Student:innen auf einer Wanderung in Jena 1973
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20.11.2025

Jenaer Physik-Matrikel 1969

Diverse Lebensverläufe über grundverschiedene Versuchsanordnungen hinweg

Gerold Hildebrand rezensiert „Aufgebrochen“ von Roland Hensel

Roland Hensel hat 37 Biografien von Physikstudenten seines Matrikels zusammengetragen. Geboren sind sie alle um das Gründungsjahr der DDR herum. Ihr Studium begannen sie 1969. Es war der erste Jahrgang, der statt fünf nur vier Jahre lang bis zum Diplom studieren durfte. Diese Turbo-Rackerei erforderte, wie der Autor resümiert, bei einer arbeitsintensiven 70-Stunden-Woche Willenskraft, Selbststrukturierung, Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen. Sie haben es gerockt.

Mit dem aus Böhmen stammenden Ernst Schmutzer hatten sie einen hervorragenden Professor, dem 1990 bei der ersten freien Wahl das Rektorat der Schiller-Universität anvertraut wurde. Neben dem Abitur verfügten alle zudem über eine Berufsausbildung, die dazumal vorgeschrieben war. Es war nicht alles schlecht.

Im späteren Beruf war aufgrund der Mangelwirtschaft häufig Erfindungsreichtum gefragt und Anpassung - zum Beispiel an Geheimhaltungsvorschriften bei der Messung und Auswertung von Umweltbelastungen, wie Ulrich Meckel erzählt. 

Eine Verweigerung der obligatorischen sozialistischen Wehrerziehung oder gar des Waffendienstes kam für sie nicht infrage. Sie wären wie Friedrich Miehe und Harald Krüger umgehend exmatrikuliert worden. Was aus ersterem wurde, ist im Buch nachlesbar.

Lebensleistung gewürdigt 

Entstanden ist quasi ein Klassentreffenbericht nach 50 Jahren. Im 350-seitigen, gut bebilderten und naturgemäß mit einer Vielzahl physikalisch-technischer Fachbegriffe durchtränkten Buch sind sehr unterschiedliche Lebensverläufe versammelt.

Sie umfassen - unter ideologisch begründeten Nötigungen und Stasi-Überwachung - wissenschaftliche Karrieren bis hin zu Forschungspreisträgern. Die Physiker zeigten Erfindergeist in Weltraum-, Kernkraft- und Rüstungstechnologie. Sie entwickelten Hochleistungskeramiken (Hermsdorf, nicht Bürgel), Barcodescanner und „Neue Eiweißnahrung“ bis hin zum „begehbaren Mikrochip“, wie damals gespöttelt wurde. Manches beruhte halt schlicht auf Industriespionage, was in der nüchtern darstellenden Bucherzählung, die sich nachträglichen Wertungen weitgehend enthält, angerissen wird.

Den Biogrammen ist jeweils ein Abstract vorangestellt. Kurze Unterkapitel zu den jeweiligen Lebensstationen und Besonderheiten folgen. Wesentliche Zitate aus den Interviews wurden optisch herausgestellt. Verfasst ist das Werk in lesbarem Deutsch, ohne Genderismen. Ergebnis ist eine anschaulich dargebrachte Würdigung von Lebensleistungen Ostdeutscher, nach der bis heute lauthals verlangt wird. Und dies ohne Vernachlässigung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der kommunistischen Diktatur.

Umbruch und Aufbruch 

Spätere Brüche kommen nicht zu kurz. Für manche waren nach der Friedlichen Revolution 1989/90 (im Buch findet sich immer nur der unsägliche Krenz-Begriff „Wende“) Umorientierungen angesagt. Oft waren im Verlauf der nötigen Transformation Betriebe weggebrochen oder sie hatten den Mitarbeiterbestand stark schrumpfen müssen, was nochmalige Weiterqualifizierungen erforderte. Längerfristig kamen die Absolventen von 1973 klar mit der neuen Versuchsanordnung, vor allem im universitären Bereich. Ein paar gerieten in die kommunale Politik und Verwaltung. 

Wenige arbeiteten während der Revolutionszeit in den neuen Bürgerbewegungen oder in Stasi-Überprüfungs-Kommissionen mit. Eberhard Schubert erzählt, wie sie vom „Demokratischen Aufbruch“ vor der ersten freien Wahl 1990 nachts Plakate (über)klebten, latexgetränkt. Würde Papier nicht verrotten, hingen sie noch heute.

Reinhard Guthke, als Teilnehmer der Ökumenischen Versammlung von der Stasi in einer Operativen Personenkontrolle bearbeitet, wurde in dieser Zeit Stadtverordneter.

Der Katholik Peter Moos wurde 1990 Mitarbeiter der Thüringischen Staatskanzlei und Oberregierungsrat. Unter der SED hatte er immer Schwierigkeiten, weil er der „falschen Partei“ (CDU) angehörte.

Haft und Ausreise

Wer rechtzeitig die größte DDR der Welt verlassen hatte bzw. musste, war durchaus im Vorteil. Wiewohl auch dies in anderer Weise einen heftigen Einschnitt bedeutete. Zum Beispiel bei Reinhard Wulfert. Als dieser im Mai 1983 seine Deutrans-Umzugskisten in West-Berlin öffnete, waren alle wichtigen Unterlagen verschwunden. Er hatte kurz vor seiner Verhaftung seine Doktorarbeit fertiggestellt gehabt. Die Stasi und ihre Helfer durchwühlten und plünderten nicht nur den Umzugscontainer sondern ließen auch an der Universität alle Duplikate mit ddr-deutscher Gründlichkeit aufspüren und vernichten. So dauerte es mit seiner beruflichen Anerkennung in der neuen Heimat.

Wulfert war wie manch anderer Kommilitone nicht nur kulturell interessiert sondern auch aktiv in diesem Bereich. Er gründete die Theatertruppe „Die Treppe“, die 1976 in der Wagnergasse (Med.-Club) Brechts „Flüchtlingsgespräche“ mit aktueller Brisanz zur Aufführung brachte. Dabei immer im Blick des übereifrigen IMV „Bartholomäus Runge“ („Jugendseelsorger“ Michael „Constantin“ Stanescu, 1948 - 1996), der seinem Führungsoffizier Hauptmann Horst Henno Köhler, der später der vermutlich letzte Stasi-Offizier war, den Matthias Domaschk vor seinem Tod sah, fast täglich auch seitenlange Berichte über die Junge Gemeinde Stadtmitte lieferte.

Später gründete Reini Wulfert noch die Mittelaltermusik-Gruppe „Liedlai‘n“, was in der meist nur mündlichen Überlieferung als „Liedlein“ kolportiert wurde. Der Name sollte bedeuten, dass es sich bei den Musikern schlicht um Laien handelte. Fabelhafte Kritik an den politischen Zuständen war so möglich geworden.

Dennoch hat Wulfert sein Studium nicht vernachlässigt. Er büffelte immer bis der Schließer der Bibliothek in Aktion trat, was dem baldigen Beststudenten den Spitznamen „Knecht“ eintrug.

Als es Ende 1982 zu Verhaftungen in Jena gekommen war (Roland Jahn, Manfred Hildebrandt, Uwe Behr u.a.), sandte Reinhard Wulfert ein Telegramm an eine ausgereiste Freundin, das die Stasi abfing und ihm nach seiner Verhaftung im Januar 1983 zur Last legte: „Landesverräterische Nachrichtenübermittlung“. Dabei lautete der Text lediglich: „FUER BATTI SECHZEHN MONATE“. Das war eigentlich nur eine Tatsachenfeststellung. Manfred „Batti“ Hildebrandt war gerade zu 16 Monaten Haft verurteilt worden.

Es ging ihm also darum, das politisch motivierte Urteil gegen einen Freund bekannt zu machen und hatte mit dem „Ost-West-Konflikt“, wie es etwas unglücklich im Buch formuliert ist, nichts zu tun, sondern mit tätiger Solidarität für einen von kommunistischer Verfolgung Betroffenen.

Wenige Tage vor der bereits anberaumten Verteidigung seiner Dissertationsschrift wurde Reinhard Wulfert eingeknastet. Dieses Schicksal teilte er mit weiteren 14 Personen, die nach ihrer Haftentlassung die kurzlebige „Friedensgemeinschaft Jena“ gründeten. Nach seiner Vertreibung aus dem „Paradies“ Jena ins West-Berliner Paradies arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der TU Berlin.

Interessant gewesen wäre, zu erfahren, ob die ehemaligen Kommilitonen damals von seinem Schicksal Kenntnis erlangt und wie sie es aufgenommen hatten, zehn Jahre nach dem gemeinsamen Studienabschluss.

Die anderen im Buch umrissenen Leben verlaufen weniger dramatisch. Noch einer, der Grundlagenforscher Ivo Senff, der in die SED gezwungen werden sollte und nach seinem Beharren auf Meinungsfreiheit seinen Job verlor, wodurch auch die Promotion passé war, verließ 1988 mittels Besuchsreise die DDR. Zuvor war ihm noch bedeutet worden, dass er sich von seiner Frau trennen müsse, da diese berufliche Kontakte zu Franzosen pflegte. Anfang 1990 kehrte er zurück nach Jena.

Ein weiterer (Wolfgang Thiel) ging im Oktober 1989 mit der Familie gen West.

Kulturelle Freiräume 

Der geneigte Leser erfährt auch einiges über kulturelle und damit freiraumschaffende Aktivitäten der damaligen Studenten - von der Mitwirkung in Karnevalsvereinen über die Konzerte im Planetarium (Jochen Rose) bis hin zur legendären Veranstaltungsreihe „Musik im Hörsaal“, die Heinrich Endert, Paul Seidel und Karl-Heinz „Kalle“ Gaida vorantrieben. Abweichend von den anderen flüssig erzählenden Kapiteln wird dieser Part in einem aufschlussreichen Gruppen-Interview dargestellt. Die stets gnadenlos ausverkauften öffentlichen Konzerte hatten Musiker von Rock (Renft) über Soul (Panta Rhei) und Jazz (Manfred Krug) bis Freejazz (Conny Bauer, Han Bennink und Tristan Honzinger) zu Gast, wie es der Rezensent zum Teil selbst erlebte.

Einer der Physiker (Lothar Bade) verfasste Gedichte von denen drei im Buch dokumentiert sind. Da er in einem die deutsche Teilung betrauerte, flog er aus dem „Zirkel schreibender Arbeiter“ mit der Auflage: keine Veröffentlichung!

Ein späterer Schriftsteller (Harald Lindig) eckte 1972 mit Faschingstexten an und beim Physikerball mit satirischen Sketchen. Dem „Fisikerfasching“ ist ein extra Kapitel gewidmet. Beim sich anschließenden Parteitribunal war selbst das Lachen über banale Witze verboten. Erwähnt wird auch, dass 1956 das Kabarett-Programm des Physikerballs sogar Gefängnisstrafen (18 Monate) nach sich zog.

In den 69er Studiengang wurde ein Stasi-Spitzel mit dem Decknamen „Peter Weiß“ eingeschleust, der später Hauptamtlicher wurde. Auf ein Porträt von Hartmut Horst hat der Autor verzichtet.

Auch der Autor war dann mal weg

Die Biografie Roland Hensels ist nicht minder interessant, als die anderen im Buch dargestellten. Er, im Elternhaus pazifistisch geprägt, wurde aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert, was ihm die folgenreiche Wehrdienstverweigerung ersparte. Bald schon war er dennoch bespitzelt und von Berufsverbot bedroht worden. So ging er nach einem weiteren Studium (Fotografie) in Dresden zunächst nach Ostberlin (Prenzlauer Berg) und arbeitete hier ab 1982 bis zu seiner Ausreise 1986 neben Bernd Kanter und Jochen Schmidt im Antikriegsmuseum/Friedensbibliothek in der Bartholomäus-Kirche mit. Er trug als unabhängiger Fotograf vor allem für die dortige Dauerausstellung grundlegendes Material bei.

Zudem dokumentierte er das Waldsterben und die Folgen des Uranabbaus im Erzgebirge oder die Arbeit mit Behinderten. Einige Fotografien erschienen in bundesdeutschen Medien, woraufhin die Stasi eine Operative Personenkontrolle „Bart“ anlegte, glücklicherweise ihm aber nichts nachweisen konnte. Der sozialistische Staatsapparat versuchte, ihn, der keine Anstellung mehr fand, noch als „asozial“ zu kriminalisieren, was aber durch eine Pro-Forma-Anstellung bei der Korbflechterin Rommy Baumann (Frauen für den Frieden Ostberlin) abgewendet werden konnte. In Köln folgte dann ein Journalistikstudium. Nun lebt er in Dresden.

Viele der erwähnten Fotos befinden sich heute im Bestand des Oppositionsarchivs der Robert-Havemann-Gesellschaft, wenn auch leider bei Hensels Ausreise der Großteil der Negative verloren gegangen ist.

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Roland Hensel: Aufgebrochen. Spur des Ostens: Deutsche Porträts mit Wirkung. 

ISBN 978-3-86225-148-3

352 Seiten, 82 Abb., Gb., 34,80 Euro

https://www.gnt-verlag.de/aufgebrochen-portraets-ostdeutschland-mint-2-1148-inhalt.html

Porträt Gerold Hildebrand. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

Gerold „Hilli“ Hildebrand

geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war er Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs und zeitweilig Pressesprecher der Bürgerbewegung Neues Forum. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin und ist Diplom-Sozialwissenschaftler.

Bis zum Renteneintritt arbeitete er in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.