Freundeskreis Totalverweigerer bei der Friedenswerkstatt am 26. Juni 1988 in der Erlöserkirche in Rummelsburg. © Robert-Havemann-Gesellschaft/Siegbert Schefke/RHG_Fo_SiSch_01_093-23

27.10.2025

Wehrdiensttotalverweigerung in der frühen DDR 

Eine beispiellose wissenschaftliche Untersuchung 

Gerold Hildebrand rezensiert die Publikation von Maximilian Rosin

Das Thema Wehrdiensttotalverweigerung in Ostdeutschland mag als Marginalie erscheinen, ist aber keine solche. Aus Waffendienst- und Wehrdiensttotalverweigerern speiste sich die frühe kleine und später etwas größere staatsunabhängige Friedensbewegung im SED-Staat. Dieser Personenkreis ist der dortigen Opposition zuzuordnen, da mit der offenen Verweigerung ein deutlich widerständiges Verhalten gegenüber dem zur sozialistischen Norm erhobenen Wehrdienst inklusive Waffenausbildung unter der Parole „Jederzeit gefechtsbereit“ verbunden war. Andererseits entschlossen sich diejenigen, die sich als Oppositionelle verstanden (darunter die im Buch benannten Hans-Henning Paetzke, Werner Ross, Bernhard Schneyer, Jürgen Israel, Uwe Koch, Thomas Auerbach, Christoph Wonneberger, Markus Meckel), ebenfalls häufig zur Wehrdiensttotalverweigerung - vor allem in den letzten Jahren der SED-Diktatur.

Zunächst handelte es sich um marginalisierte Einzelne, denen der Kompromiss einer bloßen Waffendienstverweigerung, die auch erst zwei Jahre nach Wiedereinführung der Wehrpflicht mit einer „Anordnung“ ermöglicht worden war, ein fauler war, da Bau- bzw. Spatensoldaten voll in militärische Strukturen eingebunden waren im Gegensatz zu Zivildienstleistenden in der Bundesrepublik. Erst 1986 gründete sich mit dem „Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer“ eine anlassbezogene Solidargemeinschaft.

Der Forscher Maximilian Rosin spannt in seiner Studie den Bogen bis zu dieser Vereinigung mit landesweiter Ausstrahlung, die eine Basiserklärung und ein Periodikum („Sag nein!“) herausgab sowie Fürbittgottesdienste für aus Gewissensgründen (nicht nur in der DDR) Inhaftierte organisierte. Auch Reservistendienstverweigerer schlossen sich ihr an.

Bernd Eisenfeld (1941-2010) und Peter Schicketanz (1931-2018) haben in ihrem herausragenden Werk hauptsächlich den Phänomenbereich Waffendienstverweigerung untersucht (Bausoldaten in der DDR. Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA. Ch. Links/Aufbau 2011).

Diese Geschichte der Waffendienstverweigerung von 1964 bis 1990 wird nun durch eine umfangreiche und tiefgründige Untersuchung des Thüringers Maximilian Rosin erweitert um das Kapitel Wehrdiensttotalverweigerung, beschränkt zwar auf die 1960er Jahre, dennoch diesen Zeitraum überschreitend.

Ihm gelang, die bisherigen statistischen Erhebungen, die aufgrund einer diffusen und unvollständigen Quellenlage zum Teil nur aus Hochrechnungen bestehen konnten, weitgehend zu ergänzen. Manche Aktenbestände der „Nationalen Volksarmee“ sind erst in jüngster Vergangenheit im Militärarchiv Freiburg erschlossen worden.

Damit liegt ein weiterer wesentlicher Baustein zur Oppositions-, Repressions- und Diskriminierungsforschung sowie der spezifischen Kirchen- und Christentumsgeschichte bezogen auf die kommunistische Diktatur in der DDR vor. Da der überwiegende Teil der Wehrdiensttotalverweigerer - im Hauptuntersuchungszeitraum 1960er Jahre - religiös geprägt war, wurde mit der Untersuchung zugleich ein wichtiger Beitrag zum Thema Diskriminierung von Christen (inklusive der Zeugen Jehovas und anderer christlicher Religionsgemeinschaften) in der DDR geleistet.

Zahlen

Maximilian Rosin, im universitären Raum tätig in Jena und München, erforschte vornehmlich, wie hoch das Aufkommen an Wehrdiensttotalverweigerern in den 1960er Jahren war, aus welchen Motiven diese handelten, in welcher Weise sie sozial und religiös geprägt waren, welche Maßnahmen der SED-Staat gegen sie ergriff, wie sich die kommunistische Repression entwickelte und inwieweit die Betroffenen sich in Netzwerken organisierten.

Den drohenden Zwangs-Einberufungen aus Gewissensgründen nicht Folge leisten zu können, erklärten gleich nach Einführung des Wehrpflichtgesetzes 1.550 junge Männer, von denen 51 sofort verhaftet wurden (vgl. die akribische statistische Analyse S. 77 ff., 166).

Diese frühen Verweigerer sind noch nicht als Wehrdiensttotalverweigerer zu klassifizieren, da es schlichtweg keine andere Möglichkeit gab, den Waffendienst zu verweigern, wie der Autor hervorhebt (Rosin im vorliegenden Buch, S. 18). Ein Teil von ihnen ging später den Kompromiss des Bausoldatendienstes ein.

Andere wurden dann durch Dienstverweigerung (Ablehnung der Arbeit für militärische Zwecke) während ihres Bausoldatendienstes zu partiellen Totalverweigerern, die in Straflagern landeten.

Insgesamt verweigerten 25.000 Wehrpflichtige von 1962 bis 1989 den Grundwehrdienst (Rosin, S. 75). Im Untersuchungszeitraum 1962 bis 1970 wurden 4.993 Wehrdienstverweigerer aktenkundig (Rosin, S. 77), etwa 0,34% aller Gemusterten (ebd., S. 80). Allerdings liegen in den NVA-Akten Doppelzählungen vor, da manche mehrmals zur (erneuten) Musterung bzw. Einberufungsüberprüfung vorgeladen wurden. So bleiben rund 3.500 Einzelpersonen (ebd., S. 78).

Der vermutlich erste Verurteile (Manfred H. aus Meißen) musste für sieben Monate ins Gefängnis und wurde später nochmals einberufen - in die Baueinheiten der NVA.

Quellengrundlage

Das umfangreiche Grundlagenforschungsprojekt speist sich aus drei Säulen: Archivrecherche, statistische Analyse und biografischer Ansatz.

Grundlage sind Recherchen in Archiven (u.a. Militärarchiv Freiburg, Oppositionsarchiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk”, Bundesarchiv /Stasiunterlagenarchiv, Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas, kirchliche und private Archive). Hinzu kommt die Auswertung von Fürbittlisten, Selbstzeugnissen von Zeitzeugen, Zeitzeugeninterviews sowie der bereits vorliegenden Literatur.

Hauptsächlich durch die Vorarbeiten von Hans-Hermann Dirksen und Falk Bersch zu den Zeugen Jehovas konnte der Buchautor verschiedene Schicksale anschaulich nachzeichnen.

Beginnend mit der ideologischen Ausgrenzung durch den staatlichen Atheismus arbeitet er konkrete Benachteiligungen in Bildung und Beruf heraus, etwa bei der Vergabe von Studienplätzen oder dem beruflichen Aufstieg. Er beleuchtet die Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit, die Repressionen gegen die kirchliche Jugendarbeit und die Zensur religiöser Publikationen. 

Zum Hintergrund

Der totalitäre Herrschaftsanspruch der kommunistischen SED führte zu einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft. Besonders die nachwachsenden Generationen sollten zu „glühenden“ sozialistisch indoktrinierten Kämpfern herangezüchtet werden.

Kurz nach dem Mauerbau, nachdem Fluchten nur noch unter Lebensgefahr möglich waren, führte die SED im Januar 1962 die allgemeinen Wehrpflicht wieder ein, was mit Inhaftierungen Unwilliger einherging.

Die Anfangsphase nach der Wehrpflichteinführung ist durch einen recht willkürlichen Umgang mit den Verweigerern gekennzeichnet. Neben Verurteilungen zu Haft gab es Strafarrest, Bewährungsstrafen und andere wiederum wurden erst einmal zurückgestellt. Manche ereilte das Schicksal der Doppelbestrafung, da sie nach Haftende nochmals einberufen wurden und erneut ins Gefängnis kamen. Ein kleiner Teil wurde „nur“ in seinem beruflichen Fortkommen behindert.

Vor allem Bischof Gottfried Noth hatte sich immer wieder für verhafte evangelische Christen eingesetzt, sodass zunächst von 1963 bis April 1964 nur totalverweigernde Zeugen Jehovas einberufen worden waren (Rosin, S. 167).

Die 1964 auf kirchliche Interventionen und die zahlreichen Verweigerungsankündigungen hin erlassene Bausoldatenanordnung blieb im gesamten Ostblock einmalig. Der Spiegel vermeldete zwar am 05.08.1979, dass Polen einen Ersatzdienst für wehrpflichtige Studenten eingeführt habe, die ihre zweijährige Dienstzeit auch in Einrichtungen der Zivilverteidigung, Krankenhäusern, beim Umweltschutz und bei kommunalen Hilfsdiensten ableisten könnten.

In der Praxis gab es jedoch auch in Polen noch 1988 keine Wahlfreiheit, als dort erst ein neues Gesetz über die Möglichkeit eines zivilen Ersatzdienstes in Kraft trat. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung wie in der Bundesrepublik (Grundgesetz Artikel 4.3) existierte jedenfalls nicht. 

Im Zuge der Einführung des waffenlosen Bausoldatendienstes wurden 22 Monate Haft für Wehrdiensttotalverweigerung zur Regel. Bewährungsstrafen waren jetzt wegen ihrer „Gesellschaftsgefährlichkeit“ obsolet geworden. Mittlerweile war auch eine „sozialistische Militärgerichtsbarkeit“ installiert worden. Die meisten Verurteilten kamen ins Strafvollzugskommando Berndshof bei Ueckermünde. Später dann saßen sie in verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen ein. Wer bereits Militärangehöriger war und verweigerte, landete ab 1968 im berüchtigten Militärknast Schwedt.

Wandlungen

Die zeitliche Beschränkung der Untersuchung auf die 1960er Jahre macht es einfacher, auf den Umgang mit Christen unter den Totalverweigerern zu fokussieren, deren größte Teilgruppe die Zeugen Jehovas waren.

Anzumerken bliebe hier, dass es für erklärte Kriegsdienstverweigerer auch in der Bundesrepublik während der 60er und 70er Jahre nicht einfach war, anerkannt zu werden. Hier waren ebenfalls Zeugen Jehovas zunächst die größte Gruppe unter den Wehrpflichtotalverweigerern. Erst 1969 wurde mit der „Lex Jehova“, dem Paragrafen 15a im Zivildienstgesetz, ihnen das Recht eingeräumt, sich mit einem freiwilligen längeren Arbeitsverhältnis im sozialen Bereich Sanktionen für eine Vollverweigerung zu ersparen. 

Demokratien sind in der Lage, Abwägungen vorzunehmen zwischen Staatsräson und Minderheitenrechten. Allerdings bleibt in einem Rechtsstaat das Primat der Verfassung, vor der religiöse oder ideologische Ansichten und Vorschriften zurückzustehen haben (Gleichheit vor dem Gesetz).

Im SED-Staat erklärten in den 1980er Jahren zunehmend auch Nichtchristen offen ihre entschiedene Verweigerung (S. 22, 390). Sie wollten diesem Unrechtsstaat nicht dienen (Ausreiseantragsteller, anarchistisch geprägte Punks und andere Oppositionelle, vereinzelt auch bekennende Buddhisten, Mennoniten, Quäker). In ihren Kriegsdienstverweigerungserklärungen beriefen sie sich fast ausnahmslos schlicht auf ihr Gewissen. Eine politische Begründung (Ablehnung der kommunistischen Diktatur) hätte zusätzliche Haftjahre eingebracht wegen „Staatsverleumdung“.

Im November 1985 wurden 64 erklärte Totalverweigerer einberufen und in Untersuchungshaft gesteckt. Nach Unterschriftensammlungen oppositioneller Gruppen, Westöffentlichkeit und kirchlichen Protesten wurden die Einberufungsbefehle 14 Tage später zurückgezogen. Damit entfiel der Haftgrund und alle wurden aus der Haft entlassen. Selbst ein bereits zu 20 Monaten Verurteilter, der gebürtige Jenenser Klaus Heller aus Magdeburg, wurde frei gelassen. Vier hatten sich umentschieden, waren nach einschüchternden Verhören von ihrer Totalverweigerung abgerückt und wurden den Baueinheiten zugeteilt.

Dann starb während dieser Tage auch noch Verteidigungsminister Heinz Hoffmann.

Wer seine Totalverweigerung dem Wehrkreiskommando anzeigte und Kontakte zu Kirchenkreisen vorweisen konnte, wurde seitdem nicht mehr einberufen, was damals aber niemand ahnen konnte, da es im sozialistischen Unrechtsstaat DDR keine Rechtssicherheit gab. Die Strafgesetze blieben unverändert bestehen.

Nicht alle Vollverweigerer blieben reine Pazifisten. Naphtalie (damals Nico) Hübner zum Beispiel, der 1978 als 23jähriger zur Höchststrafe (fünf Jahre Haft) verurteilt worden war, verteidigt heute sein Land Israel, in dem er seit 1988 lebt, vor islamistischen Angriffen. Er hatte sich bei seiner Verweigerung in Ostberlin vergeblich auf den entmilitarisierten Status ganz Berlins berufen. Ins damalige West-Berlin hingegen hatten sich zahlreiche Wehrpflichtunwillige aus den Bundesländern abgesetzt.

Fazit

Maximilian Rosin empfiehlt sich mit seiner ausführlichen Analyse als akribischer Forscher auf dem Gebiet der Zeitgeschichte. Das fast 500 Seiten umfassende Werk ist ansprechend gegliedert und verfügt neben einem ausgiebigen Quellen- und Literaturverzeichnis über ein mit Kurzbiografien versehenes Personenregister, das das Auffinden von Fallstudien zu damaligen Akteuren und Einzelschicksalen erleichtert. Fragebogen und Interviewleitfaden werden offengelegt. Aufwändige statistische Erhebungen sind in Diagrammen visualisiert, die Entwicklungsverläufe anschaulich darstellen. Die Durchdringung des Forschungsgegenstands wird in einer allgemein verständlichen Sprache dargeboten, die sich elitärer Abschottung völlig enthält und auch haltungs-erzieherisch gemeinte gesinnungspädagogische Polemiken strikt vermeidet. So ist die Lektüre einem breiten Publikum anzuempfehlen.

Zu danken ist dem Freistaat Thüringen, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und nicht zuletzt der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die das Forschungsprojekt und dessen Veröffentlichung (Druckkostenzuschuss) gefördert haben.

Die Robert-Havemann-Gesellschaft konnte dem Forschenden durch ihren Archivbestand erhellende Dokumente zur Verfügung stellen sowie Kontakte zu Zeitzeugen vermitteln.

Die Projektbetreuer und Herausgeber des Bandes, Professor Christopher Spehr und Dr. Roland M. Lehmann bescheinigen dem Nachwuchshistoriker Maximilian Rosin „geradezu kriminalistischen Spürsinn“ mit dem er sich dem Thema annahm. Ohne diesen Ehrgeiz wäre eine solch akribisch herausragende Arbeit nicht entstanden.

© Vandenhoeck & Ruprecht

Maximilian Rosin - "Totalverweigerer in den 1960er Jahren"

Christopher Spehr / Roland M. Lehmann (Hg.), Diskriminierung von Christen in der DDR. Band 2. Vandenhoek & Ruprecht Verlage, Göttingen 2025, 470 Seiten.

ISBN 978-3-525-50115-3. 95,00 €

Porträt Gerold Hildebrand. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

Gerold „Hilli“ Hildebrand

geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war er Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs und zeitweilig Pressesprecher der Bürgerbewegung Neues Forum. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin und ist Diplom-Sozialwissenschaftler.

Bis zum Renteneintritt arbeitete er in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.