Trauerrede von Ilko-Sascha Kowalczuk und Tom Sello für Thomas Auerbach zu dessen Beerdigung am 2. Juli 2020

Thomas Auerbach (26. Juli 1947 – 4. Juni 2020)

Liebe Sabine, liebe Anne, lieber Axel, liebe Angehörige, Freundinnen und Freunde,

Thomas Auerbach war das, was man gemeinhin eine Type nennt. Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, wusste ich bereits: er war in Jena das Zentrum der Unangepassten, der Widerwilligen, der Nichtmitmachenden im SED-Staat. Tommy war der Fels in der Brandung, der anderen Mut, Kraft, Rückhalt, Stärke gab. Viele erzählten davon, immer wieder.

So ein Mann geht eben in den Knast für seine Überzeugung, nicht freiwillig, natürlich nicht. Aber sehenden Auges. Er hat sich nicht als Opfer gesehen; Opfer sind passiv. Er war ein Widerständler, ein Aufrüttler, ein Aktivist im besten Sinne des Wortes – ein Akteur, der um die Strafen in der Diktatur nur zu gut Bescheid wusste. Und der sich dennoch nicht verbog, sich nicht kleinmachen ließ, der aufrecht für die Unterdrückten eintrat. Nach zehn Monaten Haft kam er 1977 nach West-Berlin – und wurde die DDR, die SED und ihre Stasi doch nie los.

Als ich ihn nach der Revolution persönlich kennenlernte, war er so, wie ich ihn gelegentlich im Fernsehen hatte erleben können: Wuschelkopf, Rauschebart, Brille, griesgrämig dreinblickend, zuhörend. Wenn er das Wort ergriff, hatte er etwas zu sagen: energisch, klar, kompromisslos.

Der Fall der Mauer und die deutsche Einheit waren sein Lebenstraum. Er gehörte in der DDR nicht zu jenen Oppositionellen, die an dritte Wege glaubten, die einem besseren Sozialismus hinterherhechelten, die linke Theoriedebatten führten. In der Familie hatte der 17. Juni eingeschlagen und gewirkt, der Mauerbau dann erneut – da gab es nichts zum Träumen. Die kommunistische Realität wusste Machtworte herauszuschleudern, unterstützt von Panzern und Stacheldraht.

Die Mauer fiel und Tommy war sofort da, weil er nie wirklich weg war. Die Auflösung der Stasi und die Beschäftigung mit den politischen, historischen und juristischen Folgen wurden nun sein Lebensthema. Sofort begann er die Stasi-Akten zu durchforsten und zu entschlüsseln, im Freundeskreis, bei den OV-Treffen war er von Beginn an dabei und in der Stasi-Akten-Behörde. Wir lernten viel über das kommunistische System, über Freundschaft und Verrat und über uns. Seine Bücher über die Isolierungslager und die Einsatzkommandos sind Standardwerke, Themen und Bücher, die er in der Stasi-Akten-Behörde durchsetzen musste. Der Kampf hörte einfach nicht auf. Thomas Auerbach mutierte nie zum Behördenmenschen, blieb als einer der Wenigen immer ansprechbar für uns Barfußhistoriker – als Mitarbeiter der Forschungsabteilung, als Chef der Schweriner Außenstelle, als Bürger in einer Behörde, die steten Anlass für Ärger und Missmut bot und die doch besser ist als weggeschlossene Akten. Zuletzt schmerzte ihn, dass die Behörde, die auch seine war, abgeschafft wird.

Tommy machte es seiner Umwelt nicht immer leicht, weil er es sich nicht leicht machte. Es war nie langweilig mit ihm – er war nie langweilig. So gut motzen wie er konnte kaum jemand. Ich glaube, ich kenne keinen anderen Menschen, der in dem einen Augenblick so unwirsch und voller Verachtung auf etwas reagieren konnte und fast im gleichen Moment, vielleicht angetippt durch den Gesprächspartner, darüber selbst herzhaft lachen konnte. Er wurde die Wut nie los, zum Glück aber auch nicht die Liebe, den Spaß und zuweilen sogar den Frohsinn.

Er arbeitete in einem Umfeld, das solche Töne, solchen Habitus, solche Geradlinigkeit schwer aushalten konnte. Tommy und Bernd Eisenfeld (1941-2010), beide politische Häftlinge in der DDR, bildeten den Kern einer Arbeitsgruppe, die allen, die dazugehörten, Tag für Tag verdeutlichten, warum wir uns mit Hinterlassenschaften der kommunistischen Diktatur zu befassen haben: Gegen das Vergessen, um den Opfern und Tätern, den Widerständlern und Verrätern Namen und Gesicht zu geben. Nein, es ging nicht um Versöhnung dabei. Beliebt und mehrheitsfähig macht man sich damit nicht.

Tommy stand für die kompromisslose Aufklärung mit seiner ganzen Biographie, mit seinem ganzen Wesen. Er war ganz oft der traurigste Lustige und der lustigste Traurige. Ich hätte meinem Freund so gewünscht, dass er die Leichtigkeit des Seins hätte ausleben können, dass er die Kommunisten hätte hinter sich lassen können. Sie sperrten ihn zehn Monate ein, gaben ihm aber lebenslänglich. Er wurde sie nicht mehr los. Das ist das, was die Verharmloser, die Glattbügler, die Versteher nicht und nie verstehen werden, wahrscheinlich nicht einmal wollen: Die Diktatur ist nichts, was diejenigen, die sie erlitten haben, die unter ihr gelitten haben, die keinen Mauerfall brauchten, um zu wissen, dass es eine brutale Diktatur war, die Diktatur ist also ist nichts, was man verharmlosen und glattbügeln könnte. Die Diktatur ist nicht das Gefängnis, der Tod an der Mauer allein, die Diktatur war die alltägliche Unterdrückung all dessen, was die vielen großen und kleinen Diktatoren nicht zu dulden gedachten. Und das war verdammt viel. Für Freiheitsmenschen wie Thomas war die DDR ein Freiluftknast ohne Ausgang, das Gefängnis dann die Dunkelzelle im Knast. Das wird man nicht los.

Dass nur eine Minderheit den Mauerstaat so wahrnahm, und dass er mit jedem Jahr seines Untergangs immer paradiesischer wird in der öffentlichen Wahrnehmung, in der politischen Bildung, in der Wissenschaft. Das hat Tommy nicht verstanden – es gibt da auch nichts zu verstehen.

Tommy wurde in der Freiheit die Unfreiheit nicht los und lebte dennoch in der Unfreiheit, in der Diktatur als freier Mensch, viel freier als viele Menschen in der Freiheit. Er nahm sich die Freiheit des Christenmenschen, zu sein, wie er sein wollte, was er denken wollte, was er glauben wollte. Und alle Freundinnen und Freunde von Thomas wissen, seine Freiheit kannte Grenzen und der Ernst der Sinnstiftung begann. Da wären etwa Eisenbahnen. Das war kein Spielzeug, das war kein Vergnügen, das war schweißtreibender Ernst. Oder Tommy, der Geselligkeitsmensch, der sich gern mit Freunden umgab und stundenlang für sie und sich kochte. Und natürlich muss erwähnt werden: Ihre Exzellenz die Bratwurst. Nicht irgendein Ding zum Vollstopfen des Magens. Nein, Gott bewahre, die Bratwurst war eine Art protestantische Auerbach-Hostie, ein Heiligtum zum Essen, nichts zum fressen. Und zwar nicht irgendwie, sondern nach Regeln, die dem Kultobjekt wenigstens einigermaßen angemessen sind. Auch darüber konnte Tommy natürlich lachen, ernsthaft, denn das Bratwurstessen war kein Spaß, wie vielleicht mancher zu glauben wagte. Es ging dabei, bei der Bratwurst, dem Festessen oder den Eisenbahnen natürlich nicht um Leben oder Tod, nein, es ging um mehr.

Vor über zwanzig Jahren haben wir Jürgen Fuchs zu Grabe getragen. Vor zehn Jahren Bernd Eisenfeld. Vor sieben Jahren Walter Schilling. Vor drei Jahren Peter „Blase“ Rösch. Und noch viele andere leider auch, davor und danach. Es wird nicht nur dünn, es wird einsam, wenn die besten zuerst gehen. Wer soll uns jetzt raten, wie weiter. Wie oft fehlte Jürgen in den letzten Jahren! Wie oft wird uns nun allen Tommy fehlen in den nächsten Jahren – in Debatten, im Ärger, in der Freude, im Austausch, beim Ratschlag. Habt Ihr gewusst, dass Tommy ein unglaublich penibler und geradezu fantastischer Lektor war? Er fehlt schon jetzt an vielen Orten. Aber: Wir arbeiten daran weiter, was uns alle einte: Erinnerungsmale errichten, die auch dann noch wirken werden, wenn wir dereinst alle bei Dir sind, lieber Tommy. Wir werden nicht vergessen und wir werden Dich nicht vergessen. Mach‘s gut, lieber Tommy, grüße all die anderen Freundinnen und Freunde, wir erinnern und gedenken weiter, nicht zuletzt für Dich!

Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello