Freiheit und Selbstbestimmung

Gerold Hildebrand rezensiert "Jena-Paradies: Die letzte Reise des Matthias Domaschk" von Peter Wensierski

Matthias Domaschk (rechts) am 2. Mai 1976 mit Freunden auf dem Jenaer Altmarkt. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Helmut Kurz/RHG_Fo_HAB_10751

In seiner faktengestützten aber dennoch fiktiven Reportage über Matthias Domaschk, der im April 1981 in Gera bei der Stasi ums Leben kam, fabuliert der Journalist Peter Wensierski auch über das Innenleben der Geheimpolizei und folgt dabei Stasi-Akten und Gesprächen mit Hauptamtlichen.

Das aktuelle Buch des ehemaligen "Spiegel"-Autors und "Kontraste"-Redakteurs handelt von einer Reise in den Tod und vom Leben in der Diktatur. Hatte er vor sechs Jahren die Leipziger Oppositionsszene Ende der 80er beleuchtet, so steht diesmal das Schicksal von Matthias Domaschk im Fokus. Zugleich versucht Wensierski, die abgeschottete konspirative Phantasiewelt der Stasi-Hauptamtlichen und deren Kopfkino darzustellen. Ein schwieriges Unterfangen.

Wensierski macht deutlich, dass es vor über 40 Jahren in Jena und anderen Großstädten der verblichenen DDR eine muntere Jugendszene gab, die ein kleines, aber dennoch wirkmächtiges Spektrum der Gesellschaft im SED-Staat verkörperte. Ihr aggressiver Widerpart war die Sozialistische-Einheiz-Partei und deren Schild und Schwert, das Ministerium für Staatssicherheit.

Zwischen diesen Antipoden bewegten sich mehr oder minder Angepasste, die öfters zu willigen Helfern der linkstotalitären Herrscher wurden.

Damals in der DDR hatte eine linksextreme Parallelgesellschaft einen ganzen Staat unter Kontrolle: Die kommunistische Geheimpolizei Staatssicherheitsdienst, die kleine Schwester des Großen Bruders KGB aus dem "ruhmreichen" Sowjetrussland, deren Richtschnur der Rote Terror war.

Allerdings wechselten die Methoden der Bekämpfung der Opposition. Stasi-Vernehmer und "operative Mitarbeiter" lernten Psychologie, um sie zum Schaden des Menschen anzuwenden: Gefolgschaftsdruck, Angsterzeugung, Verunsicherung, Zersetzung und Individualitätszerstörung, im Stasi-Sprech Liquidieren genannt. Der offene Rote Terror wurde durch diffizilere und nachhaltigere Methoden ersetzt. Schier unberechenbare Kampfhunde blieben die paranoiden grauen Kampfgenossen dennoch.

Aus dem Gemisch von marxistisch-leninistisch geprägtem sektenartigen Sendungsbewusstsein, feindbildgestützten Verschwörungstheorien (so glaubten die Stasi-Genossen, sie hätten es mit Terroristen zu tun) und skrupellosem Karrierestreben (eine Brechung und Anwerbung eines Feindes bringt Meriten) stand am Ende der Tod eines 23-jährigen.

"Auch wenn er sein Hemd dazu genommen hat: Matthias Domaschk beging keinen Selbstmord. Er wurde in den Tod getrieben, und viele waren beteiligt", resümiert der Autor im Nachwort auf Seite 359.

Der Jenenser Dissident Siegfried Reiprich drückt es so aus: "Unser Freund Matz ist in der Stasi-U-Haft-Anstalt in Gera 'selbstgemordet' worden."

Um die damaligen Konflikte, Widerfahrnisse und Zumutungen eindringlich darzustellen, nutzt der Journalist Wensierski die romanhafte Schilderung und erzeugt ein spannungsreiches Bild, das sozusagen als Sittengemälde daherkommt. Handlungsgerüst sind die letzten drei Tage von der Festnahme bis zum Tod des Matthias Domaschk. Aber es gibt immer wieder Rückblenden, verpackt in Erinnerungen, die "Matz", wie ihn alle seit seiner Schulzeit in Görlitz nannten, gekommen sein könnten während der tagelangen von anhaltendem Schlafentzug geprägten Festnahmesituation, die lediglich von Verhören durch Trapos, VoPos und Stasi-Offizieren unterbrochen wurde, viel Kaffee und ein bisschen Bockwurst.

Die streng am fast minutiösen Tagesverlauf vom 10. bis zum 12. April 1981 getaktete Erzählung weitet sich somit in noch länger Vergangenes. Dafür hat der Autor Familienangehörige, Schulfreunde und rund 170 Freunde und Bekannte von Matthias Domaschk ausgiebig befragt. Er hat tausende Seiten an Stasi-Papieren gewälzt und obendrein Akten anderer DDR-Repressions-"Organe" sowie Tagebücher, private Aufzeichnungen, Briefe, Kalender und weitere Artefakte. Hinzu kommen Fotos und Dokumente, die in der Robert-Havemann-Gesellschaft und im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk" archiviert sind. Diese intensive dreijährige Recherchetätigkeit hat ein durchaus nachvollziehbares Bild ergeben.

Dadurch, dass Matz Teil der oppositionellen Szene in Jena, Weimar, Zeitz und anderen Städten war, war es dem Autor möglich, viele Ereignisse zu schildern, die dieser Jugendopposition widerfuhren und selbstbehauptende Aktivitäten, die sie kreativ gestalteten. In Jena fanden viele eine Insel sympathischer Offenheit und Gemeinschaft in einem Staat, der die "Solidarität der unteren" fürchtete und Vertrauen stetig zu untergraben suchte.

Mitte November 1976 hagelte es nach der Solidarisierung mit Wolf Biermann Inhaftierungen, die in Abschiebungen und Wegtreibungen mündeten.

Vorausgegangen war am 18. Januar 1975 ein brutaler volkspolizeilicher Überfall auf eine Verlobungsfete in der Gartenstraße 7. Solcherlei war keinesfalls unüblich im wunderschönsten Sozialismus, doch die Jenaer nahmen das nicht hin. Es folgte eine Sinuskurve von Protesten (Eingaben), Inhaftierungen, solidarischer Unterstützung und erstrittener Freilassung, bei der Reiner Kunze eine wichtige Rolle spielte, dessen Tochter Maik in Jena lebte. Das alles ist im Buch erstmals ausführlicher geschildert.

Dem Autor ist es gelungen, die konträren Lebenswelten von Jugendopposition und Parallelgesellschaft Stasi nachvollziehbar darzustellen. Anschaulich beschreibt er, welchen Repressionen Jugendliche in der kommunistischen Diktatur ausgesetzt waren.

Deutlich wird in Wensierskis Werk, was für ein Mensch Matthias Richard "Matz" Domaschk war, wie er lebte, worauf seine Hoffnungen gerichtet waren und was er zu durchleiden hatte. Matz bewahrte seinen Traum von einer menschlicheren Gesellschaft und behauptete sich gegen alle Versuche der Persönlichkeitszerstörung, zum Beispiel bei der NVA.

Die DDR verlassen konnte man nur unter Mühen, ungewissem Warten, Gefängnisaufenthalt, Todesgefahr und der Nötigung zum totalen Heimatverzicht. Die isolationistische Abgeschottetheit und die spätestens mit der Schulzeit beginnende ideologische "antikapitalistische" Zurichtung erzeugten Hemmnisse, die sozialistische Sackgasse zu verlassen. Matthias wollte nicht in den Westen, das hatte er sich unglücklicherweise geschworen, und er fluchte zugleich "Scheiß Grenze!"

Was dann bleibt, ist eine existenzielle Ausweglosigkeit. Dem stolzen Dableiber ist die Abwanderung verwehrt, der aufrechte Gang aber führte unweigerlich in den Stasi-Knast - und der ist keine demokratische Wohlfühlsozialstunde. Genau dies wurde Matthias Domaschk in seinen letzten Lebensstunden überdeutlich vor Augen geführt. Ausgeliefert, isoliert und im Schlafentzugsdelirium befindlich, wollte er dennoch nicht die Seiten wechseln. Am Ende stand ein Stück tragische Selbstbehauptung. Wenn damit auch die konkreten Todesumstände immer noch nicht restlos geklärt sind,  bleibt unumstößlich, dass er dort, wo er starb, bei der Staatssicherheit, nicht freiwillig war. Was genau in seinen letzten Lebensminuten ablief, ist dabei eher zweitrangig.

"Was bleibt, ist sein politisches Zeichen: Ihr kriegt mich nicht. Ich mache mich nicht gemein mit euch, nicht mit eurer Art zu leben, nicht mit eurer Diktatur." (Seite 359)

Indes bleibt durch die Schilderung klar, warum engste Freunde und Bekannte von Matz die Selbstmordthese bezweifeln. Einerseits ist evident, dass "denen" (SED, Stasi, VoPos) alles zuzutrauen war und dass sie lügen und ihre Übergriffe verschweigen oder umdeuten; andererseits war Matthias Domaschk überhaupt nicht der Typ, der sich leichtfertig umbringt.

Da wären wir schon bei der schwierigeren Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Rekonstruktionsversuchen historischer Ereignisse und Abläufe. Unterlässt ein Autor jeglichen nachprüfbaren Quellenhinweis, so werden Zweifel am Wahrheitsgehalt wirkmächtiger neuer Thesen genährt. Leider ist im Buch auch keine Übersicht über bereits erschienene Literatur enthalten.

Zu dem, was die Faszination der Jenaer Szene ausmacht, gibt es ja bereits die Studien von Siegfried Reiprich (erschien 1996 bei der Robert-Havemann-Gesellschaft), Udo Scheer und Henning Pietzsch. Jürgen Fuchs und Renate Ellmenreich legten die ersten Problemaufrisse speziell zum Tod von Matthias Domaschk vor. Lutz Rathenow, Doris Liebermann und Thomas Auerbach haben ebenfalls darüber geschrieben. Einiges ist in den Aufarbeitungszeitschriften „Gerbergasse 18“ und „Horch und Guck“ zu finden. Letztere brachte 2003 ein Sonderheft heraus. Freya Klier legte 2011 mit einem Porträt des Jenaer Widerstands und Matthias Domaschks nach. Ein Roman von Tino Strempel erschien 2021.

Befremdend ist das hervorscheinende unterschwellige Lob des Linksradikalismus, der im Buch großen Raum einnimmt. Kommt hier die Westsozialisation des Autors zum Tragen?

Möglicherweise ist Matz bei Bekannten einem begegnet, der Terrorismus-Phantasien hegte. Die Stasi konstruierte daraus eine Art Kontaktschuld und unterstellte ihm, ebenfalls solche Ambitionen zu hegen. Der Anfang der 80er in der DDR akkreditierte West-Journalist Wensierski zählt vermeintliche Fälle aus Weimar, Arnstadt, Leipzig und Halle auf und suggeriert, dass es auch im Osten ausgereifte Pläne zum gewaltsamen Umsturz gegeben habe. Ist er hierbei der Sicht von Stasi-Offizieren und ihren Inoffiziellen Mitarbeitern auf den Leim gegangen? Hat er "beweisen" wollen, dass es umstürzlerische Terroristen nicht bloß in der Bundesrepublik sondern auch in der DDR gegeben habe? Kommt er in den Zeiten durcheinander, wenn in Arnstadt erst nach dem Tod von Matz spinnerte und leider Stasi-abgehörte Gewaltphantasien geäußert wurden?

Solcherlei konspirative linksextreme Militanz war der unzweifelhaft heterogenen DDR-Oppositionsszene unterm Strich fremd. Es ging ihr um das Benennen von Unrecht, die Entlarvung der Diktatur, um politische Partizipation und Pluralismus. Geradezu überdeutlich wird das 1989. Waffe war das Wort, Adressat die Öffentlichkeit, auch wenn die konspirierende Stasi weiterhin von "politischer Untergrundtätigkeit" phantasierte.

Bisher existieren Veröffentlichungen über in der DDR untergetauchte RAF-Terroristen und über die KPD/ML-Sektion DDR, die in Wensierskis Buch überdimensioniert zum Tragen kommt. Relevanz und Vorbildcharakter für Matthias Domaschk hatte die aus einer Handvoll Maoisten bestehende Polit-Sekte keineswegs. Nicht einmal die Stasi wirft ihm das vor, wie das Verhörprotokoll zeigt. Und kaum jemand wird bislang von der Existenz dieser kleinen stasidurchsetzten Gruppe, die Marx, Lenin, Stalin, Mao und Enver Hoxha nacheiferte, erfahren haben. In Wensierskis Darstellung entsteht so eine gewisse Unwucht.

Sicherlich gab es Parallelen zwischen West- und Ost-68ern, nicht zuletzt, was den Konflikt mit der diktaturversehrten Elterngeneration anging. Mit dem gewichtigen Unterschied, dass in der Bundesrepublik damals fast nur auf Paris geschaut wurde, im SED-Staat hingegen vor allem auf Prag - aber auch auf Paris. Der Umgang mit Aufbegehren war unter den Rahmenbedingungen des politischen Systems im Russengebiet grundsätzlich repressiver. Das wird im Buch zuweilen verwischt. 

Eine regelrechte Forschungslücke besteht bezüglich des Wirkens von Volkspolizei, Transportpolizei und den vielen anderen Helferlein der SED-Diktatur. Das hinwiederum führt Wensierskis Buch klar vor Augen.

Doch zurück zum Protagonisten aus dem Jenaer "Paradies". Matz und sein mit ihm gemeinsam festgenommener Freund "Blase", der 2017 verstorbene Peter Rösch, mussten im "Gewahrsam" warten, warten und nochmals warten - und wussten nicht, worauf es hinauslaufen sollte. Das zermürbt. Die überlange Festnahmezeit war selbst nach DDR-Gesetz nicht zulässig, das eine "Gewahrsamsnahme" auf 24 Stunden limitierte, zumal beide eine Straftat weder begangen noch vorbereitet hatten. Sie wollten einfach nur zu einer Geburtstagsfeier nach Ost-Berlin. Doch dort tobte gerade der X. Parteitag der SED. "Kampfkurs X" hieß die Stasi-Parole für die zu schaffende absolute Störungsfreiheit an diesem Wochenende vor Ostern in Ost-Berlin.

Auch Hauptmann Köhler wartete. Er und die anderen Stasi-Aktivisten hatten allerdings ein konkretes Ziel vor den Augen: Weichkochen, Verunsichern, Geständnisproduktion, dann Anwerbung! Die Vorhaltungen terroristischer Ambitionen mündeten unter Androhung einer hohen Gefängnisstrafe in eine Verpflichtungserklärung.

Was aber nun genau ablief bei der Anwerbung durch Horst Henno Köhler, bleibt immer noch im Verborgenen. Denn der vermutlich einzige Zeuge Köhler schweigt weiterhin und bleibt ein 150%-iger, wie die fanatischsten SED-Genossen in der DDR genannt wurden. Mehr hat Autor Wensierski von ihm selbst nicht erfahren, dennoch aber seine Stasi-Karriere rekonstruieren können. Ganz hinten im Buch erfährt der Leser, dass es den meisten ehemaligen Stasi-Offizieren ganz gut geht im "kapitalistischen Feindesland". Einer von dreißig, der Vernehmer Peißker, zeigt nun Reue.

Ein Urteil der kommunistischen Staatsverweser über die Jenaer Jugendkulturszene lautete: "Dieser Personenkreis tritt vorwiegend als Diskussionsklub in Erscheinung, entwickelt eigene Vorstellungen zum Begriff ›Freiheit‹ und versucht, dieselben zu verwirklichen."

Das wollten die marxistisch-leninistischen Genossen mit allen Mitteln verhindern. Vor diesem Freiheitsstreben hatten sie panische Angst, zumal mit Matthias Domaschk hier einer in ihre Klauen geraten war, der nicht nur Kontakt pflegte zu den westwärts vertriebenen Freunden, sondern ebenfalls zur osteuropäischen Freiheitsbewegung in Danzig und Prag. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass sie in ihm einen bedrohlichen Unsicherheitsfaktor sahen, den es tschekistisch zu "liquidieren" galt.

Das Eintreten für Freiheit und Selbstbestimmung und deren gewaltförmige Unterdrückung sind der Kern des Buches.

Für Westler wird das Verständnis für die Brüder und Schwestern aus der Ostzone vertieft, im Osten könnte es dem intergenerationellen Gespräch dienen. Nachwachsende Generationen werden fündig bei der Frage, wie eine Diktatur so lange funktionieren konnte.

Aufmerksamkeit erzielte das im Christoph-Links-Verlag erschienene Buch bereits im MDR, im Spiegel, im Deutschlandfunk, in FAZ, OTZ, MAZ und Berliner Zeitung.

Drei Jahre harte Arbeit, weggelesen in drei Nächten, den flüssig geschriebenen Roman, der aber gar keiner ist. Spiegel-Bestseller, warum nicht?

© Buchcover

 

Peter Wensierski
Jena-Paradies: Die letzte Reise des Matthias Domaschk
Ch. Links Verlag, Berlin 2023, 368 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag und Abbildungen. 25,00 €
ISBN: 978-3-96289-186-2
EAN: 9783841232151 

https://www.aufbau-verlage.de/ch-links-verlag/jena-paradies/978-3-96289-186-2 

Porträt Gerold Hildebrand. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

Gerold „Hilli“ Hildebrand

geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek oder dem Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.