinz Drechsel im Tagesspiegel, "wurden eine ganz harte Zeit. 'Ami-Titel' und englische Texte waren auf dem Staatsgebiet der DDR jetzt unerwünscht, der Rundfunk wurde musikalisch gesäubert." https://www.tagesspiegel.de/berlin/der-mann-der-der-ddr-den-jazz-erklarte-7689652.html

Bei Siegfried Schmidt-Joos ("Die Stasi swingt nicht") las ich von den heftigen Auseinandersetzungen Mitte der 50er Jahre, da war ich gerade erst geboren.

Der als Marxismus-Leninismus-Dozent gestartete Jazzorganisator Reginald Rudorf, teilweise auch als GMS (damalige Bezeichnung für IM) unterwegs (auch Robert Havemann hatte dazumal noch nicht die Seiten gewechselt, Lernprozesse sind nie ausgeschlossen) wurde 1956 in den Leipziger Kirow-Werken anlässlich seines Jazzvortrags von Stasi/Kampfgruppen-Bütteln zusammengeschlagen und kam schließlich in Haft. Danach floh er in den Westen und schwor sich: "Nie wieder links". https://www.amazon.de/Nie-wieder-links-Reginald-Rudorf/dp/3550065914

Über die späte Jazzszene unter den Bedingungen der kommunistischen Herrschaft hatte schon Rainer Bratfisch geschrieben ("Freie Töne"). Zum Jazz-Mekka Peitz gibt es sogar schon zwei von Ulli Blobel initiierte Bücher ("Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz")
https://web.archive.org/web/20130817081843/http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2010-2011/heft-73/rezblobel/ 

Mit der Graphic Novel "Jazzklub 725 – Der Jazzklub Wurzen 1978-1985" ist dem Autorenduo Michael Kupzok / Beate Fahrnländer nun mit viel Witz ein wichtiges Stück lokaler aber für den SED-Staat gleichwohl archetypischer Jugendkulturgeschichte darzustellen gelungen - abseits der drei großen Oppositions-Metropolen Jena, Leipzig, Ostberlin: Erinnerungen an einen erfolgreichen, aber bald verbotenen Jazzclub in Wurzen.

Wer nicht weiß, wo Wurzen liegt - es ist im Internet leicht zu finden.

Natürlich fand hier kein Ringelpiez mit Anfassen statt. Irgendwie war es aber dennoch auch Schwof. Ganz jugendgemäß wurde gefeiert, lagen sich Besucher mit Besucherinnen in den Armen.

Auch wenn sie vielleicht lieber die Rolling Stones im Open Air gehört hätten. 

Der kürzlich verstorbene Großmeister freier Jazztöne in der DDR, Saxophonist Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky (übrigens auch im Buch verewigt) äußerte treffend: "Da kamen Leute, um die uns, was die Zahl des Publikums betraf, die West-Musikerkollegen beneideten. Wir hatten ein riesiges Publikum, das uns teilweise, als wären wir Popstars, nachgereist ist. Aber die wollten nur die Atmosphäre genießen, die sozusagen körperlich war, die dort herrschte und die mit dem furztrockenen System der DDR-Politprominenz überhaupt nichts zu tun hatte und etwas Besonderes war. Die Musik haben sie nicht gespürt, aber die Atmosphäre von Aufbruch, um nicht zu sagen Aufbegehren." https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/nachruf-ernst-ludwig-luten-petrowsky-jazz-saxophonist-gestorben-100.html

Nunja, verstanden haben wird manch Jugendlicher den dargebotenen Jazz auf seine Weise. Gespürt ohnehin. Sonst wären sie gleich weggeblieben. 

Und sie nahmen Strapazen auf sich. Ständige Kontrollen von VoPos und TraPos: "Weisen Sie sich aus!" ("Ich mich selber?") 

Die Jazzclubmacher waren noch anderen Zumutungen ausgesetzt. Angefangen von den Aufpassern von der FDJ, die es in fast allen Jazzclubs gab, ob in Jena oder Ostberlin, und die zum Teil auch IM waren, Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi (wie in Treptow "Barry" oder in Jena der Dietmar, der sich den schönen Decknamen "Hesse" ausgesucht hatte). 

Hinzu kamen die Kulturkommunisten, die den Finger auf der Genehmigungstaste hielten. Die oberste SED-Kulturfunktionärin in Wurzen ließ zum Beispiel Ulli Gumpert auflaufen: "Sind Sie überhaupt Musiker?" Erst als Gumpert ein Stück von Bach vortrug, war sie einigermaßen ruhig gestellt. Solcherlei Anekdoten aus den Zeiten der SED-Herrschaft finden sich an mehreren Stellen im Buch. 

Es gab aber auch schon Vernetzungen und Unterstützung innerhalb der Jazz-Szene. So wird im Buch berichtet, dass Ulrich Blobel (der "Jazz-Papst der DDR" aus Peitz) den Jazzklub finanziell unterstützte, indem er als Vermittler die Musiker-Verträge moderat gestaltete.

Als der Merseburger Domorganist Hans-Günther Wauer logischerweise im Wurzener Dom mit Baby Sommer auftreten musste, schimpften die örtlichen Kulturfunktionäre gar sehr.

Dennoch gelang es den ideenreichen Jazzclub-Betreibern, zwei weitere Konzerte im ortsansässigen Dom zu veranstalten. 1983 sogar mit dem Quartett John Tchicai (Dänemark), Wauer, Petrowsky, Hübner. 

Als dann aber auch noch Veranstaltungen mit Erich Loest und Bettina Wegner hinzukamen waren die Tage des Jazzklub 725 gezählt. Ordner der FDJ schlugen zu, Ausreiseantragsteller sollten ausgegrenzt werden, Musikerverträge wurden verzögert und der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" wurde endgültig verboten. Am Ende ging es auch noch um die Nationalhymne, die damals nur bundesdeutsche. Aus. Ende. Sofortiges Hausverbot. So waren sie, die Stützen des sozialistischen Systems. Die Wurzener Stasi-Genossen übergaben nun an Leipzig: Auftrag erfüllt. 

Die Unangepassten aber blieben sich treu: "An staatlichen DDR-Feiertagen und Wahltagen nahmen wir physisch und psychisch nicht teil!"

Der damalige Clubchef und jetzige Autor Michael "Mitch" Kupzok wurde von dreizehn IM überwacht. Die Stasi schnüffelte in den Briefen rum (und tauchte durchs Aquarium, okay, das steht jetzt hier nur wegen des Reims, es war leider nicht so lustig) - noch bis Oktober 1989 führte sie gegen ihn die Operative Personenkontrolle (OPK) "Jazz". Die List mit der Schwarzkasse aber hat die Stasi anscheinend nicht gerafft.

Neben all dem wird im Buch aber auch die Jugend-Erlebniswelt geschildert mit Fußball, gemeinsamen Reisen, in Kneipen und in der Natur. Fast genauso wie das damals in Jena war, was jüngst Peter Wensierski beschrieben hat. https://www.havemann-gesellschaft.de/beitraege/freiheit-und-selbstbestimmung/ 

Tja, und wer war nun der Inspirator von alldem, die BBUs, die "Bösen Bonner Ultras" im Westen? Nee, es war der böse Osten, die Jazz Jamboree in Warschau. 

Das alles ist in der schön bebilderten Graphic Novel sehr nachvollziehbar dargestellt. Originale Fotos, Briefe, Plakate, Zeitungsberichte und Stasi-Dokumente wechseln sich ab mit den kreativen Comic-Zeichnungen von Beate Fahrnländer, die den Erzählstrang realitätsnah bebildern. Unterstützt wurde das Buchprojekt von Christoph Stamm, wissenschaftlicher Archivar im Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft.

 

Wäre doch was für die Bundeszentrale für politische Bildung. Das Schlusswort von Ken Kupzok dürfte sehr in ihrem Sinne sein. Allemal authentischer als Hoyer. 

Auch der in Berlin-Treptow gegründete "Jazzkeller 69" wollte seine Geschichte publizieren. Ihm wurden allerdings die für die Tiefenrecherche nötigen Fördermittel versagt. Muss ja nicht so bleiben.

 

Michael Kupzok / Beate Fahrnländer: „Jazzklub 725 – Der Jazzklub Wurzen 1978-1985“. Graphic Novel. Achtner Media Verlag, Leipzig 2022. 50 Seiten. 12,50 €.

https://www.gemeinde-blatt.com/product-page/jazzklub-725

 

 

Porträt Gerold Hildebrand. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

Gerold „Hilli“ Hildebrand

geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek oder dem Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.