„Mein Kind hat keine Jugendweihe und mein Kind wird auch nicht geschlagen“, sagt Mitte der 90er Jahre eine Tochter zu ihrer Mutter in Wismar.
„Stille. Schweigen. Jetzt bloß nicht ins Reden kommen.“ (S. 156)
Die Hauptfigur Stine in Anne Rabes Roman ist eine Spät-Dissidentin, nicht eine von der Sorte der spät Aufgewachten und Gratismutigen, sondern eine 1986 Späthineingeborene in die ostzonale kommunistische Diktatur. Dritte Generation Ost.
Kein Erziehungsroman, eher das Gegenteil. Anne Rabe setzt sich mit den autoritären Zurichtungsmethoden auseinander - in den Familien, die die SED-staatliche Infantilisierung der DDR-Insassen grundierten.
Der Erzählstrang mäandert, springt zwischen den Zeiten. Stine hat nur rudimentäre Erinnerungen, aber sie will es wissen: Was war mit ihren Eltern, den Großeltern und Tanten? Gläubige Kommunisten, aktive Mitläufer, so viel weiß sie schon. Was haben die Großeltern zur Herrschaftszeit der Nationalsozialisten gemacht? Woher kommt diese Gewalt in der Familie und der Gesellschaft, deren Ausfluss auch die Baseballschlägerjahre in den Neunzehnneunzigern sind?
Dieses episodenhafte Mäandern, das den Leser herausfordert, erweist sich als geschicktes literarisches Stilmittel, das verdeutlicht, wie es Nachgeborenen geht, auf die ganz widersprüchliche Aussagen über die alte Zeit hernieder prasseln. Da muss sich die Hauptfigur erst einmal orientieren und kundig machen.
Stine bleibt dran und liest fast alles, was mittlerweile über die SED-Diktatur geschrieben steht, gräbt sich in Archiven durch die Vergangenheit, besucht die Gedenkstätte Hohenschönhausen.
Vor allem aber geht sie der Familiengeschichte nach. Eltern und Großeltern blieben SED/PDS-Genossen bis zu den vorletzten Stunden. Am Abendbrottisch wird nicht viel geredet und vor allem nicht mit vollem Mund, Kinder, und wenn, dann wird nur Ostalgysie verbreitet. So bleibt auch die Gewalt in der Familie unaufgearbeitet. Keine Diskussion! Nie anders gelernt. Die Großeltern könnten erinnerungstechnisch gleich mit zwei Diktaturen aufwarten.
Welche Schlüsse zogen sie aus ihren Erfahrungen, dann als das Schweigen-Brechen angstfrei möglich gewesen wäre? So viel sei verraten: keine, die bestimmt schmerzhaft gewesen wären, dafür aber eine aktive Loslösung von ideologischer und repressiver Erfahrung ermöglicht hätten.
Stine verlässt ihr Elternhaus, was auch eine Generation vor ihr viele Jugendliche in der DDR taten. Spätere Besuche bleiben unangenehm und enden in rascher Flucht vor den anhaltenden mütterlichen Demütigungen. Es handelt sich auch um einen Familienroman wie „Machandel“ von Regina Scheer, aber genau wie dieser ist es mehr als nur das.
Die Episoden muten zunächst unspektakulär an, „flackernde Streiflichter“, verdichten sich aber zu einem aufwühlenden Sittengemälde. Schöne Sitten hattet ihr da in eurem Sozialismus, werden manche Leser ironisch sagen. Andere werden denken: Ja, so war es und eigene Erinnerungen Raum greifen lassen. Auch im Westen. Für Stine bringt die tastende Erinnerungsarbeit Albträume mit sich. Nur ihr jüngerer Bruder ist ihr jahrelang eine Stütze.
Der „Schwindel, der einen manchmal befällt, wenn man versucht, die Schwindel der Vorfahren zu entwirren“.
Stines Mutter Monika war im SED-Staat Heimleiterin und danach Jugendamtleiterin - und pädagogisch keine Null sondern viel Schlimmeres: Grausam zu den Kindern. Auch darüber wird es später kein Gespräch geben. „Rübergeschwiegen in die neue Zeit.“ Auch Ines Geipel beschrieb ähnliche Gewaltexzesse in der Familie: „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“.
Nicht besser sieht es in der Schule aus. Ein Kampfplatz nach wie vor, nur weitaus brutaler. Ein Fingerzeig darauf, dass die innerfamiliäre und gesellschaftliche Gewalterfahrung weiter „vererbt“ worden ist und sowohl Aggression als auch Autoaggression gebiert.
Anne Rabe geht nicht allein mit den Mittätern und Angepassten ins Gericht. Sippenhaft konnten Nachfahren Systemtreuer auch von anderer Seite erfahren, einfach weil sie aus roten Familien kamen.
Am Ende stehen Verzweiflung und Einsamkeit. Keine Annahme oder gar Anerkennung. Nirgendwo. Keine Möglichkeit von Glück.
Einen unerfüllten Wunschtraum Robert Havemanns von 1978 führt die Autorin, die immer wieder auch Brecht zitiert, gegen Ende des Buches an. Havemann forderte die freie Entwicklung des Individuums ein.
Anne Rabe ist ein sehr tiefgründiger und berührender Beitrag zur Aufarbeitung ostdeutscher Geschichte gelungen, der nicht 1989 endet, sondern den Schwerpunkt auf die Zeit danach legt, die unter den auferlegten Bürden, angelegt im scheinbar Vergangenen, lange noch ächzt. Romanhafte Fiktion ist das nicht.
Am Ende steht die Erkenntnis: Versöhnung kann kein Schwamm-Drüber sein. In vielen Familien der DDR-Intelligenzija ist das Beschriebene noch virulent. Versagte Selbstbestimmung betrifft auch die „2. Generation Ost“. Auch in Peter Wensierskis Studie „Jena Paradies“ scheint dieser Konflikt auf. https://www.havemann-gesellschaft.de/en/beitraege/freiheit-und-selbstbestimmung/
Solche Bücher könnten der Auftakt zu einer überfälligen Debatte sein, die in der Bundesrepublik dringend geführt werden muss, wenn auch die kriegerische Gewalt der Putin-Russen und der Hamas-Araber alle zivilisatorischen Lernprozesse weit zurückkatapultiert. https://herzinger.org/der-hamas-terror-zum-nutzen-irans-und-russlands
Auch Zugewanderten brächte „Die Möglichkeit von Glück“ garantiert einen Erkenntnisgewinn nicht nur über die hier vorgefundene Gesellschaft und deren Prägungen.
Anne Rabe
Die Möglichkeite von Glück.
Klett-Cotta 2023. 384 Seiten.
ISBN: 978-3608984637
https://www.klett-cotta.de/produkt/anne-rabe-die-moeglichkeit-von-glueck-9783608121612-t-5575
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geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek oder dem Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war er Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.