Expertise der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler und des Historikers Dr. Ilko Sascha-Kowalczuk zur Stasi-Vergangenheit des Berliner Verlegers Holger Friedrich

Haus des Berliner Verlages, in dem der Berliner Verlag bis 2017 seinen Sitz hatte. Heute hat die Verlagsgruppe ihren Sitz im Feratti-Gebäude in der Alten Jakobstraße. © Lizenz „Freie Kunst“, Fotograf: Wladyslaw Sojka, www.sojka.photo

Im November wurde bekannt, dass der neue Eigentümer des Medienhauses Berliner Verlag, Holger Friedrich, zeitweise als Inoffizieller Mitarbeiter beim Ministerium für Staatssicherheit tätig war. Friedrich habe von 1987 bis 1989 unter dem Decknamen „Holger Bernstein“ dem MfS belastende Informationen über ihm nahestehende Personen geliefert. Neben der journalistischen Aufarbeitung durch die Redaktionen der beiden Tageszeitungen des Verlags, „Berliner Zeitung“ und „Berliner Kurier“, standen dem Verlag zur Einschätzung der Aktenlage die frühere Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler, und der Historiker Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk beratend zur Seite. In einer 25-seitigen Expertise geben sie nun ihre Einschätzung zur Stasi-Tätigkeit von Holger Friedrich. Angesichts des überregionalen Interesses und im Sinne der Transparenz haben die Autoren die Robert-Havemann-Gesellschaft gebeten, ihre Einschätzung auch auf ihrer Website zu veröffentlichen. Im Folgenden dokumentieren wir die gesamte Expertise.

Aktenlage. Die Überlieferung von Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu Holger Friedrich (geb. 22. September 1966 in Berlin) (pdf)


Berlin, den 10. Dezember 2019

Herrn Jochen Arntz

Chefredakteur der Berliner Zeitung

Herr Elmar Jehn

Chefredakteur Berliner Kurier

 

Sehr geehrter Herr Arntz,

sehr geehrter Herr Jehn,

Gern waren wir auf Ihre Bitte hin bereit, die „Berliner Zeitung“ und den „Berliner Kurier“ dabei zu unterstützen, die Kontakte des Verlegers Holger Friedrich zum „Ministerium für Staatssicherheit“ (MfS) auf der Grundlage der uns zur Verfügung gestellten Unterlagen zu analysieren. Damit, dass wir dies unentgeltlich und ohne Vertrag getan haben, zuvor nie Kontakt zu Herrn Friedrich hatten und außer als gelegentliche Leser Ihrer Zeitungen auch in keiner sonstigen Beziehung zum Berliner Verlag stehen, waren die Voraussetzungen für eine unabhängige Expertise gegeben. Zudem gab es zwischen Ihnen und uns keinerlei einschränkende Absprachen.

Die zweite Voraussetzung war, dass wir uneingeschränkten Zugang zu jenen Unterlagen erhalten, die Sie als Redaktion und Herr Friedrich als Antragsteller auf persönliche Akteneinsicht vom BStU zur Einsicht vorgelegt bekamen. Dies war wichtig, weil erst die vollständige Sichtung dieser Unterlagen eine angemessene Beurteilung erlaubt. Diese Akteneinsicht ist erfolgt. In der Anlage übermitteln wir Ihnen unsere Analyse. Der Umfang der Expertise ist dem Bemühen geschuldet, einen komplizierten Sachverhalt so zu beschreiben, dass auch Nicht-Fachleute ihn verstehen können. Außerdem haben wir in der Vergangenheit viel zu oft erfahren müssen, dass verkürzte Darstellungen zu pauschalen und vorschnellen Verurteilungen bzw. Entlastungen führen.

Absichtlich haben wir darauf verzichtet, den sich aus den Unterlagen ergebenden Befund politisch oder moralisch zu bewerten und ihm damit quasi ein Etikett zu verpassen. Alle, die sich die Mühe machen, werden auf der Grundlage der vorliegenden Erläuterungen zu ihren eigenen Einschätzungen kommen. Diese werden wahrscheinlich unterschiedlich ausfallen: Wie in anderen Fällen spielt hier nicht nur die Aktenlage eine Rolle, sondern auch Grundhaltungen zum Thema DDR-Aufarbeitung und die Frage des Umgangs mit der Angelegenheit in den zurückliegenden drei Jahrzehnten.

Wir möchten abschließend unseren Respekt gegenüber den Redaktionen zum Ausdruck bringen, die in einer schwierigen Situation versucht haben, trotz bestehender Abhängigkeitsverhältnisse so unabhängig wie irgend möglich vorzugehen und vor allem den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Angesichts des überregionalen Interesses, um der Transparenz willen und schließlich auch, um letzte Zweifel auszuräumen, dass die Redaktionen der „Berliner Zeitung“ und des „Berliner Kuriers“ mit der Veröffentlichung interessengeleitete Ziele verfolgen oder nur Ausschnitte publizieren könnten, haben wir die Robert-Havemann-Gesellschaft gebeten, diesen Brief und die Anlage zeitgleich auf ihrer Website (http://www.havemanngesellschaft.de/Aktuelles) zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen

Marianne Birthler 

Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk

Aktenlage. Die Überlieferung von Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu Holger Friedrich (geb. 22. September 1966 in Berlin)

Der quantitative Umfang der Akten

Am 18. November 2019 haben wir von der Redaktion der „Berliner Zeitung“ zur Begutachtung 80 Kopien aus den zwei überlieferten Bänden des archivierten Vorgangs zum Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) „Peter Bernstein“ erhalten (Signatur: BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, und: BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1). Am 29. November 2019 konnte Holger Friedrich in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) die ihn betreffenden Akten einsehen. Am 3. Dezember 2019 stellte er uns zur Begutachtung sämtliche an ihn herausgegebene Unterlagen des MfS zur Verfügung. Im Einzelnen handelte sich um:

1) 10 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, HA VIII 2727;

2) 35 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, HA VIII 2882;

3) 59 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1;

4) 23 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1;

5) 250 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1;

6) 295 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2; 3

7) 42 Kopien aus der Akte: BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 3

sowie

8) 24 Kopien von Karteikarten u. ä. aus den MfS-Beständen beim BStU.

Insgesamt lagen 738 Kopien aus drei Signaturen (7 Bände) und einigen MfS-Speichern zur Begutachtung vor. Gemäß dem „Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (StUG) vom 20 Dezember 1991 in der Fassung vom 15. November 2019 erfolgte, sofern die Angaben Dritte betrafen, die Herausgabe der Kopien anonymisiert bzw. gar nicht. So erklärt sich die Diskrepanz zwischen tatsächlichem Umfang der Akten und uns vorliegenden Kopien. Im Einzelnen umfassen die Akten

1) BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1 insgesamt 107 paginierte Blätter, von denen uns 59 vorlagen;

2) BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1 insgesamt 23 paginierte Blätter, von denen uns 23 vorlagen;

3) BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1 insgesamt 354 paginierte Blätter, von denen uns 250 vorlagen;

4) BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2 insgesamt 386 paginierte Blätter, von denen uns 295 vorlagen;
5) BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 3 insgesamt 58 paginierte Blätter, von denen uns 42 vorlagen.

Inwiefern uns alle in den Archiven des BStU vorhandenen und überlieferten Karteikarten zu Holger Friedrich zur Verfügung standen, lässt sich aufgrund des komplizierten MfS-Überlieferungszustandes nicht mit letzter Bestimmtheit sagen. Die in den beiden Akten „BStU, MfS, HA VIII 2727“ sowie „BStU, MfS, HA VIII 2882“ vereinten Unterlagen sind nach 1990 von den Mitarbeiter*innen des BStU aus den früheren Handbeständen der zuständigen MfS-Mitarbeiter so genannten Sachakten zugeordnet worden. Diese Unterlagen sind meistens im Zuge der Auflösung des MfS gesichert und dann nach Archivgrundsätzen geordnet worden. Ebenso ist der Band „BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 3“ kein in dieser Zusammenstellung originaler MfS-Aktenband. Auch dieser ist den beiden vom MfS noch archivierten Bänden „BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1“ und „BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2“ als Band 3 beigefügt worden, da er offenkundig zum Vorgang hinzugezählt werden kann. Die Überlieferung von einem Vorgang „Inoffizieller Mitarbeiter“ und einem „Operativen Vorgang“ zu Holger Friedrich mit den dazugehörigen Kartei- und Suchmitteln des MfS sowie der Überlieferung zusätzlicher bzw. doppelter Dokumente in zwei dezentralen Vorgängen (Sachakten) ist vor allem dem Umstand zu verdanken, dass diese Vorgänge noch 1989 abgeschlossen und archiviert worden sind. D.h. diese Vorgänge sind im Archiv des MfS (Abt. XII) abgelegt worden. Als das MfS ab November 1989 begann, neben schon lange vor dem Herbst 1989 geplanten Aktenreduzierungen Kassationsverfahren, wie sie in allen Bürokratien üblich sind) ungeplante und „wilde“ Aktenvernichtungen durchzuführen, um möglichst viele Spuren zu verwischen, konzentrierten sich diese Aktenvernichtungen vor allem auf offene Vorgänge, d.h. auf Unterlagen, die noch nicht in den Archiven abgelegt worden waren. Infolgedessen gibt es dort, also in der (Archiv-)Abteilung XII des MfS, die geringsten Aktenverluste. Die Unterlagen zu Holger Friedrich sind also vermutlich nur deshalb überliefert, weil sie bereits archiviert worden waren.

Eine notwendige methodische Vorbemerkung

Bevor nachfolgend die überlieferten MfS-Unterlagen zu Holger Friedrich vorgestellt und analysiert werden, sei auf einen Umstand hingewiesen, der sich simpel anhört, der aber bei der Bewertung von historischen Archivunterlagen zu beachten ist, gerade auch bei MfS-Unterlagen: Diese Unterlagen sind nicht mit dem Wissen angelegt worden, dass sie einmal für die historische Forschung oder politische Aufarbeitung des SED-Regimes genutzt werden würden. Innerhalb des MfS gab es sehr klare Regeln, wie solche Vorgänge geführt, welche Formblätter wofür und wann genutzt werden müssen, wie die Vorgänge durch die dienstlichen Vorgesetzten zu kontrollieren oder in welchen Zeiträumen welche Aufgaben zu erledigen seien. Das MfS orientierte schon frühzeitig darauf, solche Vorgänge zu „objektivieren“, wie es oft in den Vorgängen selbst oder in den Arbeitsaufträgen an die MfS-Mitarbeiter hieß. Jede Akte war danach so zu führen, dass sie jederzeit von einem anderen Mitarbeiter übernommen und ohne große Zeitverluste weitergeführt werden könne. Gleichwohl enthalten auch MfS-Unterlagen subjektive Einschätzungen und Eigenwilligkeiten in der Aktenführung. Vieles in solchen Vorgängen betrifft außerdem dritte Personen (daher auch die oben erwähnte Diskrepanz zwischen uns zur Verfügung gestellten Kopien und dem tatsächlichen Aktenumfang). Ein erheblicher Teil besteht aus MfS-internen Analysen, Dokumenten, Arbeitsaufträgen usw. Anstelle unmittelbarer finden sich oft nur indirekte Informationen: Zum Beispiel wurden abgehörte Telefongespräche nur selten abgeschrieben, meist finden sich „nur“ Zusammenfassungen solcher Telefonate in den Vorgängen. Diese können in erheblichem Maße vom tatsächlichen Inhalt des Gesprächs abweichen. Auch viele IM-Berichte sind zum Beispiel von einem Führungsoffizier geschrieben und nach Tonbandaufzeichnungen zusammengefasst worden.

IM- oder OV-Vorgänge stellten immer auch einen Arbeitsnachweis der damit befassten MfS-Offiziere dar, der innerhalb ihrer Institution (MfS) und ihren Dienstvorgesetzten gegenüber dokumentieren sollte, wie sie ihrer Arbeit nachgekommen und ihre Aufgaben erledigt hatten. Mit anderen Worten: Viele Bewertungen durch die MfS-Mitarbeiter hatten einen Adressaten, nämlich den jeweiligen Dienstvorgesetzten. Dieser kontrollierte permanent die Arbeit seiner Untergebenen und prüfte – auch im Vergleich mit anderen Unterlagen – die Angemessenheit und Zielstrebigkeit des Vorgehens seiner Untergebenen auch anhand der Akteninhalte. Aber auch diese Kontrollen unterlagen Beschränkungen: aus vielerlei praktischen Gründen, vor allem aber auch, weil die politisch-ideologische Einschätzung durch die MfS-Mitarbeiter die vermuteten Erwartungen der Vorgesetzten vorwegnahm. Nicht selten stand da also eher, was diese womöglich gern hörten und lasen, als die realen Ermittlungsergebnisse. Mit nochmals anderen Worten: Wie bei jeder geschichtswissenschaftlichen Untersuchung verlangen auch die MfS-Akten Quellenkritik, denn niemand sollte davon ausgehen, in den Akten die reine Wahrheit zu finden. Genauso wenig aber wird in solchen Akten geschwindelt oder gelogen, einmal abgesehen von extremen Ausnahmefällen, die das MfS zumeist selbst fast immer durch das dichte Kontrollsystem ermittelte und hart ahndete. Die MfS-Mitarbeiter waren also angehalten und überwiegend bestrebt, „objektive Wahrheiten“ niederzuschreiben. Allerdings war dies in der Realität kaum möglich, da sie in ihren Analysen zugleich die politischideologischen Grundsätze des SED-Staates und die der SED-Sicherheitsdoktrin aktiv zu berücksichtigen hatten.

Der Operative Vorgang „Habicht“ (BStU, MfS, AOP 2051/88)

In den Unterlagen des MfS gibt es einen ersten Hinweis auf Holger Friedrich, als der sechzehnjährige Berliner am 29. Juni 1983 in der Ungarischen Volksrepublik bei einem „Aufenthalt im Grenzgebiet“ (VSH-Karteikarte der Abt. X, 30.6.83) registriert worden ist. Die Abteilung X, die das in ihren Speichern vermerkte, war für die internationalen Beziehungen des MfS, insbesondere für die Zusammenarbeit mit den Geheimpolizeien in den anderen kommunistischen Ländern zuständig. Vermutlich ist Friedrich im Sperrgebiet zur österreichischen Grenze von ungarischen Organen festgestellt worden. Das ist vielen jungen Menschen aus der DDR in der CSSR, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien passiert. Für DDR-Bürger existierte eine durch zwischenstaatliche Abkommen geregelte erweiterte Sperrzone an den Außengrenzen der Warschauer-Pakt-Staaten. Da es keine weiteren Unterlagen über dieses Vorkommnis gibt, kann davon ausgegangen werden, dass Friedrich lediglich das Grenzgebiet zu verlassen hatte und die ungarischen Grenzer und das MfS keine ernsthaften Fluchtabsichten vermuteten. Wahrscheinlich ist das MfS nur von den Ungarn informiert worden und wurde selbst nicht aktiv.

Friedrich beendete 1983 die Polytechnische Oberschule (POS) und erlernte anschließend bis 1985 den Beruf eines Maschinen- und Anlagenmonteurs. Bis zu seiner Einberufung zur Nationalen Volksarmee (NVA) am 2. November 1986 arbeitete er in der Arbeitsorganisation seines ursprünglichen Ausbildungsbetriebes VEB Kühlautomat. Dafür hatte er eine Zusatzqualifikation erworben. 1986 trat er der SED bei. In späteren MfS-Einschätzungen erscheint Friedrich dennoch nur bedingt anpassungsbereit. So trampte er nach Ungarn, ohne Urlaub bewilligt bekommen zu haben. Mehrfach kam es zu Auseinandersetzungen auf seiner Arbeitsstelle, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Sein Eintritt in die SED und seine Verpflichtung, drei Jahre als Unteroffizier zur NVA zu gehen, widersprechen allerdings dem vom MfS gezeichneten Persönlichkeitsbild. Über die SED-Mitgliedschaft ist aus den Akten lediglich zu erfahren, dass er sich nicht aktiv am Parteileben beteiligte und durch nichtparteiliche Ansichten und schwankende Haltungen auffiel. Warum er sich drei Jahre für die NVA verpflichtete, geht nicht eindeutig aus den Unterlagen hervor. Möglicherweise folgten beide Entscheidungen der Annahme, ohne eine SED-Mitgliedschaft und ohne Verpflichtung für einen längeren Wehrdienst könnten Karriereabsichten und Zukunftspläne nicht umsetzbar sein. Viele junge Männer und Frauen in der DDR dachten in den späten 1980er Jahren noch so - auch wenn sie vom System längst nicht mehr überzeugt waren. Inwiefern dies auf Holger Friedrich zutraf, lässt sich aus den überlieferten Unterlagen nicht rekonstruieren.

Das nächste Dokument vom MfS, das sich auf Friedrich bezieht, stammt vom 22. April 1987, da war er schon fast ein halbes Jahr bei der NVA. Ein Dienstvorgesetzter war am 19. April 1987 darüber informiert worden, dass sich Friedrich „unerlaubt vom Standort entfernt“ habe. Um die möglichen Aufenthaltsadressen festzustellen, war Friedrichs Schrank in der Kaserne geöffnet worden. „Dabei wurden durch mich persönlich mehrere Briefe und Adressen festgestellt, welche ich an mich nahm und durcharbeitete. Aus den Briefen geht hervor, daß Friedrich eine politisch negative Einstellung zur NVA sowie zur DDR insgesamt besitzt und sich selbst mit dem Gedanken des ungesetzlichen Verlassens der DDR nach Westberlin trägt.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 16) Außerdem fiel durch diese Schrankkontrolle ein mit Friedrich befreundeter Unteroffizier in einer anderen Einheit an einem anderen Standort auf, mit dem Friedrich einen engen Briefkontakt pflegte. Diesem wurden in der Folge ähnliche Vorwürfe gemacht (Fluchtabsichten und politisch-negative Einstellungen), und wie Friedrich wurde er vom MfS entsprechend bearbeitet. Die „unerlaubte Entfernung“ endete damit, dass Friedrich am 19. April 1987 in Berlin von einem Berufsunteroffizier aufgespürt, „gestellt und zur Dienststelle zurückgeführt“ wurde.

Der Dienstvorgesetzte von Friedrich war als IMK/S „Bernd“ für das MfS verpflichtet. Innerhalb des MfS war für die Bearbeitung der NVA und der Grenztruppen die Hauptabteilung I (HA I) zuständig. 1989 verfügte die HA I über rund 2300 Mitarbeiter, mit denen die NVA und die Grenztruppen überwacht und kontrolliert wurden. Innerhalb der Armee war die HA I als „Verwaltung 2000“ bekannt. Praktisch jedem Armeeangehörigen, auch den Soldaten und Unteroffizieren im Pflichtwehrdienst, war die Existenz dieser „Verbindungsoffiziere“ als „2000er“ bekannt. Oft wussten sie auch, wo diese im Standort ihre Büros hatten. Die HA I verfügte Ende 1988 über 12.509 IM, über 2820 IMK sowie 6832 GMS. „IM“ waren Inoffizielle Mitarbeiter. „IMK“ waren Inoffizielle Mitarbeiter „zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens“, die nur selten Berichte lieferten. „GMS“ waren „Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit“, deren staatsloyale und überzeugte Haltung und Einstellung allgemein bekannt war; fast alle GMS waren SEDMitglieder. Sie sollten die Arbeit der IM und der hauptamtlichen Mitarbeiter entlasten, sie arbeiteten zumeist offen in ihrer dienstlichen Position und konspirativ als GMS mit dem MfS zusammen. IMK/S „Bernd“ war ein Inoffizieller Mitarbeiter, der die konspirative Tätigkeit des MfS absicherte. Sein konkreter Aufgabenbereich als NVA-Angehöriger (wahrscheinlich der Kompaniefeldwebel/„Spieß“, der zum Beispiel Schrankkontrollen durchführte) machte ihn generell für das MfS interessant, da er mit vielen sicherheitsrelevanten Aspekten in Berührung kam.

Das MfS war innerhalb der NVA, den Grenztruppen sowie im Ministerium des Innern (MdI), die als besonders schützenswerte Einrichtungen galten, überproportional vertreten. Hier war das Netz von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern sehr dicht. In der NVA war etwa jeder 13. Angehörige IM/GMS des MfS. Mehr als zehn Prozent aller IM und fast zwanzig Prozent aller GMS des gesamten MfS arbeiteten Ende der 1980er Jahre innerhalb der NVA. Hier gab es zugleich die höchste Fluktuation aufgrund der ständigen Wechsel im Grundwehrdienst (1,5 Jahre) und bei den Unteroffizieren auf Zeit (drei Jahre).

In den Kasernen hatte das MfS in den Augen vieler Wehrpflichtiger eine andere Bedeutung als außerhalb der Armee. Der Experte für die HA I, Stephan Wolf, schreibt dazu in seinem Beitrag zum MfS-Handbuch, dass sich der MfS-Offizier in den NVA-Objekten uniformiert bewegte und so für den Wehrpflichtigen in dessen Offiziersfunktion erkannt worden sei. Eine Zusammenarbeit mit ihm erschien daher vielen „als Befehl, dem er sich nur schwer entziehen konnte, wollte er nicht eine Befehlsverweigerung riskieren. Die Operativen Mitarbeiter (des MfS) ihrerseits nutzten diese Zwangssituation aus.“ (Stephan Wolf: Hauptabteilung I: NVA und Grenztruppen. MfS-Handbuch, Teil III/13, 2. Aufl., Berlin 2005, S. 44) Der bundesdeutsche Gesetzgeber berücksichtigte später diese besondere Druck- und Zwangssituation und fügte 1996 in das StUG ein, dass eine MfS-Tätigkeit während des Grundwehrdienstes dann als nicht mitteilens- und herausgebenswert an Dritte (auf Anfrage öffentlicher wie nicht-öffentlicher Stellen) anzusehen ist, wenn „keine personenbezogenen Informationen geliefert worden sind und die Tätigkeit nach Ablauf des Dienstes nicht fortgesetzt worden ist“ (StUG § 19, Abs. 8).

Der Grundwehrdienst und der dreijährige Unteroffizierdienst gehörten in der DDR wie die vormilitärische Ausbildung und der schulische Wehrkundeunterricht zum politischideologischen System. Dieses verfolgte das Ziel, insbesondere junge Männer ihrer Individualität zu berauben und für das kollektivistische System dienstbar zu machen. Hunderttausende junge Männer erlebten die NVA als Institution, in der sie politisch genormt werden und ins System gepresst werden sollten. Insofern zeigte sich hier für viele junge Männer, die sonst mit dem Regime politisch nicht in Konflikt gerieten, die SED-Diktatur in ihrer offensten und gewalttätigsten Form. Hier agierte das MfS auch offen als Teil dieses Systems, war anders wahrnehmbar und weniger verdeckt als im zivilen Leben. Wie Wolf feststellt, erschien vielen jungen Wehrpflichtigen das MfS innerhalb der NVA als logischer und systemimmanenter Teil, dem man sich aufgrund der Befehlslage schwerer entziehen konnte – obwohl dieser Zusammenhang zumindest theoretisch nicht existierte.

Die Meldung von IMK/S „Bernd“ nach der erfolgten Schrankkontrolle über die aufgefundenen Briefe von Holger Friedrich an das MfS stand also im Zusammenhang mit der inoffiziellen MfS-Mitarbeit dieses NVA-Angehörigen. Zugleich aber ist sie ein Beispiel dafür, wie das MfS innerhalb der NVA fast flächendeckend arbeitete. Am 22. April 1987 verfasste die zuständige Unterabteilung der HA I, der Verbindungsoffizier im Objekt, eine „Operative Erstinformation“ über die Funde in Friedrichs Spind. „Aus den 8 vorliegenden inoffiziellen Informationen und gesicherten Beweismitteln gehen Hinweise auf eine Fluchtwilligkeit des Uffz.-Schülers Friedrich hervor. Kurzfristig sind·die Aktivitäten und Handlungen zur Durchführung eines möglichen ungesetzlichen Verlassens der DDR herauszuarbeiten“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 31). Der zuständige MfS-Offizier bestätigte, dass gegen Holger Friedrich nach Strafgesetzbuch (StGB) § 254 zu ermitteln sei. Dieser Paragraph bestimmte, dass Fahnenflucht im besonders schweren Fall mit bis zu zehn Jahren bestraft werden könne. Der Verdacht auf einen besonders schweren Fall war bei Friedrich in den Augen der MfS-Offiziere gegeben, da das „Fluchtverbrechen mit spektakulären Mitteln und Methoden“ begangen werden könnte (ebd.).

In einem nur wenige Tage später erarbeiteten Papier teilte der zuständige MfS-Mitarbeiter mit, dass Friedrich „eine ablehnende bzw. pol(itisch)-neg(ative) Haltung und Einstellung zu Teilbereichen der soz(ialistischen) Gesellschaft in der DDR sowie zum Wehrdienst in der NVA besitzt“, er sich auch mit Fluchtabsichten aus der DDR befasse, aber ob er auch eine Fahnenflucht in Betracht ziehe, sei nicht belegt, auch wenn sie nicht ausgeschlossen werden könne (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 27).

Alle diese internen Verdachtsmomente gründeten ausschließlich auf Briefentwürfen und privaten Aufzeichnungen von Holger Friedrich. Dort fanden sich auch Belege dafür, dass Friedrich bereits am 19. November 1986, also nur wenige Tage nach der Einberufung feststellte, dass sein Entschluss, drei Jahre zur Armee zu gehen, „ein ganz falscher ist“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 8, 11). Seinen Aufzeichnungen zufolge gab es erste heftige Auseinandersetzungen. Außerdem ergab die Postkontrolle des MfS (Abt. M), dass er im November oder Dezember 1986 in einem Brief geschrieben hatte: „draufgehen tue ich hier nicht, eher klaue ich vom KC (= Kompaniechef) den Trabbi und setze mich in die Antarktis ab“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 12). Der zuständige Oberleutnant des MfS sah darin einen Anfangsverdacht gegeben, nach § 254 StGB zu ermitteln. Das MfS erfüllte neben vielen verdeckten auch Aufgaben als ein reguläres Untersuchungsorgan und hatte neben der Kriminalpolizei die Befugnis, polizeiliche Ermittlungen vorzunehmen. Das MfS verfügte für solche Ermittlungen über zwei Wege: Zum einen mittels konspirativer Methoden Verdachtsmomente zu erhärten bzw. zu entkräften und zugleich Beweismittel zu erheben. Zum anderen mittels gesetzeskonformer Methoden die konspirativ erhobenen Beweismittel zu offizialisieren. Im Regelfall folgte die offizielle der konspirativen Phase, manchmal kam es gleich zur zweiten Phase. Bei Holger Friedrich ist die klassische MfS-Arbeitsweise zum Einsatz gekommen. Zunächst sollte nur konspirativ gearbeitet werden. So stellte das MfS fest, dass offiziell kaum etwas bis zum „unerlaubten Entfernen“ im April 1987 auffällig war. Am 7. Dezember hatte Friedrich sogar entsprechend den Weisungen nach einem Urlaub eine schriftliche Meldung abgegeben, dass er in Berlin einen alten Bekannten aus der Bundesrepublik zufällig auf der Straße getroffen habe, mit ihm kurz geredet, aber keinerlei Verabredungen getroffen hatte (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2, Bl. 2). Friedrich nannte dabei weder Namen noch Adresse des Bekannten. Alle Armeeangehörigen, also auch Wehrpflichtige, waren nach den Vorschriften der NVA/des MdI verpflichtet, sämtliche Westkontakte während ihrer Armeezeit zu unterlassen. Sollte es doch zu solchen Kontakten kommen, so seien diese unverzüglich zu melden.

Warum Holger Friedrich diesen harmlosen Kontakt meldete, geht aus den Akten nicht hervor. Bekannt ist, dass viele Wehrpflichtige solche Meldungen einfach unterlassen haben, erst recht solche zufälligen Begegnungen auf der Straße.

Die Unterlagen, die bei der Schrankkontrolle von Friedrich zunächst eingezogen wurden, waren vom MfS abgeschrieben worden und ihm später von einem Dienstvorgesetzten (zugleich IMK/S „Bernd“) nach Absprache mit dem MfS zurückgegeben worden. Der den Vorgang bearbeitende MfS-Oberleutnant ordnete erstens an, dass die künftige Post an Friedrich durch einen GMS kontrolliert würde, zweitens dass IMK/S „Bernd“ auf ihn „politisch-erzieherisch“ Einfluss nehmen solle und drittens, dass die Abt. XXII des MfS Friedrich und seinen ebenfalls unter Verdacht geratenen Freund überprüfen solle. Diese MfSAbteilung (seit 1989 Hauptabteilung) war für „Terrorabwehr“ zuständig. In einem Brief hatte Friedrich geschrieben, ein Bekannter, der ein „Potentialterrorist“ sei, nehme „vorsorglich an einem Panzerfaustlehrgang teil, um seine Forderungen etwas nachdrücklicher anbringen zu können“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 19). Der Brief sei konspirativ gestaltet gewesen und habe suggeriert, es gebe eine Gruppe. Um besser zu verstehen, was Friedrich schrieb und was das MfS daraus machte, sei ein längerer Briefauszug aus dieser Zeit November bis April (genaues Datum unbekannt) zitiert: „Ich darf dich begrüßen in unserer Mitte der Kämpfer gegen Geld und zu viel Macht! Momentan finden wir für Dich zwar keine Verwendung, da Panzerfäuste wie hinlänglich bekannt zwar demoralisierend wirken, aber auf un- bzw. wenig gepanzerte Fahrzeuge, wie sie unsere Zielgruppe benutzt, keine nennenswerten, sprich tödlichen Wirkungen zeigen. Einschlägige Erfahrungen von ‚Aktion Direkt‘, der RAF beim Bund bzw. der ‚Roten Brigaden‘ bewiesen dies, was zusätzlich auch in einschlägiger Fachliteratur der Erfahrungen des zweiten Weltkrieges nachzulesen ist. Allerdings planen wir einige großflächige Aktionen gegen die flächendeckende Videoaufklärung der B(erliner)-Innenstadt und gegen die Zentralen des MdI. Du kannst Dich in den Aktionen als Vorkämpfer beweisen. Wir verlassen uns auf Dich! Du weißt, wir haben nur die Alternative des Märtyrertums.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 20). Dieser Brief ist nie abgeschickt worden. Friedrich hat solche Entwürfe und Notizen häufig und viel geschrieben. Ihm war ganz offensichtlich bewusst, auf welchem dünnen Eis er sich bewegte, denn unmittelbar nach der zitierter Passage kam folgender Einschub: „Schnitt: Falls irgend jemand diese Zeilen liest, für den sie nicht bestimmt sind, so möge ihm verkündet sein, dies ist ein Scherz, ich gebe zu ein schlechter, füge noch hinzu ein sehr, sehr schlechter!“ (ebd.) Das hielt das MfS nicht davon ab, den „schlechten Scherz“ als Ausgangspunkt umfangreicher Ermittlungen zu nehmen. Ein weiterer IM berichtete über Friedrich, dass dieser nur drei Jahre diene, um später den angestrebten Studienplatz sicher zu bekommen. „Mittlerweile hat er aber schon bereut, drei Jahre zur Armee gegangen zu sein.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 10 89) Aus Briefen an seinen Freund in einem anderen Standort, entnimmt das MfS, dass Friedrich ziemlich häufig „schlechte Scherze“ macht und nicht mehr zu unterscheiden sei, was er ernst und was er nicht ernst meine. In Briefen und Aufzeichnungen spielen Fluchtgedanken und Waffen immer wieder eine Rolle. Friedrich ist offenbar frustriert, da er mittlerweile keine Waffenberechtigung mehr hat und er seinen Dienst in der Armee ohne Zugang zu Waffen als sinnlos erachte. Interessiert und leicht nervös nimmt das MfS auch zur Kenntnis, dass Friedrich gern Pilot werden würde. Dies könne, so die Interpretation, nur mit Fluchtabsichten zusammenhängen. Der Kompaniechef, der sowohl offiziell wie inoffiziell mit dem MfS kooperierte, meldete zudem am 7. Mai 1987, Friedrich neige zu linksradikalen Ansichten. So sei „das Leistungsprinzip ... bei uns nicht durchgesetzt, man müßte mehr vom Monopolimperialismus lernen, Wolfsgesetz...“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 110). Immer wieder registriert das MfS angebliche Fluchtgedanken von Friedrich. Gegenüber dem Kompaniechef erwähnt Friedrich auch, dass er gern nach Nicaragua gehen würde, um dort was zu erleben, um sich dort „auszutoben“, wie festgehalten wird. Auch würde er gern als Agrarflieger bei der „Interflug“ (die DDR-Fluggesellschaft) arbeiten (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 115). All dies genügt dem MfS schließlich, um am 13. Mai 1987 eine „Operative Personenkontrolle“ (OPK) gegen Holger Friedrich einzuleiten (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 117). Ihm und dem Vorgang wurde der Deckname „Habicht“, seinem Freund der Deckname „Greif“ zugeordnet.

Um die innere Konspiration im MfS zu gewährleisten sind nicht nur IM/GMS, sondern auch alle Vorgänge und alle in Beobachtungsvorgängen erfasste und ermittelte Personen mit Decknamen belegt worden. Eine OPK wurde in der Regel eingeleitet, um entweder Verdachtsmomente zu Verbrechen und anderen Straftaten zu überprüfen und weitere Beweise zu ermitteln, oder aber um Personen in sicherheitsrelevanten Positionen vorbeugend zu überprüfen bzw. abzusichern. Daher sind auch viele systemtreue Personen zeitweilig in einer OPK bearbeitet worden.

In dem OPK-Eröffnungsbericht sind alle bisherigen Erkenntnisse zusammengefasst worden. Ermittelt wurde nun nicht mehr nur nach § 254 StGB, sondern auch nach den §§ 101 und 206. Paragraph 101 besagte: „Wer bewaffnete Anschläge oder Geiselnahmen oder Sprengungen durchführt, Brände legt oder Zerstörungen oder Havarien herbeiführt oder andere Gewaltakte begeht, um gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik Widerstand zu leisten oder Unruhe hervorzurufen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.“ Bereits Vorbereitung und Versuch seien strafbar. In schweren Fällen drohte lebenslängliche und bis Ende 1987 sogar die Todesstrafe. § 206 bestrafte den unbefugten Waffen- und Sprengmittelbesitz, auch hier war der Versuch strafbar. Die Höchststrafe betrug fünf Jahre.

Ebenso hielt das MfS fest, die Objektivität der bisherigen Ermittlungsergebnisse sei gegeben (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 119). Es wurde festgelegt, Friedrichs Post zu überwachen, zwei IM zielgerichtet in Einsatz zu bringen, den Schrank zu kontrollieren und in Zusammenarbeit mit der Kreisdienststelle Berlin-Treptow Friedrichs privaten Wohn- und Verbindungskreis aufzuklären.

In den folgenden Wochen trug das MfS weiter scheinbar belastendes Material zusammen. Friedrich singe Freiheitslieder. Nach der Landung von Matthias Rust unweit des Roten Platzes in Moskau mit einer Privatmaschine vom Typ Cessna am 28. Mai 1987 äußerte er, wenn dort solche Sicherheitslücken existierten, müsste es die doch in der DDR auch geben (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 137). Immer häufiger scheint er nun über Flugzeuge gesprochen zu haben, was das MfS aufmerksam notierte. Kommentarlos blieb ein Bericht, nach dem Friedrich nichts dagegen habe, „wenn Leute mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten, wenn es ihnen gefällt. Es ist nur erschütternd zu sehen, welche Leute das immer sind...“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 144).

Pfingsten 1987 kam es vor dem Brandenburger Tor zu Unruhen. Junge Leute wollten westlichen Rockstars zuhören, die auf der Westseite vor dem Reichstag Konzerte gaben. Unter jenen, die von Polizei und MfS abgedrängt wurden, war auch eine gute Bekannte von Friedrich. Gegenüber einem NVA-Angehörigen, der als GMS auch dem MfS dient, erzählt er, „daß sie bei den Unruhen an der Mauer von einem Gummiknüppel am Kopf getroffen wurde und nun nicht mehr weiß, was sie von unserem Staat halten soll. In diesem Zusammenhang äußerte Friedrich, daß in unserem Staat sowieso alles erstunken und erlogen wäre und stimmte den Berichten aus westlichen Medien, die Losungen wie ... die Mauer muß weg ..., und Gorbatschow, Gorbatschow verbreiteten, zu.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 151) Wenige Tage später berichtet derselbe GMS, Friedrich habe gesagt, „wenn ihr mir irgendwann mal eine Waffe gebt, dann müßt ihr mir auch einen Posten mitschicken, damit ich nicht abhaue ...“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 154).

Ende Juni 1987 hält der zuständige MfS-Offizier in einem Monatsbericht zur OPK „Habicht“ fest, dass keine Vorbereitungshandlungen gemäß § 254 erkannt werden konnten (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 156).

Gegenüber GMS „Frank“ ist Friedrich ausgesprochen redselig. Ob er zu diesem offenkundigen SED-Parteigänger besonderes Vertrauen hatte oder gerade ihn provozieren wollte, lässt sich aus den Akten nicht ablesen. Er erzählt ihm, dass er einen zweiten Personalausweis hat (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 217). Das war eine Straftat. Mit der Einberufung mussten alle Wehrpflichtigen ihren Personalausweis abgeben und verfügten fortan nur noch über den Wehrpass. Somit konnten sie nicht in die CSSR fahren. Zugleich durfte man nur mit Genehmigung im Urlaub die Uniform nicht tragen. Daher haben viele junge Männer vor der Einberufung einen neuen Personalausweis beantragt und den bisherigen als Verlust gemeldet. So konnten sie mit dem zweiten Personalausweis wenigstens im Urlaub unbehelligt von der Militärpolizei und anderen Organen bei eventuellen Kontrollen, die gerade auf Bahnhöfen relativ häufig erfolgten, Zivilkleidung tragen. Friedrich erzählte aber auch, er müsse die Mauer überwinden, um nach Nicaragua zu kommen. Das sei für ihn nur von West-Berlin aus möglich (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 215). Noch gefährlicher  für ihn wurde folgende Äußerung gegenüber dem GMS „Frank“ am 26. Juni 1987: „Was würdest Du machen, wenn ich Dich jetzt niederschlage, den Waffenkammerschlüssel an mich nehme und dann in die Waffenkammer eindringe, um mir eine Panzerbüchse herauszuholen. Mit dieser Panzerbüchse würde ich dann alle Titten (Offiziere) abknallen.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 211) Zwar erschien knapp zwei Jahre später, im Februar 1989, das Album „Februar“ der Band „Silly“ bei Amiga, in dem es in dem Song „S.O.S.“ hieß: „...immer noch haben wir den Schlüssel von der Waffenkammer nicht...“, doch anders als „Silly“ befand sich Friedrich in Reichweite zu einer Waffenkammer, obwohl er weiterhin keinen Waffenzugang hatte. MfS und NVA gerieten erneut in Alarmstimmung, die sich noch steigerte, als GMS „Frank“ mitteilte, dass Friedrich vor einem geplanten Urlaub Mitte Juli seinen Schrank leergeräumt habe (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 219).

Die exemplarisch erwähnten Äußerungen von Holger Friedrich und viele weitere führten schließlich dazu, dass der vorgangsführende MfS-Offizier aufgrund akuter Gefahrenlage entschied, Holger Friedrich unter einer Legende von einem soeben begonnenen zehntägigen Erholungsurlaub aus Berlin zurückholen zu lassen, und zwar in Absprache mit dessen Dienstvorgesetzten. Ein entsandter NVA-Offizier traf Friedrich nicht an, dieser reagierte aber auf ein Telegramm und stellte sich kurze Zeit darauf selbst in seinem Dienstobjekt (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 227). Er vermutete sofort, dies sei die Rache dafür, dass er „in letzter Zeit ein bißchen zu sehr die große Klappe gehabt“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 221) habe und vermutete, dass dahinter wohl die „Stasi“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 222) stünde.

Zuständige Offiziere der HA I sprachen sich am 24. Juli 1987 mit dem stellvertretenden Leiter der Abteilung IX der Bezirksverwaltung Schwerin ab und kamen zu dem Schluss, dass sich der Anfangsverdacht gemäß der erwähnten §§ 101 ff., 206 und 254 StGB erhärtet habe und weitere „konspirative Straftaten“ nicht auszuschließen seien. Daher empfahlen sie, um „offizielle Beweise“ zu „erarbeiten“, einen „Operativen Vorgang“ (OV) anzulegen (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 228-230).

OV legte das MfS an, um im Rahmen von verdeckten wie offenen Ermittlungen gegen Verdachtspersonen vorgehen zu können. Ausgangspunkte des OV waren Hinweise auf strafrechtlich relevante Tatbestände (Verstöße gegen die in der DDR geltenden politischen Normen und geltenden Gesetze). OV sind nach geregelten Abfolgen bearbeitet worden. Solche „Maßnahmepläne“ konnten auch Zersetzungspläne beinhalten, die vor allem dann angewandt wurden, wenn eine Inhaftierung aus politisch-taktischen Erwägungen als nicht opportun galt. Das traf in den 1980er Jahren vor allem auf kirchliche Mitarbeiter sowie bekannte Oppositionelle zu. In solchen Fällen entsprachen die OV nicht mehr den MfSinternen Normen, sondern hatten eher die Funktion von Materialablagen, die eine Beobachtung aller Aspekte des Lebens dieser Personen dokumentierte. Im OV ermittelte das MfS nicht nur gegen die betreffende Person, es wurden auch Erkundungen zum familiären Umfeld, zum Freundes- und Kollegenkreis usw. eingeholt. Häufig ging dem OV eine OPK voraus. OV waren mit Vorschlägen zur Ahndung nachgewiesener Straftaten abzuschließen - zum Beispiel mit der Eröffnung eines offiziellen Ermittlungsverfahrens, mit der Anwerbung als IM oder mit Zersetzungsmaßnahmen. Bestätigte sich der Ausgangsverdacht dagegen nicht, wurde die Bearbeitung abgeschlossen.

In den 1980er Jahren bearbeitete das MfS pro Jahr durchschnittlich 4000 bis 5000 OV, 2000 sind im Jahresdurchschnitt beendet und ebenso viele neu eröffnet worden. Die meisten Ermittlungsverfahren, die das MfS als offizielles Untersuchungsorgan in der DDR eröffnete, sind ohne OV aufgrund des Verdachts auf „Republikflucht“ eingeleitet worden. Innerhalb der HA I gab es trotz der Größe dieser MfS-Struktureinheit nur relativ wenige OV und OPK. Im Jahre 1988 bearbeitete die HA I 59 OV und 312 OPK.

Von all dem ahnte Holger Friedrich nichts. Kein DDR-Bürger außerhalb des MfS wusste etwas von OV oder OPK. Allerdings vermutete er, ins Visier des MfS geraten zu sein, was wiederum das MfS wusste (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 229-230). Gleichwohl plauderte er weiter. Das MfS schloss daraus, Friedrich wolle provozieren, um so „die Konspiration durch das MfS zu dekonspirieren“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 230). Mittlerweile schienen sich Friedrichs Absichten zu verdichten. Er drückte nicht nur offen seinen Hass auf die Mauer aus (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 231). Mitten in einer Nacht Ende Juli 1987 holte er einen anderen Unteroffizier aus dem Bett und „befragte“ diesen, ob er für die „Stasie“ (sic!) (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2, Bl. 69) arbeite. Außerdem habe er sich anhand von Kartenmaterial konkret für zwei Abschnitte der Westgrenze interessiert (das Kartenmaterial mit Markierungen, für welche geographischen Punkte er sich interessierte: BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2, Bl. 74-75). Schließlich gab er gegenüber anderen Unteroffizieren an, dass er nicht länger drei Jahre dienen und daher beantragen wolle, seine Dienstzeit auf die gesetzlich vorgeschriebenen 1,5 Jahre zu reduzieren. Als er aus einem Urlaub eine Schreibmaschine mitbrachte, sicherte das MfS konspirativ über einen IM sofort das Schriftbild (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 238-239).

Am 13. August 1987, zufällig dem 26. Jahrestag des Mauerbaus, wird gegen Holger Friedrich der OV „Habicht“ eröffnet mit dem Ziel, „vorbeugend“ eine Fahnenflucht zu verhindern und die Beweismittel für die Erfüllung der §§ 101ff., 206 und 254 StGB zu sichern (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 263-272). In einem Operativ- und Maßnahmeplan legen die zuständigen Offiziere fest, gegen Friedrich eine breite Palette von Beobachtungs- und Aufklärungsmaßnahmen anzuwenden. Auch eine Zersetzungsmaßnahme planen sie (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 273-279).

Holger Friedrich selbst schien angesichts des von ihm vermuteten MfS-Interesses für ihn nervös geworden zu sein. Er meldete einem diensthabenden Offizier am 10. August 1987, dass ein anderer Unteroffizier entgegen den strikten Weisungen Westfernsehen geschaut habe. Das MfS vermutet, die „Zimmerbesatzung“ habe eine „kollektive“ Strafmaßnahme gegen diesen Gemeldeten durchgeführt (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 280). Das MfS kommt immer mehr zu dem Schluss, Friedrich habe seine „Pläne“ nicht ernsthaft erwogen (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 299). Der ihm am nächsten stehende IM wird daher beauftragt, die Ernsthaftigkeit der Pläne zu überprüfen. Zugleich sorgt sich das MfS um diesen IM, da er in Kenntnis von Friedrichs Plänen bis zu fünf Jahre Haft erhalten könnte, wenn er diese Pläne nicht offiziell anzeigt (§ 225 StGB) (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 299) und Friedrich tatsächlich fahnenflüchtig würde. Das MfS konstatiert inzwischen, dass Friedrich mittlerweile etwas vorsichtiger geworden sei. Zwar wolle er immer noch die NVA verlassen und notfalls als Druckmittel einen Ausreiseantrag stellen, aber ernsthafte Fluchtpläne kann das MfS immer noch nicht bestätigen. Außerdem scheine ihm sehr wichtig zu sein, keine strafbaren Handlungen zu begehen. „Operativ beachtenswert ist die Erkenntnis des F., daß er weiß, wie weit er gehen darf, um keine strafbaren Handlungen zu begehen.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 308) Der IM hatte ihn darauf hingewiesen, dass ein Ausreiseantrag „Schwedt“ bedeute (dort befand sich die Disziplinareinheit mit dem Armeegefängnis der NVA, wo bis zu drei Monaten Disziplinarstrafe bzw. bis zu zwei Jahren Haft zu verbüßen waren), was Friedrich mit den Worten abwehrte, so lange er keine Botschaft der Bundesrepublik aufsuche und keinen Kontakt mit Personen aus kapitalistischen Staaten unterhalte, könne ihm nichts passieren (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 307). Ende August 1987 wurde dem MfS neuerlich eine Äußerung von Holger Friedrich gemeldet, die verdächtig klang. Er hätte von Terrorismus geredet, den es nicht nur im Westen gäbe, und hätte sodann den IM, der offenbar Zutritt zur Waffenkammer hatte, gefragt: „... findest Du nicht auch, daß die Herren, die hier das Sagen haben, schon ein bißchen zu alt sind? Wenn jemand das ganze ZK (= Zentralkomitee der SED) erledigen würde, wäre das sicherlich für uns alle von Nutzen ... Du brauchst ja nur daran zu denken, wie es damals in der SU (= Sowjetunion) war, wenn da die Alten nicht gestorben wären, wäre ein Gorbatschow (= seit 1985) heute noch nicht an der Macht (...) In unserem verknöcherten System müßte auch mal jemand gehörig aufräumen und dann die Jugend an die Macht ... Auf den Einzelnen kann ich dabei keine Rücksicht nehmen, wenn Du im Weg bist, wirste Du beiseite geschafft und mein eigenes Leben ist dabei auch nicht wichtig (...) ich hatte ja gesagt, Du würdest mich nicht verstehen, wenn man mit 14 Jahren das erste Mal von der Stasie verprügelt wird, dann kommt man eben zu so einer Feststellung ...“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 313-314). Trotz solcher und vieler andere Informationen sah das MfS die eigenen Verdachtsmomente gegen Holger Friedrich als immer stärker entkräftet an (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 319). Da er in seinem Dienst sehr gute Arbeitsergebnisse vorweise, verdächtigten andere Unteroffiziere mittlerweile Friedrich, dass er ein „Zuträger“ sei und sich bei seinen Vorgesetzten „einkratze“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 318).

Vom 18. bis 24. September 1987 verbrachte Friedrich einen Erholungsurlaub in Berlin. In dieser Zeit wurden er und seine Freundin nahezu lückenlos vom MfS überwacht (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 228-249). Zum Einsatz kamen 16 MfS-Mitarbeiter, mehrere Autos, Foto- und Funktechnik. Außerdem wurden ein Polizeirevier sowie zwei Klubhäuser und deren stellvertretende Vorsitzenden in die Überwachung einbezogen (BStU, MfS, HA VIII 2882, Bl. 74-107). Mehrfach verloren die MfS-Offiziere Friedrich aus den Augen. Daher konstatierten sie später, die Aktion sei zu schlecht vorbereitet gewesen, sie hätten zu wenige Informationen über Friedrich bekommen und außerdem seien zu wenige MfS-Angehörige eingesetzt und zu wenige Beobachtungsstützpunkte eingerichtet worden.

Schließlich fand am 22. Oktober 1987 von 8.30 Uhr bis 9.45 Uhr eine konspirative Durchsuchung der Ostberliner Wohnung von Holger Friedrich mit einem Nachschlüssel statt (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2, Bl. 254-253). Dort haben die MfS-Offiziere Aufzeichnungen, Briefe, Dokumente und auch Fotos von Friedrich kopiert (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 2, Bl. 254-385). Weder die fast einwöchige Dauerbeobachtung noch die Wohnungsdurchsuchung konnten die Verdachtsmomente gegen Friedrich erhärten. Am 2. November 1987 kam es zu einem Treffen zwischen der Abteilung IX der Bezirksverwaltung Schwerin und der HA I. Sie stellten fest, dass die angeblichen Absichten von Friedrich nicht bestätigt, aber auch nicht eindeutig ausgeschlossen werden konnten. Nunmehr wolle das MfS ihn mit den bisherigen Ermittlungsergebnissen konfrontieren („Offizialisierung der Verdachtsgründe“) und Friedrich als IM gewinnen (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 323).

Zwei Wochen später lag der Abschlussbericht zum OV „Habicht“ vor (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 324-329). Nachdem die wesentlichen Arbeitsergebnisse dargestellt wurden, heißt es: „Es wird vorgeschlagen, den Op.-Vorgang abzuschließen und mit ‚Habicht‘ ein op. Gespräch im Zeitraum vom 30. 11. bis 01.12.87 im konspirativen Objekt ‚Altes Haff‘ durchzuführen. Ziel der op(erativen) Gesprächsführung ist es, die Verdachtshinweise zu offizialisieren, einen ·pol.-erzieherischen Einfluß auf ‚Habicht‘ mit dem Ziel der Rückgewinnung auszunutzen und eine mögliche inoffizielle Nutzung von ‚Habicht‘ zu prüfen.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 328). Unter Maßnahmen heißt es dann weiter, Friedrich solle die Ernsthaftigkeit der Situation und die sich daraus ergebenden strafrechtlichen Konsequenzen vor Augen geführt werden. Außerdem erfolge eine Belehrung im Hinblick auf die Eignung als IM (ebd.). In den Überlegungen des MfS spielte bei seiner „Rückgewinnung“ auch die Familie der damaligen Freundin von Friedrich eine Rolle (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 329). Was das konkret bedeutet, lässt sich anhand der Aktenlage nicht einmal vermuten, da das mögliche Spektrum von Maßnahmen sehr breit ausfiel und weitaus mehr als eine mögliche IM-Tätigkeit umfasste.

Am 30. November und 1. Dezember 1987 wurde Holger Friedrich konspirativ unter Mithilfe eines „IM in Schlüsselposition“ aus seiner Diensteinheit herausgelöst und nach einer etwa fünfstündigen Irrfahrt mit dem Auto (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 342) in ein konspiratives Objekt des MfS gebracht. Dort wurde ihm klar gemacht, was das MfS alles über seine Pläne und Gedanken wusste, und was es heißen würde, nach §§ 254 und 213 (Republikflucht) StGB strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 330-331). Aus den Dokumenten geht nicht hervor, wie es dem jungen Mann in dieser für ihn wohl überraschenden Isolation erging. In schriftlichen Ausarbeitungen legte Friedrich nieder, warum und wie er zu seinen „Fluchtabsichten“ kam, unter Zwang bestätigte er die Untersuchungsergebnisse des MfS (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 332, 336). Dabei belastete er niemanden und nannte auch keine Namen. Ihm wurde auferlegt, die §§ 220 (Staatsverleumdung) und 254 StGB abzuschreiben (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 333). Das war eine übliche MfS-Methode, um der unter Druck stehenden Person ihre Lage eindringlich vor Augen zu führen und um zu verdeutlichen, dass das Angebot, mit dem MfS zu kooperieren, diese aufgezeigte strafrechtliche Konsequenz verhindern könne.

Das MfS hielt als Ergebnis der zweitägigen konspirativen Befragung fest: „In Einsicht dessen, daß derartige Fehlhandlungen durch persönliche Initiative und besondere Einsatzbereitschaft wieder gut gemacht werden müssen, bot ‚Habicht‘ dem MfS seine Unterstützung zur Klärung solcher oder ähnlicher Sachverhalte an und erarbeitete selbständig eine schriftliche Erklärung zur Wiedergutmachung seines Fehlverhaltens.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 330) Wie aus dem zitierten Treffen vom 2. November 1987 ersichtlich wurde, bestand die Strategie des MfS darin, den OV in eine Werbung „unter Druck“ münden zu lassen. Holger Friedrich schrieb am 1. Dezember 1987, dass er bereit sei, „im Rahmen meiner Möglichkeiten die Arbeit der Genossen des MfS zu unterstützen“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 337). Als Armeeangehöriger war man per Befehl gezwungen, alle Uniformträger und Angehörigen der „Schutz- und Sicherheitsorgane“ als „Genossen“ anzusprechen. Er bestätigte, dass er über Personen und Sachverhalte offen und ehrlich „Ausführungen machen“ werde (ebd.). Wenn die Notwendigkeit bestehe, wird er diese Auskünfte auch schriftlich geben. Über die Verbindung zum MfS werde er „strengstes Stillschweigen“ wahren (ebd.). Ihm sei bewusst, dass er bei Verstoß gegen diese Schweigeverpflichtung nach StGB §§ 245 (Geheimnisverrat) und 272 (Verrat militärischer Geheimnisse) strafrechtlich belangt werden könne. In der Geschichte des MfS gab es nur sehr wenige Verurteilungen allein wegen der Verletzung einer solchen Schweigeverpflichtung – aber das konnte Holger Friedrich nicht wissen. Er musste vielmehr in seiner handschriftlichen Erklärung hinzufügen: „Eine Nichteinhaltung dieser Schweigepflicht zieht auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der bisher begangenen Straftaten gemäß der §§ 254 und 220 StGB nach sich.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 338)

Am 1. Dezember 1987 abends gegen 21.15 Uhr erschien Holger Friedrich wieder in seiner NVA-Dienststelle. IMS „Frank“ (er war vom GMS zum IMS „aufgestiegen“; es gab verschiedene IM-Kategorien, die mit einem Buchstaben hinter der Abkürzung „IM“ gekennzeichnet wurden; die häufigste Kategorie waren IMS – sie waren zur „politischoperativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches“ einzusetzen) berichtete zwei Tage später darüber u.a.: „Er machte einen sehr zerknirschten Eindruck und antwortete auf alle Fragen nur sehr kurz angebunden. Nach einer Weile ... schilderte er kurz und knapp, was passiert sei. Als er in Parchim ankam, wurde er sofort in ein Stasie-Auto geladen und ohne viel Worte sind sie mit ihm mindestens fünf Stunden durch die Gegend gefahren. Als sie endlich irgendwo in der Nähe der Ostsee angekommen waren, erwartete sie dort ein weiterer ‚Herr in Zivil‘. Und dann ging es gleich los. Die haben alles über mich gewußt, erzählte Friedrich weiter. (...) Zuerst wollte ich ein bißchen tricksen und dachte, ich kann mich da noch herauswinden, aber schon nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, daß das keinen Sinn hat. Also mußte ich wohl oder übel so nach und nach alles zugeben. Ich habe mir zwar alles aus der Nase ziehen lassen, aber erzählen mußte ich nachher doch alles. Und dann wurde es ganz schön mulmig für mich, da dachte ich schon, jetzt geht es ab nach Schwedt. Aber weil ich alles erzählt habe von mir und das auch mit den Fakten, die die ‚Stasie‘ hatte, wahrscheinlich übereingestimmt hat, haben sie mich nur belehrt über Fahnenflucht und noch mal ordentlich zusammengedonnert.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 342)

Zur Bestrafung – aus den Akten geht nicht hervor, wofür genau – bekam Holger Friedrich zehn Tage NVA-Kasernen-Arrest. Mit ihm in der Zelle saß eine IM-Kandidat, der am 16. Dezember 1987 berichtete: „Aus Gesprächen des Unteroffiziers (d.i. Holger Friedrich) mit einem Gefreiten der heutigen Wache, was ich unbeteiligt verfolgte, erkannte ich, daß er aus seiner Bestrafung keine Lehren gezogen hat und auch nach wie vor auf seiner polit. Meinung beharrt. (...) In dem Gespräch ging es um ein Buch, welches vor 1945 geschrieben sein soll, von einem Autor namens Hessay oder so ähnlich. Der Gefreite äußerte dabei, daß man den Inhalt nicht nur polit. werten kann, was der Uffz. aber tat und auf die heutige Gesellschaft bezog. Das Buch selbst habe ich nicht gesehen.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 344) Der IM meinte offenbar den dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ (Brave New World), den der britische Schriftsteller Aldous Huxley 1932 veröffentlicht hatte. Dieser 1978 und dann 1988 nochmals in der DDR aufgelegte Roman erfreute sich insbesondere unter systemkritischen Leuten großer Beliebtheit, weil ähnlich wie in dem verbotenen Roman „1984“ von George Orwell bei der Lektüre Vergleiche mit der DDR nahe lagen.

Im Abschlussbericht des OV „Habicht“ vom 8. Januar 1988 hieß es, dass Friedrich sich zur „Unterstützung des MfS verpflichtet“ habe. „Die im Anschluß an die Realisierung des OV eingeleitete Reaktionskontrolle zeigte, daß ‚Habicht‘ sich konsequent an die vereinbarten Verhaltenslinien hielt. In den bisher durchgeführten Kontaktgesprächen berichtete ‚Habicht‘ objektiv und ehrlich gegenüber dem MfS und belastete Personen.“ (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 351) Der OV wird geschlossen, die Unterlagen werden archiviert und die Gespräche mit Friedrich waren fortzuführen, um seine Eignung als IM weiter zu prüfen und um gleichzeitig seine Bindung an die DDR „auszubauen“. Der bisher wichtigste IM in seiner Umgebung, IMS „Frank“, sollte weiterhin den IM-Kandidaten auf „Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit“ hin überprüfen (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 353).

Der IM-Vorgang „Peter Bernstein“ (BStU, MfS, AIM 12523/89)

Der MfS-Offizier, der den OV „Habicht“ über Holger Friedrich geführt hatte, wurde nun auch der Bearbeiter (Führungsoffizier) des IM-Vorgangs „Peter Bernstein“. Da die Identität von Holger Friedrich mit dem IM „Peter Bernstein“ zweifelsfrei gegeben ist, wird im Folgenden der Einfachheit halber von Holger Friedrich gesprochen und nicht von „Peter Bernstein“. Bevor eine Person als IM des MfS verpflichtet wurde, gab es einzuhaltende Abläufe, um die tatsächliche Eignung zu prüfen. Dafür wurden u.a. Kontaktgespräche geführt. Die letztendliche Entscheidung trafen die Dienstvorgesetzten des Führungsoffiziers.

Holger Friedrich ist am 13. Dezember 1987 aus einer Arrestzelle unter einer Legende durch einen IM, der als Offizier vom Dienst (OvD) tätig war, in die Diensträume des MfS-Verbindungsoffiziers gebracht worden. Ohne sein Wissen war ihm der Deckname „Bernstein“ gegeben worden (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 65). In solchen Gesprächen ging es zunächst um persönliche und allgemeine Fragen, erst dann um konkrete Aufgabenstellungen. In diesem ersten Gespräch wurde Friedrich befragt, wer „die Ablaßschrauben für Öl“ aus einem Militär-LKW herausgedreht haben könnte (ebd.). Er gab dazu eine schriftliche Stellungnahme ab und schrieb, dass anzunehmen sei, dass Unteroffizier XYZ daran beteiligt gewesen sei „oder aber andere Genossen dazu angehalten hat“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 67). Er zeichnete ein Bild von diesem Unteroffizier, das von Geltungssucht gegenüber Vorgesetzten charakterisiert sei. Allerdings blieb das in Friedrichs Schilderungen alles sehr vage.

Am 30. Januar 1988 berichtete ein GMS „spontan ohne Auftrag“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 70) über Friedrich, dass dieser erzählt habe, er sei vom MfS „ausgefragt“ und ihm seien dabei alle seine Sätze „im Mund umgedreht“ worden (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 69). Er hinterfragte außerdem den Sinn des dreijährigen Waffendienstes und meinte mit Bezug auf die Armee, die „Technik ist zu veraltet, um damit einen Krieg zu gewinnen“. Außerdem sei er gegen die Abschaffung der Atomwaffen, ein Lieblingsprojekt von Partei- und Staatschef Erich Honecker, „da sie seines Erachtens ein Druckmittel darstellen“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 69).

Am 3. Februar 1988 fand laut Akten das zweite Kontaktgespräch statt. Das Gespräch dauerte 1,5 Stunden und wurde auf Tonband dokumentiert (nicht überliefert). Friedrich erhielt zwei Aufgaben. Er sollte gezielt mit zwei Personen das Gespräch suchen, um deren Einstellungen herauszufinden. Mit einer Person sollte er über die Friedensbewegung, die Grünen in der Bundesrepublik und „unsere KKW“ (= Kernkraftwerke) sprechen (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 72). Über einen Soldaten berichtet er handschriftlich. Dieser habe einen zweiten (ungültigen) Personalausweis, den er im Urlaub nutze (das war eine strafrechtlich relevante Information). Dessen Ehefrau habe Westverwandtschaft, ob er mit dieser während der Armeezeit Kontakt habe, wisse er nicht. Außerdem habe der Soldat seinen Privat-PKW am Standort bei einem Angehörigen der Dienststelle abgestellt (was für Soldaten ungewöhnlich und ohne Berechtigung nicht erlaubt war) (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 73).

Am 22. Februar fand das dritte Kontaktgespräch statt. Es dauerte drei Stunden. In der ersten Stunde ging es um aktuell-politische Ereignisse im Zusammenhang mit den oppositionellen Protesten am Rande der offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 15. Januar 1988 in Ost-Berlin und den damit im Zusammenhang stehenden Festnahmen und Verhaftungen sowie den Ausweisungen. Der Führungsoffizier notierte, dass Friedrich „Personen aus seinem Umgangskreis“ schriftlich belaste „und kann so fester an unser Organ gebunden werden“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 76). Friedrich beantworte alles sehr ausführlich, „wobei er teilweise viele Dinge sehr allgemein darlegt, da sie für ihn kaum Bedeutung haben“ (ebd.). Als Aufgabe stand, den Kontakt zu einer Person auszubauen. Da diese Person kirchlich gebunden sei, machte Friedrich den Vorschlag, bestehende Kontakte zur „Jungen Gemeinde“ und zur Kirche in Parchim dafür zu nutzen (ebd.).

Schriftlich gab er Auskunft über einen Zivilbeschäftigten, dem er drei Rollen Dachpappe „reservierte“. Unklar bleibt, was damit gemeint war, ob „reserviert“ für den (wahrscheinlich) privaten oder dienstlichen Gebrauch bedeutete. Der Zivilbeschäftigte äußerte, die Dienststelle „ist ein einzigster (sic!) Saustall“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 77). Aus diesem Bericht schlussfolgerte der Führungsoffizier, dieser Zivilbeschäftigte habe „einen Hang“, sich mit Umweltproblemen zu beschäftigen. Ob er in eine entsprechende Gruppe integriert sei, könne aber nicht eingeschätzt werden, notierte der Führungsoffizier (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 78).

Das nächste, sehr kurze Kontaktgespräch am 26. Februar 1988 ergab nichts weiter (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 79-80). Am 1. März trafen sich Friedrich und der Führungsoffizier erneut. Friedrich musste einräumen, keine Aufgabe erfüllt zu haben. Der Offizier belehrt ihn, dass er die Aufträge unbedingt erfüllen müsse (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 81-82). Friedrich schrieb eine Personeneinschätzung über einen Gefreiten. Der Mann war ihm bereits seit Mai 1986, also vor seiner Einberufung, bekannt. In seinem kurzen Bericht kommt keine belastende Information vor, das meiste entziehe sich seiner Kenntnis, er beschreibt eine angenehme und unauffällige Persönlichkeit (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 83). Das nächste dokumentierte Kontaktgespräch fand am 18. April 1988 statt. Wiederum konnte Friedrich keinen erteilten Auftrag erfüllen (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 85-86). Mündlich informierte er nach Aufforderung über zwei Soldaten, die katholisch bzw. evangelischen Glaubens seien und zur Kirche gingen (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 87). Diese Informationen sind an den Kompaniechef der beiden weitergegeben worden (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 88).

Bereits am 8. März 1988 schlug der Führungsoffizier vor, Holger Friedrich am 18. März 1988 als IMS „Peter Bernstein“ anzuwerben. In diesem Dokument unterstrich der Führungsoffizier, dass Friedrich als potentieller IM kontaktiert worden sei, weil sich das aus dem OV ergeben habe und Friedrich so die Gelegenheit erhalte, Wiedergutmachung zu leisten (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 89-93). Erst am 19. Mai 1988 zwischen 9 Uhr und 12.30 Uhr kam es zur Werbung. Die notwendige Bestätigung für die Anwerbung durch den zuständigen Vorgesetzten des Führungsoffizier hatte bis dahin nicht vorgelegen. In dem Bericht über die Anwerbung heißt es: „... wurde ... nochmals die Notwendigkeit der konspirativen inoffiziellen Tätigkeit des MfS bei der Aufklärung der Motive und Absichten operativer Personen aufgezeigt. Genannter stimmte den Ausführungen des Mitarbeiters zu und bemerkte, dass es notwendig ist, einen Menschen nicht nur nach dem Papier zu beurteilen, sondern auch sein Umfeld und besonders seine Persönlichkeit dabei zu beachten. Aus diesem Grunde sei er auch bereit, das MfS zu unterstützen. Auf Grund der erneuten positiven Haltung des IMS zu dieser Problematik erfolgte die Befragung zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS.

Genannter bezeichnete die schriftliche Verpflichtung als einen rein bürokratischen Akt, wobei er aber einsieht, daß auch eine derartige schriftliche Verpflichtung notwendig ist, damit beide Seiten wissen, woran sie sind. Der IMS versuchte aber nicht, die schriftliche Verpflichtung zu umgehen bzw. irgendwelche Zusätze einzufügen. Bei der Erarbeitung der Verpflichtung wurden ihm alle darin enthaltenen Probleme und Fragen erläutert.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 94) Diese zitierte Passage deutet an, dass das Zögern des Vorgesetzten des Führungsoffiziers, Friedrichs Anwerbung als IM zu bestätigen, damit zusammengehangen haben könnte, dass er nicht restlos von Friedrichs Eignung für eine IMTätigkeit überzeugt war. Der Führungsoffizier versuchte eventuelle Vorbehalte mit seinen Formulierungen auszuräumen. Außerdem wird deutlich, dass Friedrich die schriftliche Verpflichtungserklärung diktiert bekommen hat (das war üblich). Diese ist überliefert (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 98-99). Zum Abschluss des Gesprächs erhielt Friedrich die Aufgabe, den Kontakt zu einem Unteroffizier zu intensivieren und ihm zu erzählen, dass er, Friedrich, Kontakte zu kirchlichen Kreisen in Berlin pflege. Außerdem schrieb er einen Bericht über einen Unteroffizier (unklar, ob es derselbe ist), der aus Langeweile chemische Gemische herstelle und diese explodieren lasse (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 96). Diese Information sollte dem zuständigen Kompaniechef unter Wahrung des Quellenschutzes weitergegeben werden, damit dieser den Unteroffizier besser auslaste und der Unteroffizier keine strafbaren Handlungen begehe.

Als IMS „Peter Bernstein“ hat Holger Friedrich dann vier Treffen mit seinem Führungsoffizier gehabt. Das erste Treffen fand am 1. Juni 1988 zwischen 5 und 6 Uhr morgens in einer konspirativen Wohnung (KW) statt. Aus „objektiven Gründen“ konnte der IMS, hielt der Führungsoffizier fest, die gestellten Aufgaben nicht erfüllen. Es seien keine „erzieherischen Maßnahmen“ notwendig, „finanzielle Aufwendungen“ erfolgten nicht (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 3a). Friedrich erhielt den Auftrag, den Kontakt zu einem Soldaten zu festigen und auszubauen und mit ihm über Kirche, Wehrersatzdienst, Bausoldaten sowie über die Bundesrepublik zu sprechen. An den beiden kommenden Sonntagen sollte Friedrich in die Kirche gehen (ebd.).

Am 21. Juni 1988 fand in einer anderen konspirativen Wohnung der zweite Treff zwischen 22 und 24 Uhr statt. Ursprünglich war er für eine Woche zuvor geplant gewesen. Der Führungsoffizier notierte, Friedrich habe zwei- bis dreimal wie abgesprochen die Kirche aufgesucht (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 4). Er berichtete zudem auftragsgemäß über einen Soldaten, der konfessionell gebunden sei und auf den er vom Führungsoffizier schon mehrfach angesprochen worden war. Friedrich berichtete, der Soldat erfülle seine Aufgaben, damit er keine Schwierigkeiten bekomme. Dieser pflege teilweise mit einem Soldaten engeren Kontakt, der „keine eigene Meinung“ habe und „als relativ primitiv und beeinflußbar einzuschätzen“ sei. „In der Einheit wird XYZ als Trottel und Nichtskönner bezeichnet.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 5) Der Führungsoffizier legte fest, Friedrich solle weiter den Kontakt zu dem kirchlich gebundenen Soldaten aufrechterhalten. In einem zweiten, ebenfalls vom Tonband durch den Führungsoffizier abgeschriebenen und zusammengefassten Bericht, erzählte Friedrich auftragsgemäß über einen Unteroffizier. Dieser Bericht vom 21. Juni 1988 sei komplett zur Veranschaulichung zitiert: „Unteroffizier XYZ ist in der Startbatterie der FRA-134 als Kfz-Gruppenführer eingesetzt. Die ihm übertragenen Aufgaben dienstlich und gesellschaftlich erfüllt er in guter Qualität. XYZ ist von der Persönlichkeit her recht unauffällig. Er tritt durch keine besonderen Leistungen in den Vordergrund, fiel bisher aber auch nicht negativ auf. Im Soldatenkollektiv und bei den Unteroffizieren hat XYZ einen positiven Leumund und wird geachtet. Gegenüber den Vorgesetzten tritt er höflich und korrekt auf. Ihm übertragene Aufgaben erfüllt er gewissenhaft und auf der Grundlage guter theoretischer Kenntnisse. Er ist in der Lage, seine Unterstellten anzuleiten und die Aufgabenstellungen durchzusetzen. Verstöße gegen die Dienstvorschriften sowie den Geheimnisschutz wurden bisher zu XYZ nicht bekannt. XYZ ist zuverlässig und hält Ordnung. In politischer Hinsicht würde ich XYZ als loyal einschätzen. Er tritt in dieser Hinsicht weder mit positiven noch mit negativen Äußerungen in Erscheinung. Nach Angaben anderer AA (= Armeeangehöriger) äußert er sich im Politunterricht nach Aufforderung zu den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR positiv. Über besondere Interessen und Neigungen ist mir nichts bekannt. Zu bestehenden Kontakten und Beziehungen in die BRD/WB bzw. in andere nichtsozialistische Länder äußerte XYZ sich bisher nicht. Konfessionelle Bindungen oder eine Sektentätigkeit bestehen bei XYZ nicht.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 6a) Der Führungsoffizier konstatiert, dieser Bericht enthalte „keine operativ negativen Elemente“, der Unteroffizier könne „in der vorgesehenen Funktion“ eingesetzt werden (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 7). Hier zeigt sich, dass Friedrich als IM für Sicherheitsüberprüfungen herangezogen wurde, was er freilich weder ahnen noch wissen konnte, da generell den IM nicht mitgeteilt wurde, wozu ihre Informationen benutzt werden würden. Darin lag auch die Gefahr eines jeden IM-Berichts, weil kein IM steuern oder beeinflussen konnte, wie seine Informationen tatsächlich verwertet werden würden. So konnten scheinbare Nebensächlichkeiten und dem IM als irrelevant erscheinende oder gar als grundsätzlich positiv dargestellte Zusammenhänge und Charaktereigenschaften in bestimmten MfS-Zusammenhängen das berühmte fehlende Teil im Puzzle darstellen. Allerdings hatte kein IM Kenntnisse über die tatsächliche Arbeitsweise des MfS, so dass kaum jemandem diese Funktion von IM-Berichten bewusst war. Die Auswirkungen von IM-Berichten lassen sich fast nie aus den IM-Vorgängen erkennen. Dafür müssten vielmehr jene Aktenvorgänge herangezogen werden, die über die beobachteten Personen geführt worden sind. Die oft von IM zu hörende Einschätzung, „man habe niemanden geschadet“, müsste korrekt heißen: „man habe niemanden schaden wollen“. Der zitierte Bericht von Friedrich fiele in eine solche Kategorie; die wenigen Angaben über den konfessionell gebundenen Soldaten im Prinzip auch, da dessen Kirchengebundenheit bekannt war und diese wiederum in der DDR zwar nicht gern gesehen war, viele Christen und Christinnen deswegen auch Nachteile erdulden mussten oder in den 1950er Jahren sogar harten Verfolgungen ausgesetzt gewesen sind, aber rein formaljuristisch auch in der DDR nicht verfolgt werden konnte.

Das dritte Treffen fand am 18. Juli 1988 von 18 bis 20.30 Uhr wahrscheinlich im Dienstzimmer des Führungsoffiziers, zumindest aber im NVA-Dienstobjekt statt. Nun intensivierte der MfS-Offizier die Bearbeitung des christlichen Soldaten, dem er nun aufgrund der Berichte von Friedrich vorwarf, „christliches Gedankengut in die Einheit“ hineinzutragen (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 8). Nüchtern betrachtet nähert sich dieser Vorwurf dem Verdacht ideologischer Einflussnahme durch den Soldaten, was zumindest mit der Disziplinarordnung der NVA, im schweren Fall auch mit dem StGB der DDR hätte geahndet werden können. Friedrichs Beitrag dazu wäre minimal gewesen, aber er hätte mit seinen Informationen und Einschätzungen einen Mosaikstein dafür geliefert. Unter Anleitung des Führungsoffiziers schrieb Friedrich zwei Berichte. Im ersten geht es um den Soldaten, mit dem er die katholische Kirche in Pritzwalk besuchte. Er nannte drei weitere Personen namentlich (zwei Soldaten und den schon erwähnten Zivilbeschäftigten), die ebenfalls anwesend waren. Von einem Soldaten war die Freundin dabei, die er in der Kirche kennengelernt hatte. Er berichtete, dass eine „Junge Gemeinde“ nicht „funktioniere“. Der von Friedrich zu beobachtende Soldat erzählte ihm, „dass sein jüngerer Bruder sich mit Ausreisegedanken Richtung BRD bzw. Westberlin trägt. Gleichzeitig aber machte er deutlich, dass er sich gegen diese Unternehmung ausgesprochen hat und einen solchen Schritt mißbilligen würde.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 10) Ein zweiter Bericht betrifft einen Unteroffizier. Friedrich schildert Wachprobleme und Spannungen mit Vorgesetzten, wie sie aus vielen NVA-Kasernen überliefert sind. Der Unteroffizier erzählte, der Vorgesetzte wende „hinterhältige Methoden“ an. Bei nächster Gelegenheit würde er diesen Hauptmann erwarten, „auf Anruf zu Boden zwingen und dann durch Warnschüsse erschrecken“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 12). Solche Fantasien hegten viele Soldaten und Unteroffiziere, zuweilen wurden sie auch umgesetzt. In der anschließenden Untersuchung ging es dann immer um die Frage, ob der Wachhabende sich korrekt verhalten hatte, was überwiegend bejaht wurde. In diesem von Friedrich geschilderten Fall ist ohne weitere Aktenrecherche nicht erkennbar, ob diese Idee in die Tat umgesetzt worden ist.

Weiter schilderte Friedrich über diesen Unteroffizier, dass er die Konflikte, die er mit seinem Vorgesetzten habe, zur Eskalation bringen wolle. Der Hauptmann würde „die restliche seiner Dienstzeit mit ihm nicht mehr glücklich werden. Er meinte Aktionen in der Größenordnung Hptm. (= Hauptmann) XYZ durchzuführen. Ebenso Demonstrativhandlungen durchzuführen, die darauf hinauslaufen, dem (?) restlichen Personalbestand seine Unerschrockenheit und die Beherrschung des Hptm. XYZ durch ihn zu beweisen.“ Der Unteroffizier sei nicht gewillt, „seine Person den Erfordernissen des militärischen Alltags einzuordnen. Ausdruck würde dies darin finden, dass Dienst nach Vorschrift praktiziert wird, was bedeutet,“ dass Technik nicht einsatzbereit sei oder Dienstabläufe verschleppt würden. „Öffentliche Verunglimpfung der Offiziere wurde nicht ausgeschlossen.“ Unter Alkoholeinfluss sei der Unteroffizier schnell aggressiv und habe auch schon randaliert (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 12-13). Was weiter mit diesen den Unteroffizier belastenden Informationen geschah, ist aus den Unterlagen nicht ersichtlich.

Am 25. August 1988 fand von 19 bis 20 Uhr das vierte Treffen von Holger Friedrich mit seinem Führungsoffizier, vermutlich wieder in dessen Dienstzimmer, statt. Zwei Berichte von Friedrich sind von diesem Treffen überliefert. In einem eigenhändigen, den er mit einer veränderten Handschrift (durchgängig große Druckbuchstaben) verfasste, geht es um einen Soldaten, den Friedrich als „egozentrisch“ bezeichnet, der seine Ansprüche notfalls mit Gewalt durchsetze: „Hauptsächlich deutlich wird dies in seinen Bemühungen, so oft als möglich in den Ausgang bzw. Urlaub zu kommen.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 16) Weitaus belastender war Friedrichs Mitteilung, der Soldat äußerte nur wenige Tage zuvor „nach Nichtgewährung von Ausgang in den letzten 10 Tagen ..., daß er am nächsten Morgen den OvD und den Kommandeur der Abteilung erschießen würde. Weiterhin wurde erzählt, daß er auf einer vorherigen Wache hinter dem Eingang zum Med.-Punkt mit gezogenem Seitengewehr (= Bajonett) auf den OvD wartete, um diesen zu erstechen.“ (ebd.) Mit solchen Informationen könnte Friedrich versucht haben, sich selbst zu schützen, da er selbst strafrechtlich hätte belangt werden können, wenn die Tat ausgeübt worden wäre und er zuvor den Verdacht nicht gemeldet hätte. Das traf auch auf andere Informationen zu, die er als IM weitergab. Allerdings hätte er solche Meldungen offiziell abgeben können (müssen), ohne IM gewesen zu sein. Der betroffene Soldat jedenfalls, der als unüberlegt und unkontrolliert handelnd offenbar bekannt war, ist vom MfS strafrechtlich belehrt worden. Zugleich erfolgte eine Überprüfung des Mannes in den Speichern des MfS (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 17). Ein zweiter Bericht von Friedrich ist nach einem Tonbandmitschnitt (nicht überliefert) vom Führungsoffizier zusammenfassend geschrieben worden (ein häufig angewandtes Verfahren von Führungsoffizieren). Dabei ging es um einen Soldaten, den er als sehr selbstbewusst bezeichnete und der sich von niemanden einschüchtern ließe. Über politische Äußerungen oder private Lebensverhältnisse gab Friedrich in diesem Fall nichts zu Protokoll. Er betonte außerdem, dass der Soldat seinen dienstlichen Pflichten nachkomme (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 18). Wie der Führungsoffizier in seiner Auswertung betonte, sei dieser Bericht zielgerichtet angefordert und erarbeitet worden, „um die Eignung von XYZ als IMS zu prüfen. Aus dem Bericht gehen keine Hinweise hervor, welche einen Einsatz des genannten als IMS entgegenstehen.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 19) Friedrich war also ohne Kenntnis einbezogen in den Versuch, einen Soldaten als potentiellen IM zu überprüfen.

Ohne dass ein weiteres Treffen überliefert ist, obwohl eines für den 8., ersatzweise 9. September verabredet gewesen sein soll, ist der IMS „Peter Bernstein“ am 21. Dezember 1988 an einen neuen Führungsoffizier übergeben worden (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 100-101). Dieser kannte den gesamten Werdegang des IM, auch den Umstand, dass er unter Druck angeworben worden war. Der erste Treff mit dem neuen Führungsoffizier fand erst am 16. Februar 1989 im Dienstzimmer des MfS-Verbindungsoffiziers statt. Es dauerte nur 15 Minuten. Friedrich stand dem neuen Führungsoffizier ablehnend gegenüber. In dem maschinenschriftlichen Bericht über dieses Treffen, der sich nur unwesentlich von dem handschriftlichen des Führungsoffiziers unterscheidet, heißt es: „Die Zuführung des IMS erfolgte legendiert durch den Kdr. (= Kommandeur) der Abteilung Hptm. XYZ mit weiteren NVA-Angehörigen. Nach dem Vorstellen des MA (= Mitarbeiters; d.i. der neue Führungsoffizier) entwickelte sich nur sehr langsam ein Gespräch. Der MA teilte dem IMS mit, daß er über die vorangegangenen Probleme informiert sei. Es mache sich notwendig, in der Zukunft wieder intensiver in Kontakt zu treten. Während des gesamten Gespräches war der IMS in seinem Auftreten kühl und zurückhaltend. Er bekundete nochmals, daß er die Sache nicht freiwillig angefangen hat und sich daran in Zukunft nichts ändern wird. Freiwillig arbeitet er nicht mit unserem Organ zusammen. Trotz der ablehnenden Einstellung wurde mit dem IMS ein neuer Trefftermin vereinbart. Er wurde auf den 7.3.89 um 19 Uhr festgelegt.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil II, Bd. 1, Bl. 22) Handschriftlich schrieb der MfS-Vorgesetzte des neuen Führungsoffiziers unter diesen Bericht: „Nach dem nächsten Grundsatztreff entscheiden wir, ob wir die inoff(izielle) ZA (= Zusammenarbeit) mit dem IMS weiterführen oder einstellen.“ (ebd.)

Nach Aktenlage war die Zusammenarbeit zwischen Holger Friedrich und dem MfS danach beendet. Als Grund notierte das MfS „Ablehnung der Zusammenarbeit“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 103). In dem Abschlussbericht zum IM-Vorgang vom 15. September 1989 hielt der zuständige MfS-Mitarbeiter fest, dass in der „Kontaktierungsphase ... der Kandidat ehrlich und zuverlässig“ arbeitete. „Ein vertrauliches Verhältnis konnte zwischen dem Kandidaten und dem Mitarbeiter nicht aufgebaut werden. Am 19.5.1988 erfolgte die Werbung auf der Grundlage polit(ischer) Überzeugung. Ausgehend von einem Wechsel des Mitarbeiters entzog sich der IMS der weiteren Zusammenarbeit unter dienstlichen Vorwänden. Gegenüber diesem neuen Mitarbeiter äußerte der IMS, daß er eine Zusammenarbeit nur realisiert, weil er muß.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 15) Und auch in diesem Abschlussbericht heißt es rückblickend erneut: „Während der Treffdurchführung verhält sich der IMS reserviert, kühl und betonte mehrmals, daß er die Zusammenarbeit mit dem MfS nicht auf freiwilliger Basis angefangen hat und auch noch auf diesem Standpunkt steht. Bei Beachtung dieser Umstände und bei einer ruhigen, sachlichen Diskussion zu operativen Problemen ist der IMS auskunftsbereit und berichtet zu seinem unmittelbaren Umgangs- und Verbindungskreis auf der Grundlage der Aufgabenstellungen. In der weiteren Zusammenarbeit bildete sich beim IMS immer mehr eine ablehnende Haltung gegenüber dem MfS heraus und die Einstellung, daß seine Handlung nicht mehr mit seinem Gewissen zu vereinbaren ist. Gesellschaftlich war der IMS nicht aktiv. Er ist Mitglied der SED. Auf Versammlungen und Diskussionen vertrat er nicht konsequent die Politik der Partei.“ (BStU, MfS, AIM 12523/89, Teil I, Bd. 1, Bl. 106) Die formelhafte Beschwörung, der IM habe auf der Grundlage politisch-ideologischer Überzeugung mit dem MfS zusammengearbeitet – eine MfS-Standardformulierung – verweist vor allem darauf, dass der IM nicht erpresst worden sei und keine finanziell-materiellen oder sonstige Vergünstigungen als Motive zur Zusammenarbeit hatte. Dass Holger Friedrich zur Zusammenarbeit nicht erpresst, aber sehr wohl genötigt wurde, war wiederum Teil des Plans, den OV zu beenden. Das wurde vom MfS häufig als „Wiedergutmachung“ bezeichnet.

Der IM-Vorgang „Peter Bernstein“ ist im September 1989 beendet und im November 1989 ordnungsgemäß im Archiv des MfS (Abt. XII) abgelegt worden. Holger Friedrich ist am 28. August 1989 aus dem Armeedienst entlassen worden (BStU, MfS, Karteikarte HA I/Äußere Abwehr/ZPDP). Nach eigenen Angaben begann er an der Pädagogischen Hochschule Potsdam einen Lehrgang, um in kürzester Zeit die Hochschulreife zu erwerben. Aus dieser Zeit stammt auch die letzte bekannte Notiz des MfS über Holger Friedrich. In einer Information der Bezirksverwaltung Potsdam des MfS (ZMA A1365), die sich auf einer Karteikarte handschriftlich niederschlägt, vermerkte ein MfS-Mitarbeiter am 1. November 1989: „macht an PäHo Pdm politische Schwierigkeiten“ (BStU, MfS, Karteikarte HA 1/LSK - Rückseite). Acht Tage später fiel die Mauer.

Bewertung

  1. Der OV „Habicht“ endete mit dem Beschluss, Holger Friedrich zur IM-Tätigkeit zu gewinnen. Diese erfolgte unter dem Druck, ansonsten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Friedrich konnte nicht ahnen, dass das MfS intern zu der Einsicht gekommen war, dass sich der Verdacht nach § 254 StGB nicht bestätigt hatte, weil keine gerichtsnotorischen Beweismittel präsentiert werden konnten.

  2. Der IM-Vorgang belegt, dass Holger Friedrich insbesondere in der „Kontaktierungsphase“ den Eindruck zu vermitteln bemüht war, den Anforderungen des MfS an eine inoffizielle Zusammenarbeit gerecht zu werden.

  3. Zu konstatieren ist auch, dass Friedrich als IM überwiegend Offenkundiges berichtete. Es gibt zudem eine Diskrepanz zwischen den Einschätzungen des Führungsoffiziers über die abgegebenen Informationen Friedrichs und den in dem Vorgang dokumentierten Informationen in Form von Berichten (eigenhändig oder Abschriften vom Tonband).

  4. Die Informationen von Friedrich haben in einem Fall zu einer strafrechtlichen Belehrung eines Anderen geführt. Damit war u.U. ein erhebliches Einschüchterungspotential für den Betroffenen verbunden. Weitere Folgen, die durch Friedrichs Informationen zu konstatieren wären, ließen sich nur mit Akten, die über Dritte eventuell existieren, ersehen. Sehr wahrscheinlich erscheint das nicht.

  5. Die Informationen von Friedrich trugen keinen „politisch-ideologischen Charakter“. Entsprechende Aussagen zu Lasten Dritter finden sich in den Unterlagen nicht.

  6. Neben dem Umstand, wie Holger Friedrich zum IM gepresst wurde, ist bei der Beurteilung zu berücksichtigen, dass es nur wenige Treffen als IM gab, dass diese unter der besonderen Situation in einer Armeeeinheit zustande kamen (siehe dazu oben) und dass Holger Friedrich diese Zusammenarbeit, als ein neuer Führungsoffizier für ihn tätig wurde, beendete und dabei sofort betonte, dass er diese nie freiwillig eingegangen wäre. Die Zusammenarbeit als IM dauerte von Juni bis August 1988. Es kam zu vier Treffen, von denen insgesamt sechs Berichte überliefert sind. Zuvor kam es zu sieben Treffen in der „Kontaktierungsphase“ von Dezember 1987 bis Mai 1988.

Empfehlung

Wir empfehlen dem Berliner Verlag und den Redaktionen der „Berliner Zeitung“ und des „Berliner Kuriers“, die MfS-Unterlagen über Holger Friedrich, die beim BStU verwahrt werden, vollständig unter Beachtung des StUG und soweit erforderlich mit Zustimmung von Holger Friedrich in geeigneter Form öffentlich zu machen.

Marianne Birthler

Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk

Berlin, den 10. Dezember 2019