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9. November, Mauerfall, Bornholmer Straße – dieser Dreiklang wird heute, 29 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, sicherlich in vielen Publikationen auftauchen. Alle kennen die Bilder der glücklichen Ostdeutschen als Sie am 9. November 1989 jubelnd den Grenzübergang an der Bornholmer Straße überwanden. Der Fotograf und Journalist Olaf Opitz war an diesem Abend nicht dort, sondern ein paar Kilometer weiter am Grenzübergang Sonnenallee. Für unsere Rubrik Aus dem Archiv nimmt Opitz uns mit durch diese historische Nacht durch Berlin und auf seine kurze Reise zum Ku‘damm am 9. November 1989.  

"Einmal Ku’damm und zurück" von Olaf Opitz

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Am 9. November 1989 war  ich „Spätdienstmann“ der Schlussredaktion. Für einen Redakteur der Ost-Berliner Tageszeitung „Der Morgen“ bedeutete dies meist nur organisierten Stumpfsinn. Nachdem ich um 17 Uhr seitenweise langweilige Meldungen der heiligen DDR-Nachrichtenagentur gelesen hatte, fiel mein Blick auf eine ADN-Meldung, in der plötzlich von einem Reisegesetz die Rede war. Visa könnten ab Freitag, dem 10. November, acht Uhr beantragt werden ...

Wieder so ein SED-Bürokratenmist dachte ich damals. Ein Trick, ein neuer Fall von sozialistischer Wartegemeinschaft – stundenlanges Schlange stehen, nur um am Ende zu hören: Wird nicht genehmigt. Ich hatte die Pressekonferenz mit Günter Schabowski nicht sehen können. Wir hatten dort keinen. Also fuhr ich ahnungslos nach Hause ins Plattenbaugebirge von Berlin-Hellersdorf. Meinen Freund Christian wollte ich um 22 Uhr noch zu einem Bier überreden, doch er war schon müde. Während ich allein in der Kneipe eine Molle zischte, hörte ich wie „Rias 2“ via Live-Einblendung den Hörern von einem Volksfest am Grenzübergang Sonnenallee berichtete. In wenigen Stunden ginge die Mauer auf, schwor der Reporter meines Lieblingssenders. Fast hätte ich mich verschluckt. Unglaublich: Ich zahlte, rannte in die Wohnung zurück, schnappte die Kamera, fand Gott sei Dank gleich ein VEB-Taxi und ab ging’s zur Sonnenallee.

Meine Ruhla-Uhr (geht nach wie vor) zeigte kurz vor elf. In der Baumschulenstraße stauten sich die Autos bis zum S-Bahnhof. Vor dem Grenzübergang wartete eine unüberschaubare, hoffnungsvolle Menschenmenge. Ich schoss „historische“ Fotos – sie hängen heute im Flur. Manche versuchten in der Enge noch ihre „Zählkarten“ für die Ausreise auszufüllen. Doch bald gaben sie es auf. Die Menschenmasse drückte unaufhaltsam gegen die Grenzschranken. Eine halbe Stunde vor Mitternacht riefen wir laut: „Tor auf, Tor auf!“ Jetzt oder nie – die Schlagbäume hoben sich tatsächlich. Alle rannten los. Endlich im Westen.

Wir fielen uns in die Arme, heulten vor Glück. Menschen aus Ost und West, fast für die Ewigkeit getrennt und doch so nah. Auch wer Dienst tat, jubelte mit. Ob Polizeibeamte oder Journalisten. Ein Reporter vom niederländischen Rundfunk holte erst nachdem wir uns umarmt hatten sein Mikro hervor, fragte, was ich fühlte. „Dass ich das noch erleben durfte“, antwortete ich selig, „mit 31 Jahren und nicht erst als Rentner“. Nie wieder lebenslänglich eingesperrt und für unmündig erklärt!

Schon hakten mich Leute unter, zogen mich weiter. Plötzlich hielt ein VW-Bus-Taxi. „Wohin soll’s denn gehen?“, lachte der Fahrer.  „Zum Ku’damm, zum Ku’damm“, sprudelten wir wie Kinder hervor. Sechs Ost-Berliner, die sich überhaupt nicht kannten, auf der aufregendsten Reise ihres Lebens. An einer Busstation setzte uns das Taxi ab, um die nächsten von der Sonnenallee abzuholen. Wir stiegen in den Doppeldecker Richtung Ku’damm. Der Kutscher winkte durch. West-Berlin war eine einzige Freifahrt und eine Welt neuer Düfte dazu. Ein ungewohntes Gemisch aus Abluft von Restaurants, Pommes-Buden, Pizzerien und Katalysator-Abgasen. Broilerläden und Trabis rochen eben anders.

Gegen zwei Uhr früh stand ich vor der Gedächtniskirche, machte die Augen zu und wieder auf. War das eine Postkarte, das Fernsehbild der SFB-Abendschau oder nur ein Traum? Nein, das war die verdammte, schöne Wirklichkeit mit jeder Menge Tränen in den Augen. Ich kramte ein „Kriepa“-Papiertaschentuch hervor. Der Sandpapiercharakter der Ost-Tempos fiel mir gar nicht mehr auf. Trabis, Wartburgs und Ladas fuhren hupend den Kurfürstendamm rauf und runter. Jubelnde Menschen saßen auf den Kühlerhauben. Wir winkten und klatschten vom Bürgersteig zurück. Kamerateams filmten die exotischen Vehikel auf Berlins Nobelmeile. Auch ich schoss ein Foto: Kameramann mit Wartburg vor Mövenpick. Das druckte „Der Morgen“ am nächsten Tag in seiner Wochenendausgabe.

So gegen vier Uhr morgens spürte ich zum ersten Mal die Kälte der Novembernacht. Mit dünnem Hemd und Blouson war ich nicht auf Berlins größte Freiluft-Party vorbereitet. Trotz allem Glücks machte ich mich auf den Heimweg. Daumen raus und schon fuhr ein netter West-Berliner seinen Ortsnachbarn zur Sonnenallee. Vor dem Grenzübergang wurde mir wieder etwas mulmig. Freiwillig zurück hinter die Mauer? Kein Ausreisestempel, keine Zählkarte. Bevor ich weiter grübeln konnte, schallte mir von DDR-Grenzern ein überfreundliches „Guten Morgen“ entgegen und nach dem Passieren (ohne Kontrolle!) auch noch ein „Auf Wiedersehen“. Da war mir endgültig klar – selbst wenn sie noch so trotzig und grau da stand – die Scheiß-Mauer ist weg. Ku’damm - ich komme wieder.

Zu Hause in Hellersdorf angekommen, klingelte ich um fünf Uhr früh bei meinem Nachbarn Sturm. Tochter Melanie öffnete verschlafen, mein Freund Christian schlurfte hinterher. „Ratet mal, von wo ich gerade herkomme“, strahlte ich sie an und gab gleich die Antwort: „Direkt vom Ku’damm.“

Die zwei vermuteten sofort einen üblen Scherz im Morgengrauen. „Du spinnst ja“, sprudelte es wie aus einem Mund hervor. Doch ich hielt ihnen die Visitenkarte des West-Berliner Bustaxis mit Datumsstempel vor die Nase. Freude kam auf und Trauer zugleich: Beide hatten die schönste Nacht in Deutschland verschlafen. Kleiner Trost. Am Wochenende feierten wir gemeinsam in den verstopften Straßen im Westen Berlins. Ich werde diese Zeit der Freiheit nie vergessen, viel zu viele haben es leider schon. Damals gingen wir für Meinungsfreiheit auf die Straße, ein Credo, dass es heute wieder zu verteidigen gilt.

Der Autor Olaf Opitz (60), war 1989 Redakteur beim Ost-Berliner „Morgen“, später Bonner Korrespondent der „Berliner Morgenpost“ und berichtete danach als Politischer Korrespondent und Reporter in Bonn und Berlin für das Nachrichtenmagazin „Focus“.