KGB-Museum, Pagari 1 ©Gerold Hildebrand 2025

Liebe und Verdächtigung in den Zeiten der Sowjet-Seuche in Estland

Gerold Hildebrand bespricht „Der Tod des vollendeten Satzes“ von Rein Raud

 

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod? Nein, hier geht es um etwas völlig anderes. Ein Heldenepos fast wie das Kalevipoeg, falls das jemand kennt? Auch nicht: Es geht um gebrochene Helden in einem unmenschlichen politischen System. Sie zeigten Mut und Rein Raud hat ihnen ein Denkmal gesetzt.

Am Ende der Sowjetrepublik

Der mit Krimi-Elementen ausgestatteter Kurzroman „Der Tod des vollendeten Satzes“ erschien bereits vor zehn Jahren auf Estnisch. Ein schmaler Band, der es in sich hat. Schauplatz ist Tallinn im August 1991. Rein Raud, Jahrgang 1961, estnischer Schriftsteller, Japanologe, ehemaliger Rektor der Universität Tallinn und Träger mehrerer Literaturpreise, nutzt die Form des Romans, um die dramatischen Ereignisse zu umreißen. Verdichtet. „Im Nachhinein zieht sich die Erinnerung zusammen.“ Das erklärt der Romancier vorab. Es geht also auch um die Jahre vor 1991, etwa ab 1987. 1988 überholen die Esten in ihrem oppositionellen Engagement, zum Beispiel mit ihrer Menschenkette am 23. August, bereits die Ostdeutschen. Das weiß hier nur kaum jemand - bis heute. Schon aus diesem Grund sollte das Buch neugierig machen. Wie lief das ab mit der „Singenden Revolution“?

Wer hat „gesungen“?

Allein mit Gesängen wäre die Freiheit nicht zu erringen gewesen, deshalb wurde nicht nur gesungen, sondern es musste vor allem der allgegenwärtige KGB (mit festem Sitz in der Pagari 1) überlistet werden. Und diese kommunistische Geheimpolizei, der garstige Urschrei und die Spinne im ostmitteleuropäischen Tschekisten-Netz, war noch gefährlicher und brutaler als der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst am Ende seiner Tage, wenn auch die Schläger der Volkspolizei bis zum 9. Oktober 1989 (an diesem Tag noch in Halle) wüteten.

Die Hauptaufgabe der Genossen vom Komitee für Staatssicherheit ist es, Vertrauen zu erschüttern. Ihre perfiden Verhörmethoden der Verunsicherung werden dem Leser nahegebracht. Wer arbeitet für sie? Wer ist Spitzel in unserer oppositionellen Gruppe? Wer hat beim Verhör gesungen, verraten, ist umgefallen? Fragen, die auch in der Opposition gegen den SED-Staat virulent waren.

Vertrauen, Verrat und Verdächtigung

Der Roman zeigt Verstrickungen auf und stellt die Frage nach Vertrauen, Verrat, Verdächtigung und Verantwortung. Wer ließ sich in dieser totalitären Diktatur korrumpieren? Gab es tragische Missverständnisse nach dem Blick hinter den geheimpolizeilichen Vorhang, also in einen Teil der KGB-Akten? Oder in Unkenntnis dieser?

Manches Beschriebene erscheint undenkbar. Zum Beispiel, dass tatsächlich abfotografierte KGB-Akten mit den Klarnamen von Spitzeln über konspirative Wege in Finnland landeten. Und nachdem sie davon erfahren, KGB-Genossen ihre Akten fälschten, um falsche Spuren zu hinterlassen. Es handelt sich ja auch um keinen wirklichen Tatsachenroman. Wenn da nicht die Geschichte mit dem Abtransport angeblicher Prostituierter wäre. Aber auch die vielen kleineren Schilderungen der Lebenswiklichkeit unter der Knute und des diversen Umgangs mit der Fremdbestimmung, deren Ende nicht absehbar war, sind real.

Die Handlung 

Los geht der fesselnd geschriebene Kurzroman damit, wie zwei Geheimpolizisten scheinbar eine Mahnwache (ohne schützendes Kirchendach) beobachten, die Freiheit für einen Dissidenten und den Abzug der Okkupationstruppen fordert. Eine Spannung ist gesetzt, dann geht es erst einmal um die sozialistische Zahnversorgungspraxis. Doch bald schon folgt die erste Verhaftung. Dann ein Streit im Elternhaus: Anpassen oder Aufbegehren?

Es folgt eine witzige Abhandlung über das Abhören von Hotelgästen. Dann noch mal der KGB und die leichten Aufweichungen in der Perestroika-Zeit. Die Moskauer Zentrale wittert weiterhin „hinter jedem schlecht sitzendem Pionierhalstuch den langen Arm der CIA “. Mit feiner Satire seziert und hinterfragt der Autor die Befindlichkeiten der Herren Geheimpolizisten und flicht eigene Erlebnisse, wie zum Beispiel Anwerbungsversuche, ein.

Von Samisdat bis Reform

Dann gibt es Einblicke in die Praxis des Samisdat (Schreibmaschinendurchschläge in Ermangelung von Druckmaschinen) einer Jugendgruppe und die Verhör- und Verunsicherungspraxis. Das Tableau der Handelnden erweitert sich stetig. Die meist ein- oder zweisilbigen Vornamen der Akteure erleichtern die Orientierung. Ihnen allen kommt eine wichtige Rolle zu in dem Puzzle, das wie ein Kartenhaus aus Dominosteinen umstürzen wird.

Der Werdegang von „Plötze“ (estnisch: Särg), dem Vernehmer, wird in seinen menschlichen und unmenschlichen Dimensionen beschrieben. Wie formt sich so ein Charakter aus? Schreiben von den „echten Dingen“ und Zeitzeugen befragen, rät der Autor in einem der vielen durch Kästen gekennzeichneten kursiven Einschübe in die zunächst mosaikartigen Handlungsstränge, die sich gemächlich verdichten.

Ahja, manches ist erklärungsbedürftig wie Friedebert Tuglas. Kann man aber googeln: ein bedeutender Schriftsteller. Doch wer war Aare Brombeere, dessen Freilassung die Mahnwache fordert? Der kommt ganz zum Schluss noch mal dran. Eine Brombeere (estnisch: Murakas) verfärbt sich.

Doch zunächst wird die Grundfrage der demokratischen Freiheitsrevolution gestellt: „Wie kann man bloß glauben, dass man ein ineffizientes, vollkommen korrumpiertes und eigentlich schon von Anfang an auf irrationaler, unmenschlicher Grundlage basierendes System von innen heraus reformieren könnte?“ Und wie bewahrten jahrzehntelang Geknechtete den aufrechten Gang?

Ganz praktisch 

Bald geht es im Buch um eine ganz praktische Frage: Wie bringt man eine Sekretärin, zudem noch Russin, dazu, auf ihrer Arbeitsstelle Akten zu kopieren? Die Dienststelle ist keineswegs eine beliebige, schließlich sind wir hier noch immer beim KGB. Vielleicht braucht es ein paar amüsante erotische Voraussetzungen. Die Erotik kommt, wie es sich für einen guten Roman gehört, wahrlich nicht zu kurz. Später wird mit einer anrührenden Liebesgeschichte auf dem Lande aufgewartet. Der Satz ist noch ganz vollendet, auch wenn er nirgends explizit ausgesprochen wird. Die Seite bleibt leer. Es wird ob der Verhältnisse im kommunistischen Überwachungsstaat tragisch enden.

Doch da sind wir schon mittendrin in einem unaufgeregten Gegenspionage-Thriller, der ob immer neuer Verwicklungen und Abhängigkeiten den Spannungsbogen pianissimo bis heftig über die Seiten gleiten lässt.

Spannung, Leistung, Widerstand

Die „Plötze“, das Rotauge ist wenigstens Este. Ein Leningrader kommunistischer Nomenklatur-Funktionär trägt den Namen Wladimir Wladimirowitsch. Ein Schalck, wer Putin dabei denkt. Zeichnen sich da Konfliktlinien ab? Kommt es zum Showdown at High Noon, haben wir es etwa mit einem Eastern zu tun, zumal der Sprößling des Geheimpolizisten „Plötze“ sich bald in oppositionellen Kreisen bewegt? Doch was hat es mit der Bisonscheiße auf sich. Schlag nicht nach bei Karl Marx, sondern bei Karl May.

Ostern ist längst vorbei und der Weihnachtsmann verteidigt den Hitler-Stalin-Pakt und erklärt die Geheimen Zusatzprotokolle für nicht existent. Aber manche vermutete Fährte scheint nicht zielführend zu sein, wie sich herausstellen wird. Wie kommt es dazu, dass jemand im Exil die Seiten wechselt? Remember. Auch in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), deren Bestand die Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.  kürzlich erwarb, gab es Spitzel. Ist jemand unter immensen Druck geraten, ein anderer nur labil gewesen? Das kann man hier einfach nachlesen und nachdenklich werden dabei.

Wie die Story denn ausgeht, soll nicht verraten werden. Sonst ist die ganze Spannung dahin. Und die nimmt gegen Ende noch zu.

Etwas Nachhilfe

Die verschiedenen historischen Entwicklungen im Baltikum sind in Deutschland kaum bekannt. Deshalb ist dem Buch auch eine hilfreiche Vorbemerkung des Übersetzers vorangestellt. Die seit Februar 1918 freie estnische Republik wurde nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1940 von Sowjetrussland annektiert und 1944 erneut, nach der Besetzung 1941 durch das national-sozialistische Deutschland und der damit verbundenen Ermordung der jüdischen Einwohnerschaft. Die beiden Okkupationen durch die Kommunisten hatten nächtliche Deportationen nach Sibirien zur Folge (Anschuldigungen wie Illoyalität gegenüber der Sowjetmacht). Der traurige Höhepunkt geschah 1949. Die Opferzahl übersteigt die 70.000. Überlebende durften erst Ende der 1950er Jahre zurückkehren. Etwa 6% der Bevölkerung, mehr als 22.000 wurden ermordet. Weitere 80.000 verloren ihre Heimat, ihnen gelang die Flucht.

Ein Monument in Tallinn-Maarjamäe (Maarja ist übrigens der Name einer Hauptfigur im Roman) listet heute die Namen aller bekannt gewordenen Opfer auf.

https://www.kommunismusgeschichte.de/lernen/gedenken/article/detail/denkmal-fuer-die-opfer-des-kommunismus-in-estland-tallinn-estland?type=0%27%22

Im März 1944 fielen 3.000 sowjetrussische Bomben auf Tallinn, das bis 1918 Reval hieß. Die mittlerweile liebevoll restaurierte Altstadt Vanalinn war glücklicherweise nicht vollständig getroffen worden. Die blau-schwarz-weiße Fahne Estlands war in der folgenden Sowjetzeit verboten und galt als Widerstandszeichen.

Im März 1990 erklärte Estland sich erneut zur Republik. Nach dem alt-kommunistischen Putschversuch in Moskau am 19. August 1991 und zeitgleich mit dem von Jelzin geführten Widerstand erklärte der Oberste Rat Estlands die volle Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Am 23. August 1991 wurden sofort der sowjetische Geheimdienst KGB und zwei Tage später alle Organe der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verboten. Das ist die historische Rahmung, die für das Verständnis des Romans von Bedeutung ist.

Distanz und innere Unabhängigkeit

Esten bewahrten Distanz und innere Unabhängigkeit ob der bolschewistischen Zurichtungen, die Individualität und Freiheit zu eliminieren trachteten. Wie das etwa schon im Kindesalter ablief, schilderte Rein Raud 2017 dem Deutschlandfunk, als er gerade Gastprofessor an der FU Berlin war: 

„Als ich zum ersten Mal in den Kindergarten ging, ich war drei Jahre alt, hat mein Vater auf dem Wege mir erzählt: ‚Wahrscheinlich wirst du jetzt alles über einen Kerl, der Lenin heißt, hören. Das solltest du nicht glauben. Aber das solltest du niemandem sagen, dass du es nicht glaubst.‘“

https://www.deutschlandfunkkultur.de/schriftsteller-rein-raud-sprachen-sind-wie-tueren-zu-100.html

Das erinnert doch sehr an das Verhalten von Ostlern im SED-Staat. Vladimir-Iljitš-Uljanov-Denkmäler sind übrigens - außer in Museen - heutzutage in Estland nicht mehr zu finden.

Die meisten Esten beherrschen drei bis vier Sprachen. Rein Raud ihrer zehn.

Flüssigen Liebe

Es gibt neben der politischen aber noch eine andere Ebene. Rein Raud ist vom Konzept der "Flüssigen Moderne" und der „flüssigen Liebe“ des Soziologen Zygmunt Bauman beeinflusst, den er häufiger interviewte (https://www.youtube.com/watch?v=zatsIRCjKRE). 

Merkt man das dem Roman an? Ein wenig. Eine Ära, die von Volatilität und Unsicherheit geprägt ist. Ganz vorbei ist das nicht.

Reiseempfehlung

Aufmerksam auf den Roman wurde ich durch die Rezension von Marko Martin: Schicksalssommer in Tallinn im Deutschlandfunk.

Ein bisschen Befangenheit sei gestattet, Herr Richter, da ich selbst begeisterter Estland-Fahrer bin und Leute und Land liebgewonnen habe. Es ist durchaus von Vorteil, die beschriebenen Gegenden Tallinns (deutsch: die dänische Stadt) etwas zu kennen wie zum Beispiel die Gegend um die Nikolaikirche. Oder Catherinenthal. Oder auch Käsmu. Die Lektüre kann zum Reisen animieren. Lennart Meri heißt nicht nur der Flughafen von Tallinn. Nur zu, Estland ist nicht mehr besetzt. Noch?

Der in FSB umbenannte KGB verfügt heute über 350.000 hauptamtliche Mitarbeiter. Der politische Auslandsdienst SWR, der für die Spionage zuständig ist, zählt 15.000 Mitarbeiter und der militärische Auslandsdienst GRU verfügt über Spezialkommandos für Sabotage und Morde. Für ihn sollen bis zu 45.000 Personen tätig sein.

Etwa 690.000 über die Jahrzehnte angesiedelte Russen inklusive ihrer Nachkommen leben in Estland, insgesamt hat das Nachbarland Finnlands 1,3 Millionen Einwohner. (Ich kann jetzt auch nur aus dem Internet abschreiben. Klarer Fall von Plagiat. Aber andere Zahlen möchte ich mir jetzt auch nicht ausdenken.)

Die Esten sind nicht nur digital der Zukunft zugewandt sondern auch sehr geschichtsbewusst. Der Roman leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Vergessene Geheimnisse? Hierzulande müsste das alles erst einmal erst mal wahrgenommen werden. Vor allem von denen, die verstockt glauben, es handele sich um „russische Erde“.

© Rote Katze Verlag

Rein Raud: Der Tod des vollendeten Satzes. Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt. Rote Katze, Lübeck 2025. ISBN 978-3-910563-31-5

https://rotekatzeverlag.de/shop/roman/der-tod-des-vollendeten-satzes-rein-raud

https://baltbuch.blogspot.com/2025/05/rein-raud-der-tod-des-vollendeten-satzes.html

 https://eichendorff21.de/buch/9783910563322/

Der ehemalige KGB-Sitz, ©Gerold Hildebrand 2025
Kalamaja, gestürztes Lenin-Monument ©Gerold Hildebrand
Tartu, Botanischer Garten ©Gerold Hildebrand 2025
Tritt ein in die Stadt, © Gerold Hildebrand 2025
Viele dieser verbannten Bücher wurden abgetippt und im Samisdat verbreitet ©Gerold Hildebrand 2025
Porträt Gerold Hildebrand. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

Gerold „Hilli“ Hildebrand

geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war er Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs und zeitweilig Pressesprecher der Bürgerbewegung Neues Forum. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin und ist Diplom-Sozialwissenschaftler.

Bis zum Renteneintritt arbeitete er in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.