© Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter

Rede von Wolfram Hülsemann zur Trauerfeier für Reinhard Schult am 29. Oktober 2021 in der Berliner Zionskirche

 Wir trauern um Reinhard Schult.
„Der Traum ist aus … Ich habe geträumt, der Winter ist vorbei,
Krieg ist vorbei, stets verschlossene Türen öffnen sich…“

Das haben wir eben gehört.

War dieses Lied Rio Reisers so etwas wie Reinhard Schult‘s Seelenhymne? Ich kann mir das bei ihm gut vorstellen. So wie ich ihn in Erinnerung habe, insbesondere aus der Zeit vor mehr als 30 Jahren. Seine Träume konnte er in klare Worte fassen, in Erwartungen, die ihn bestimmten, in Forderungen gegenüber seiner Kirche und gegenüber dem Staat DDR. Und was er in Gang setzte, war davon bestimmt. Wenn die Welt seiner realen Träume und die real existierenden Zustände aufeinander trafen, waren das selten Harmonieveranstaltungen.

Der Raum der evangelischen Kirche war die Ebene, auf der wir uns gemeinsam bewegten. Das große Wort in Abgrenzung zu denen da oben hieß „Kirchen von unten“. Gemeinsam wollten sie Kirche leben, einfach und gewaltfrei und mit einem hohen Maß an kreativer Autonomie. Als die Gruppe für sich damals Räume suchte, fand sie diese höchst umfänglich und wenig genutzt bei kräftig erodierender Kirchgemeinden. Die aber wurden von Angstzuständen angesichts einer ihnen bedrohlich erscheinenden Jugendkultur erfasst.

Ich erinnere mich an den Kirchentag. Die Kirchentagsarbeit fand sich mit den Möglichkeiten ab, die mühsam dem Staat abgehandelt worden waren. Für Reinhard und seine Freundinnen und Freunde waren das keine geltenden Spielregeln mehr. Demonstrativ und höchst öffentlichkeitswirksam zeigten sie, wie sie das große Wort „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ in großer Öffentlichkeit verstanden wissen wollten. - Ja, wenn die Welt seiner realen Träume und die real existierenden Zustände aufeinander trafen, waren das keine Harmonieveranstaltungen. Reinhard Schult suchte die Grenzen des Möglichen. Für manch einen war er, in Anlehnung an das bekannte Samisdat, ein leibhaftiger „Grenzfall“.-

Freilich: wer als Mensch wissen will, wer er ist, muss wissen, von wem er sich unterscheidet. Und wer das Risiko sucht, muss wissen, wann er die Sicherheit verlässt. Grenzen und Unterscheidungen, ohne die weder der Einzelne noch eine Gesellschaft überlebensfähig wären. Immer geht es dabei um den Menschen in seiner Zeit, um jene entscheidenden Fragen, die für Reinhard durch eine alles beherrschen wollende Ideologie oder den jeweiligen Mainstream erst gar nicht gestellt werden.

Die hebräische Bibel nennt solche Leute Propheten, - weit ab von den Marktplätzen der Eitelkeit oder autoritärer Machthebel. Aber wenn die zum Zuge kommen um die letzten Wahrheiten zu sagen, kommen sie an Grenzen, verlassen das Vertraute, die Sicherheiten des Lebens, auch ihrer eigenen Existenz. Und das im Gegensatz zu denen, die „das Heilige“ amtlich u. vorschriftsmäßig verwalten. Oft hatte Reinhard für mich so etwas Prophetisches, ohne Rücksichtnahme gegen sich und auch ohne Blick auf die vermeintlichen oder tatsächlichen großen Zusammenhänge. War es ein Leben so auf der Grenze?

Kirche ja, - aber diese verfasste Kirche mit ihren Sicherheitsbedürfnissen konnte das doch nicht sein? Musste man die nicht hinter sich lassen? Politisch, kirchenpolitisch agieren „ja“; nur nicht ins Schneckenhaus einer tradierten Selbstbefriedung! Reden, streiten „ja“! Aber keine kommunikativ-bürgerlichen Artigkeiten, wenn Erwartungen und Ziele nicht ernstgenommen werden.

Nicht zufällig war die kräftig bildhafte Jesus-Geschichte von der zornigen Vertreibung der Geldwechsler und Händler aus den Höfen des Jerusalemer Tempels die wohl bekannteste Bibelgeschichte unter Reinhards Freundinnen und Freunden.

Die Frage, die Du, liebe Paula, ihm als junges Mädchen stelltest, lag sozusagen in der Luft: „Sag mal Vater, glaubst du wirklich an Gott?“ - Traf nicht seine knappe Antwort genau in die Mitte: „Jesus war doch ein cooler Typ“. Dieser klare Satz rutschte Dir nie weg, blieb Dir, blieb Euch. - Reinhard Schult, - auch im Tiefsten ein Leben auf der Grenze zwischen einer Gewissheit, die ihn trug und dem Verachten alles ihn frömmelnd erscheinenden Geredes. Hier ging es für ihn nicht um einen gegenständlich existierender Gott. Es ging und geht wohl auch heute immer wieder um eine Grund legende Erfahrung; - ein Ereignis, das einbricht in die vertraute, in die geregelte religiöse und gesellschaftspolitische Geschäftigkeit. „Jesus ein cooler Typ“! Ich denke: Wenn die Urworte der Bibel, Gott, Gottessohn, Heiliger Geist kirchlich sich als verbraucht erweisen, weil sie auch zu oft missbraucht wurden, ist vielleicht – auf Zeit – und für Euch damals „cooler Typ“ die beste Übersetzung gewesen. Eine glaubwürdige Übersetzung für das, was uns unbedingt und in letzter Tiefe angeht.

Ein Lied aus dem alten Israel, übertragen in heutige Lebenserfahrungen will ich beim dankbaren Nachdenken an Reinhard Schult lesen.

Nach Psalm 1

Verwurzelt der Mensch, der wagt zu seiner Meinung zu stehen. Der sich wehrt, auch für die Rechte der kleinen Leute. Verwurzelt der Mensch der darauf vertraut, dass es wohl auf ihn ankommt, aber letztlich nicht von ihm abhängt. Er wird sein wie ein Baum am Wasser verwurzelt, auch wenn um ihn die Dürre sich ausbreitet, so bringt er Früchte. Wenn die Kritik und die Zweifel kommen, wird er sich besinnen auf den Fluss des Urvertrauens der auch durch ihn fließt. Er wird nicht alleine gegen den Strom schwimmen und die göttliche Quelle immer neu in sich entdecken.