Offener Brief an die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder zur Besetzung des Bundesverfassungsgerichtes am 15.05.2020

Sehr geehrte Damen und Herren,

am kommenden Freitag stehen im Bundesrat Neuwahlen für das Bundesverfassungsgericht an. Sie haben damit die Möglichkeit, einen jahrzehntelangen Missstand abzuwenden und zugleich – im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit – ein wichtiges Zeichen zu setzen, das weit mehr als nur ein Symbol ist.

Wir unterstützen nachdrücklich die Wahl von Jes Möller zum Richter des Bundesverfassungsgerichts.

Jes Möller besitzt als erfahrener und angesehener Jurist alle fachlichen Voraussetzungen für das hohe Amt. Aber auch sein Werdegang ist eine Empfehlung, denn er stand für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu einer Zeit ein, als dies mit hohen Risiken verbunden war und Bildungswege versperrte. Zum Glück war er 1990 noch jung genug, ein neues Studium zu beginnen und dann im Osten unseres Landes als Jurist dazu beizutragen, dem Rechtsstaat zu Ansehen und Wirksamkeit zu verhelfen.

Vielleicht meinen einige von Ihnen, dass es nach 30 Jahren deutscher Einheit keine Rolle mehr spielen darf, ob jemand ost- oder westdeutsche Wurzeln hat. Und dass das, wenn überhaupt, allenfalls symbolische Bedeutung hätte. In diesem Fall müssten wir Ihnen aus mindestens zwei Gründen widersprechen:

Erstens beruht unsere repräsentative Demokratie darauf, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Identität sich überall dort vertreten sehen, wo relevante Entscheidungen für das Gemeinwesen getroffen werden. Bitte unterschätzen Sie nicht, was es für Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mit DDR-Vergangenheit bedeutet, wenn man, wie es leider tatsächlich der Fall ist, in den Führungsebenen von Unternehmen, Verbänden, Medien, Bundeswehr, Kirchen, Gewerkschaften, Verwaltungen und eben auch Gerichten kaum Menschen mit ostdeutscher Herkunft antrifft. Aussagefähige Zahlen dazu gibt es leider in Fülle.

Aber es geht, zweitens, nicht nur ums Prinzip, sondern auch um die Praxis. Jeder weiß, dass Erörterungen und Diskussionen immer auch durch den Lebens- und Erfahrungshintergrund der Beteiligten belebt und geprägt werden. Wir haben oft erfahren, dass Debatten anders verlaufen – je nachdem, ob die „Wessis“ und „Ossis“ unter sich waren oder sich einander mitteilten und zu verstehen suchten. Wir können uns nicht vorstellen, dass das beim Ringen um die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts völlig anders ist.

In den zurückliegenden Jahrzehnten sind herausragende Positionen höchst selten mit Ostdeutschen besetzt worden. Anfangs fehlten dafür oft fachliche Voraussetzungen, Erfahrung oder Laufbahnvoraussetzungen, später war es oft einfach nur der Mangel an Vernetzung und Empfehlungen.

Umso erfreulicher ist die Nominierung von Jes Müller, der fachlich und persönlich über alle Voraussetzungen für dieses hohe Amt verfügt. Deshalb bitten wir Sie, wenige Monate vor dem 30. Jahrestag der deutschen Einheit die Gelegenheit zu ergreifen und endlich dafür zu sorgen, dass diese Einheit auch in der Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts sichtbar wird.

Mit hochachtungsvollen Grüßen

Marianne Birthler
Martin Böttger
Frank Ebert
Rainer Eckert
Annette Hildebrandt
Ralf Hirsch
Freya Klier
Ilko-Sascha Kowalczuk
Tina Krone
Thomas Krüger
Susanne Kschenka
Petra Morawe
Maria Nooke
Gerd Poppe
Ulrike Poppe
Werner Schulz
Uwe Schwabe
Annette Simon
Lothar Tautz
Reinhard Weißhuhn

13.05.2020

Kontakt:
Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. , Berlin
info@havemann-gesellschaft.de