Sex & Dreck & Sozialismus

von Gerold Hildebrand

Scheiße, jetzt hat der nach zwölf Jahren schon wieder so ein dickes Buch verfasst und ich habe noch nicht mal das alte gelesen. Nun aber ab aufs Lesesofa. Späte Lektüre muss nicht verspätet sein.

Die Rede ist von Jan Faktor und seinem 637seitigen Schmöker "Georgs Sorgen um die Vergangenheit". Das ist aber nur die Hälfte des aufwändigen Titels. Das Wort "Trottel", das Faktors jüngstes und bereits ebenfalls frenetisch bejubeltes Werk als Titel ziert, ist im Georgs-Roman schon mindestens zehnmal angelegt. Eine Investition in die Zukunft. Gut, das weiß man jetzt, fällt einem dann erst auf, wenn anderes passiert ist. Also eine neue Mitteilung zum Beispiel. Jan Faktor versucht, etwas mit zu teilen, was vermutlich nur vollständig gelingt, wenn das Geteilte etwas ist, das vorher etwas Ganzes war, also allen mit dem Geteilten Beschenkten als Ganzes auch daher kam. Oder aber als Ganzes erkannt und angenommen wird. Also als gemeinsame Geschichte zum Beispiel, um die sich zu sorgen ist, der man sich annehmen sollte - und nicht nur besorgt. Sorglos offenherzig doch nicht gleichgültig. Gleich gültig ist in der Geschichte und Geschichtsdeutung ohnehin nichts. Auch nicht in der Gegendwart. Die Gegenden sind zwar gleich, aber die Wahrnehmungen variieren. Wahriieren?

© Buchcover

Die "Goldene Stadt" in all ihrer Gräulichkeit der 60er und 70er und der dauerdahinpubertierende Georg mittendrin. So könnte man den Roman von 2010 nüchtern zusammenfassen. Das Grauen hat mit den Insassen in den Zeiten des Kommunismus zu tun wie auch mit den vorgelagerten Widerfahrnissen, die die die Shoah Überlebenden der jüdischen Familie "Schornstein", um die sich im Roman alles dreht, erleiden mussten. Faktor vermeidet dabei jedes Pathos. Das Grauen schleicht sich auf grauen Filzlatschen an, um den Leser unvermittelt um so wuchtiger anzuspringen. Natürlich geht das Leben der Davongekommenen weiter: liebenswürdig schrullig und mit Macken behaftet, die alle Erdenmenschen allzeit auszeichnen.

Der frauenfixierte Glotzblick des heranwachsenden Georg als begieriger und quasi Bukowski-gesättigter Bewunderer und Beischläfer: Arschgeil bis zotig in kaum noch geläufiger bäurisch-prolliger Alltagssprache. Es spielt ja im Arbeiter- und Bauernparadies. Ist solcherlei im heutigen Biederprüder, wo man andererseits nicht mehr wissen sollte, ob man Männlein, Weiblein oder gar Sternchen ist, überhaupt noch "gesamtgesellschaftlich" erwünscht? Pflichtschullektüre wird der launige Roman einer Jugend vermutlich so schnell nicht werden. Aber nein, es ist auch fein. Bukowski ist nix dagegen. Lesen, genießen. Auch verstören lassen. Ist das Leben nicht schön? "Was ist der Grund für meine gute Laune? Einfach alles." Dazu gehört dann auch das Schlimme im Leben. Okay, das hat mehr mit dem "Trottel" zu tun, war aber beim Georgs-Roman gewiss auch schon handlungsleitend.

Den bis zum Erbrechen detailliert beschriebenen Dreck in Georg-Vaters Wohnung kann man getrost als Metapher für das tschekistische System auffassen, das nur leicht tschechisch-schwejkisch-bieriggierig modifiziert daherkommt. Der familiengetrennte Vater ist trunkseliger und überzeugter Geheimpolizist. Das hat mit seinen falschen Freunden zu tun, urteilt der aufgeweckte Sohnematz. Aber selbst der StB-Hauptamtliche fällt nach 68 vom ideologischen Glauben ab und schimpft dann nur noch über die "Kommunistenschweine".

Nebenher geizt Faktor nicht mit Praxistipps. Zum Beispiel, dass man in einen Fluss eingelegtes fettiges Geschirr nicht wirklich sauber bekommt. Auch die Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft versagen unter einer Diktatur. Aber wer weiß, wozu das alles noch einmal Nütze sein wird angesichts drohender Klimawandelnotverordnungen, wenn der Mietwohnungstemperaturdeckel dräut.

Faktor nimmt die Zeitgenossen seiner Jugendzeit - und nicht nur die Genossen unter ihnen - gekonnt aufs Korn. Manche wären auch ohne den kommunistischen Schmäh unerträglich gewesen. Das ungeliebte politische Hirn-Unterdrückungssystem erzeugte jedoch noch einmal ganz spezifische Deformationen.

Es geht aber auch um das Dissidentenerwachen, die Zeit um 1968, die er kritisch seziert und dabei nebenher Illusionen eines angeblich "menschlichen Sozialismus" entzaubert, sowie um die schon konkreter oppositionell ausgeprägte Charta 77 und nicht zuletzt die aufmüpfige Jugend- und Musikszene.

Dass die im Buch häufig zitierten "The Plastic People of the Universe" zu Faktors Lieblingsbands zählen muss, konnte ich 2006 im Haus der Berliner Festspiele feststellen. Wir hüppelten beide andächtig zu den Takten der „Velvet Underground“ des Ostblocks. Schließlich war Andy Warhols "Factory" urslowakisches Einflussgebiet in the U.S.A.

Dem "gelernten DDR-Bürger" kommen bei der kurzweiligen Lektüre düstere Erinnerungen hoch an Situationen in der sozialistischen Arbeits- und Lebenswelt, die es in Leipzig, Jena oder Ostberlin in ganz ähnlicher Weise gab. Da muss man jetzt nicht unbedingt Müllfahrer gewesen sein wie der begnadete Ich-Erzähler Georg. Schließlich waren „wir“ ja sowjet-kommunistische Bruderstaaten. Faktor erweist sich dabei als ein Künstler der dichten Beschreibung. Und man findet viele Antworten auf Fragen, die das Nachbarland betreffen: Was ist ein EL GRETSCHKO? (342) Oder gar zum ferneren maoistischen China: Wie ermöglichten und bekämpften die Rotchinesen ihre Fliegenplage? (220)

Dichter neigen oftmals dazu, es mit historischen Details nicht sonderlich ernst zu nehmen. Ist ja halt Dichtung. Anders Jan Faktor, auch wenn die handelnden Personen überwiegend Phantasienamen tragen. Der historische Kontext wird genau ausgeleuchtet und manche Anekdote bringt schlaglichtartige Erkenntnis, mit der ein dröges Geschichtsbuch kaum mithalten kann. Das ein oder andere meisterhaft Fabulierte wird wohl genau so stattgefunden haben. Vermutlich mehr davon, als der Leser es sich ausmalt.

Aber woher weiß der Autor das alles? Jan Faktor ist in Prag aufgewachsen bevor er 1978 in den ostberliner Prenzlauer Berg einwanderte und die dortige Literatenszene der 80er Jahre bereicherte, die Zersammlung, die bei genauer Betrachtung aus vielleicht fünf literarisch wirklich Begabten bestand (Uwe Kolbe, Peter Wawerzinek, Detlef Opitz und Lutz Rathenow schon einberechnet, die eher eigene mondäne Trabbis bildeten) und auf Dachböden oder in kirchlichen Freiräumen ihre Ergüsse Grenzüberschreitungssüchtigen darbot.

Dass Faktor jetzt in Pankow die Kneipe "Prager Frühling" betriebe, ist jedoch nur ein Gerücht. Da gibt es ja nicht mal Knödel, aber gutes Bier. Und "Alkohol mit menschlichem Antlitz". Prager veranstalteten tatsächlich am 4. Oktober 2022 ein Volks-Referendum putinländischer Prägung, infolgedessen Kaliningrad tschechisch wurde und nun Královec heißt. War ja schließlich vor Urzeiten mal böhmisches Dorf. Jetzt kommt auch die Bierpipeline. "Make Královec great again!"

https://www.spiegel.de/netzwelt/visit-kralovec-tschechische-internettrolle-erklaeren-kaliningrad-fuer-annektiert-a-66af7e9a-03d1-41f4-af22-1cb2071809cd

Das schweift jetzt aber dahin, fast wie es der Roman genüsslich zuweilen auch tut. Komma aufn Punkt. Auf welchen? Und warum das Komma?

Ein Roman kann auch blödelige Texte wie diesen gebären - als Kopfgeburt.

Unlängst erzählte mir einer, dass der Jan den schizophrenen Spieler Sascha A… Anderson (Anderson nach 30 Jahren Akteneinsicht, als wäre nichts gewesen zu Lutz Rathenow auf der letzten Frankfurter Buchmesse: "Lesung war gut, gehen wir noch ein Bier trinken?") bereits damals durchschaut, sozusagen gerochen hat, als alle Stasi-Akten lange noch unzugänglich waren. "Mit dem ist was nicht in Ordnung." Über Geruchssinn ist im Buch auch einiges Interessantes zu finden, wenn auch nicht unter der Maßgabe "wie rieche ich richtig?"

Faktor erdichtet statt vordergründiger Belehrungen viele neue und frappierend erhellende Wortschöpfungen und Neukonstruktionen. Zum Beispiel:

Langsame Eingreiftruppen (444)
Neuzeit-Demiurgen (445)
Beulenlandschaften (446)
Verrottungswettbewerb (446)
sozialistische Moralstatthalter (383)
Buddelkasten-Politbüro (369)
Rückwärtsgang-Ingenieur und Beifahrerdoktorand (406)
NORMALISIERUNG - dieses euphemistische Vergewaltigungswort (407)
das ideologische Bombardement (535)
Umvolution von 1989 (540)
Die bepistolten DDR-Grenzer (564)
Vernichtungspflege (567)
Konzentrationsgaststätte (570)
Sättigungsgemeinschaften (575)

Gut, man muss das jetzt im Kontext lesen im Druckwerk. 

Vor allem aber ist es ein fröhliches Buch, das mit fein- und hintersinnigem Humor nur so gespickt ist. Vorsicht, es könnte Lachsalven provozieren. Auch Georg übt immer das Lachen. Der Rezensor muss deshalb eine herbe Kritik loswerden: Zur nächtlichen Lektüre sind die schelmischen Stellen im Roman nicht geeignet, wenn man durch lautes Wiehern nicht seine Nachbarn aufwecken möchte. Man weiß nie, wann die kommen. Also nicht die Nachbarn sondern die Stellen.

Apropos Schwejk. In einem Straßen-Disput der in die Arbeiterklasse hinaufgestoßenen Dissidenten (eine Art spazierende - nicht unbedingt fliegende - Universität) heißt es fast am Ende des Wälzers: "Die ganze Welt ist von unserem Schwejk immer so begeistert - und mir geht das schon lange auf den Geist. … Er funktioniert nur beim Lesen so reibungslos - dank unserer Phantasie. … alle, die die Macht reizen, tun das nicht durch Schwejkeln, sondern durch Geradlinigkeit." (528/532/534)

Schließlich geht bekanntlich gesellschaftlich alles gut aus: "Alle sagen jetzt generell "unter den Kommunisten". Egal, wieweit sie selbst mitgemacht haben." (540)

Doch auf den letzten Seitenmetern wird es noch einmal sehr sehr ernst. Die spannungsgeladene Reise nach Christianstadt am Bober mit dem ehemaligen Außenlager "Ulme" des KZ Groß Rosen greift familiäre Erfahrungen und die von Ruth Klüger und Alice Licht auf. Die Jugenderinnerungen Klügers "weiter leben" lehnte übrigens Suhrkamp ab: "Zu wenig literarisch!" https://m.faz.net/aktuell/feuilleton/themen/das-vergessene-konzentrationslager-christianstadt-tarnname-ulme-11027861.amp.html

"Eher Hackfleisch als Literatur" ist der Roman jedenfalls nicht. Es ist ja auch nicht Georg, der hier fabuliert und die Überschriften verraten nicht immer, was die 43 Kapitel bergen. Die springen auch in den Zeiten. Eine andere Lesereihenfolge zu wählen, lohnt vermutlich auch nicht. Am Ende und künftig weiß man immer mehr.

Und in Zukunft? Das Dichte wird immer dichter. Das Büche immer bücher. Die Schreibe immer Schreiber.

 

Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2010. ISBN 9783462041880 Gebunden, 637 Seiten, 24,95 EUR.

 

 

Schriftsteller Jan Faktor bei der Eröffnung der Open-Air-Ausstellung "Revolution und Mauerfall" am 15. Juni 2016. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter