"Die Solidarität mit der Bürgerrechtsbewegung im sowjetischen Imperium empfand ich als meine moralische Pflicht."

Manfred Wilke (1941–2022)

Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Robert Havemann am 12.03.2010. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Frank Ebert

Am 22.04.2022 verstarb mit Manfred Wilke nicht nur ein profunder Kenner der historischen Entwicklung des Kommunismus in Deutschland und Europa, sondern auch ein mutiger Unterstützer von Oppositionellen in der DDR und osteuropäischen Staaten.

Manfred Wilke wurde am 2. August 1941 in Kassel geboren und wuchs in der nordhessischen Gemeinde Körle auf. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in einer Handwerkerfamilie – sein Vater und sein Großvater waren Metzgermeister. Nach eigenem Bekunden sah er sich in dieser Zeit "mit der Erbschaft des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur konfrontiert."

Sein politischer Weg begann zu Beginn der 1960er Jahre durch intensive Gespräche mit dem Körler Altkommunisten Karl Grigat, der bereits seit 1925 in KPD aktiv gewesen war. Er veranlasste ihn 1960 als Lehrling Mitglied der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) zu werden. Eine prägende Figur wurde für ihn darüber hinaus der Germanist und Trotzkist Johannes Ernst Seiffert. Durch ihn fand er Zugang zu einem linkssozialdemokratischen Zirkel, dessen Mitglieder in den Gewerkschaften und in der SPD aktiv waren. 1961 trat auch Manfred Wilke in die Sozialdemokratische Partei ein. Organisatorischer Kopf dieses Zirkels war der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Georg Schäfer, der zu den wenigen Sozialdemokraten zählte, die mit Funktionären des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes der DDR an einer deutsch-deutschen "Aktionseinheit" arbeiteten. Im Rahmen der SED-Westarbeit besuchte 1965 Zentralkomitee-Mitglied Ernst Melis seine Geburtsstadt Kassel und hielt nach bündniswilligen jungen Sozialdemokraten Ausschau. Zum politischen Austausch und persönlichem Erleben des Aufbaus des Sozialismus vor Ort, lud er Manfred Wilke 1966 nach Ost-Berlin ein. "Weichenstellend" – wie Manfred Wilke in der Rückschau bemerkte –, wurde für ihn in der Hauptstadt der DDR der Besuch einer Vorstellung im Deutschen Theater, als er anschließend im Theaterrestaurant Wolf Biermann kennenlernte, der ihn für den Folgetag in seine Wohnung einlud. An diesem Gespräch nahm auch Robert Havemann teil, zu dem sich bis zu dessen Tod im April 1982 eine enge freundschaftliche Beziehung entwickeln sollte. Beide waren für Manfred Wilke "intellektuelle Protagonisten einer Entstalinisierung der DDR, die es zu unterstützen galt."

Nach seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann bestärkte ihn der Gewerkschaftsfunktionär und Kasseler HBV-Bevollmächtigte Karl Kuba, seinen Traum eines Studiums zu verwirklichen. Im Jahre 1967 kam er an die Hochschule für Politik und Wirtschaft Hamburg, eine Einrichtung des zweiten Bildungswegs, und schloss diese nach dreijährigem Soziologie-Studium 1970 als Diplom-Sozialwirt ab. An der Hochschule freundete er sich mit dem ebenfalls in der Studentenbewegung aktiven Reinhard Crusius an, mit dem er in der Folgezeit zahlreiche Publikationen veröffentlichte.

1970 heiratete Manfred Wilke die aus Hamburg stammende Karin Helms, die in den folgenden Jahren nicht nur bei seinen Solidaritätsaktionen für Oppositionelle und Dissidenten jenseits des Eisernen Vorhangs seine wichtigste Stütze war. Als sie sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in der Hansestadt kennenlernten, war eine der ersten Fragen Manfred Wilkes: "Wie viele Bücher hast Du?" Ein eindeutiger Beleg seiner Begeisterung für Literatur und ein Fingerzeig für seine spätere wissenschaftliche Laufbahn.

Ein Wendepunkt in seinem politischen Leben als überzeugter "Aktivist der Linken in der Revolte" wurde das Jahr 1968. "Meine Hoffnungen in diesem Frühjahr verbanden sich mit dem ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘, den die tschechoslowakischen Kommunisten in ihrem Land praktizieren wollten. Umso tiefer traf mich der Panzereinmarsch am 21. August. […] Ein Tor hatte sich für immer geschlossen." Mit den Ereignissen in Prag war offenkundig geworden, dass sich "die Tagespolitik der realsozialistischen Staaten […] nicht an ihren propagierten Wertvorstellungen von Frieden und Volkssouveränität" orientierten.

In der Folgezeit verstärkte sich sein kritischer Blick auf die UdSSR und ihre Satellitenstaaten. Nach eigenem Bekunden ergab sich daraus als Konsequenz die "Unterstützung von Dissidenten und oppositionellen Marxisten in den ‚entarteten Arbeiterstaaten‘".

Nachdem er 1970 sein Studium der Soziologie, Pädagogik und Politischen Wissenschaft an der Hamburger Universität fortgesetzt hatte, brachte er 1973 mit dem tschechischen Studenten Jan Pauer, mit Herbert Kuehl, Reinhard Crusius und in Zusammenarbeit mit den Spiegel-Redakteuren Fritjof Meyer und Klaus Reinhard einen Dokumentenband zur ‚Normalisierung‘ in der CSSR nach der Niederschlagung des Prager Frühlings heraus. Die Veröffentlichung dieser Dokumentation war der Startschuss für seine Arbeit über und für Dissidenz und Opposition in den Staaten des sowjetischen Machtbereichs. Es folgten wichtige Bücher, wie der mit Rudi Dutschke 1975 herausgegebene Sammelband "Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke" oder die zwei Jahre später mit Robert Crusius herausgegebene Aufsatzsammlung "Entstalinisierung. Der XX. Parteitag und die Folgen."

Nach Abschluss seines Studiums als graduierter Sozialwirt promovierte Manfred Wilke 1976 gemeinsam mit Crusius an der Universität Bremen mit einer Studie zur Berufsbildungspolitik der Gewerkschaften. Beide bekamen anschließend Assistentenstellen am Lehrstuhl des Bildungspädagogen Wilfried Voigt an der Technischen Universität Berlin. Für die Wilkes, die insgesamt zu einer siebenköpfigen Familie wachsen sollten, wurde ab September 1976 die ‚Frontstadt des Kalten Krieges‘ zum neuen Lebensmittelpunkt.

Nach der wenige Wochen später im November 1976 erfolgten Ausbürgerung Wolfgang Biermanns aus der DDR unterzeichneten verschiedene DDR-Schriftsteller und Künstler eine Protesterklärung. In der Folge wurden einige von ihnen vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet, unter anderem Gerulf Pannach, Christian Kunert, Thomas Auerbach, Bernd Markowsky sowie Jürgen Fuchs. Mit ihm war Manfred Wilke gemeinsam mit der Filmemacherin Margret Frosch kurz zuvor bei einem Besuch bei Robert Havemann in Grünheide zusammengetroffen. Nach der Verhaftung von Jürgen Fuchs wurde Fuchs in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Hohenschönhausen dieses von der Stasi abgehörte Gespräch vorgehalten. In seinen 1977 publizierten Gedächtnisprotokollen notierte er: "Sagen Sie uns doch einiges zur publizistischen Tätigkeit von Wilke und seinen Vorstellungen vom Prager Frühling in Prag und anderswo …".

Manfred Wilke gründete gemeinsam mit Margret Frosch, dem Schriftsteller Hannes Schwenger sowie dem aus der DDR ausgewiesenen Spiegel-Korrespondenten Jörg R. Mettke das ‚Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus‘. Diese Kampagne für die Freilassung von Jürgen Fuchs und anderen Verhafteten fand in Westdeutschland und Westeuropa Beachtung, vor allem unter Schriftstellern und Künstlern. Zu den Unterstützern gehörten etwa Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Romy Schneider, Yves Montand, Jakob Moneta, Heinz Brandt und Otto Schily. Im August 1977 kamen Jürgen Fuchs, Christian Kunert und Gerulf Pannach frei und wurden in die Bundesrepublik ausgebürgert. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns wurde zudem über Robert Havemann, den "Staatsfeind Nr. 1" in der DDR, wie Manfred Wilke rückblickend bemerkte, ein Hausarrest verhängt. Für dessen Aufhebung setzte sich das Schutzkomitee ebenso ein wie für die Freilassung des inhaftierten Rudolf Bahro. Die praktische Solidarität für Havemann und seine Familie war für Manfred Wilke eine drängende Frage. In einem Brief an Havemann unterstrich er Ende Oktober 1977: "Da die Isolierungsstrategie gegen Dich ja auf dem ‚Vergessen‘ von Robert Havemann aufgebaut ist, […] habe ich seit Herbst vergangenen Jahres versucht, etwas dagegen zu tun." Um den Hausarrest zu brechen, erwirkte Manfred Wilke schließlich die Herausgabe eines Interviewbuches im Rowohlt Verlag. Als Buchtitel schlug er ‚Robert Havemann. Ein deutscher Kommunist‘ vor und signalisierte dem in Grünheide unter permanenter Stasi-Überwachung stehenden Dissidenten: "Bei dem Titel will ich, Dein Einverständnis vorausgesetzt, auch bleiben, er ist eine doppelte Provokation und deshalb nützlich." Von der Buchveröffentlichung erfuhr das Ministerium für Staatssicherheit schließlich erst aus der Verlagsankündigung. Weder die Arbeit von Havemann an diesem Text noch der Transport der Tonbänder durch den Stern-Korrespondenten Dieter Bub nach West-Berlin wurden von der Stasi bemerkt. Manfred Wilke hatte Havemann ca. 150 Fragen zukommen lassen, die dieser auf Bändern beantwortete. Bereits am 29. Mai 1978 war gegen Manfred Wilke ein Einreiseverbot verhängt worden, da der "begründete Verdacht" bestehe – wie in seiner MfS-Akte vermerkt ist –, "dass er seinen Aufenthalt in der DDR in rechtswidrigen Zwecken missbrauchen wird." Nach Erscheinen des Interviewbandes in der Bundesrepublik, veröffentlichte das MfS am 16. Oktober 1978 einen Maßnahmeplan gegen Manfred Wilke, dessen Ziel es war "seine Position in der politischen Öffentlichkeit West-Berlins zu verunsichern." Auch das von ihm mitbegründete Schutzkomitee wurde vom MfS bekämpft und sollte ausdrücklich "zersetzt" werden.

Im Jahre 1980 verließ er die TU Berlin und wurde auf Vermittlung des späteren Kanzleramtsministers Bodo Hombach kurzzeitig Landesgeschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Nordrhein-Westfalen. Im Februar 1981 habilitierte er sich mit einer Arbeit über "Gewerkschaften und Beruf" als politischer Soziologe bei Theo Pirker an der Freien Universität Berlin. Im Jahre 1985 erhielt Manfred Wilke eine Professur für Soziologie an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft. Er widmete sich in der Folge größeren Forschungsprojekten über die Westarbeit der SED in den 1960er und 1970er Jahren in Bezug auf die bundesdeutsche Gewerkschaftsbewegung und über die DKP.

Nach dem Ende der DDR geriet er nach eigenem Bekunden "immer stärker in den Sog der Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur. Es begann mit Robert Havemann, dessen Biografie und verbotene Schriften nun in der DDR publiziert wurden." Manfred Wilke zählte zu den Herausgebern des Bandes ‚Robert Havemann. Dokumente eines Lebens‘. 1992 gehörte er zu den ersten Westdeutschen, die ihre Stasi-Akten einsehen konnten. Im selben Jahr war er Mitbegründer des ‚Forschungsverbundes SED-Staat‘ an der FU Berlin, dessen wissenschaftlicher Leiter er gemeinsam mit Klaus Schroeder bis 2006 war. Zudem war er aktiv am österreichischen Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung tätig, und bildete über viele Jahre "die inoffizielle Außenstelle" dieser Forschungseinrichtung in Berlin.

Auf Antrag der CDU-Fraktion wurde Manfred Wilke vom Brandenburger Landtag mit der Durchsicht der SED-Akten zur Kirchenpolitik für den ‚Stolpe-Untersuchungsausschuss‘ beauftragt. 1992 wurde er Sachverständiger der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Enquetekommission des 12. Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" sowie der Nachfolge-Kommission des 13. Deutschen Bundestages "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". Zudem wurde er gemeinsam mit den Historikern Stefan Wolle und Siegfried Suckut mit einer Gedenkstättenkonzeption für die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Hohenschönhausen beauftragt. Nach Eröffnung der Gedenkstätte im heutigen Berliner Bezirk Lichtenberg zählte Manfred Wilke zu den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates. Darüber hinaus war er wissenschaftliches Beiratsmitglied der Stiftung Berliner Mauer, Mitglied des Beirates bei der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), seit 1998 vom Bundestag bestelltes Mitglied im Stiftungsrat der ‚Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur‘, langjähriges Kuratoriumsmitglied der ‚Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv‘ sowie viele Jahre Mitglied im Beirat der Robert-Havemann-Gesellschaft.

1994 verließ er aufgrund des innerparteilichen Umgangs mit dem Fall ‚Manfred Stolpe und die Stasi‘ die SPD und wurde 1998 Mitglied der CDU.

Zu seinem wichtigsten politischen Wendepunkt im Jahre 1968 bemerkte Manfred Wilke vierzig Jahre später: "Mit dem Ende des ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ in der ČSSR 1968 begannen meine Zweifel an der Reformfähigkeit des sowjetischen Kommunismus. Die Solidarität mit der Bürgerrechtsbewegung im sowjetischen Imperium empfand ich als meine moralische Pflicht. Ich verstand, dass es bei der polnischen Solidarność nicht mehr um den verbesserungsfähigen Sozialismus ging, sondern um die Überwindung der kommunistischen Diktatur und die Durchsetzung eines demokratischen Verfassungsstaates. Das Ziel musste auch für die DDR gelten. In der letzten politischen Aktion von Robert Havemann von 1982 ging es damals um ein utopisches Ziel. Er schlug vor, durch die Verknüpfung von atomarer Abrüstung mit dem europäischen Frieden zugleich die Teilung Deutschlands zu überwinden. Die von ihm damals geforderten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über einen Friedensvertrag fanden acht Jahre später tatsächlich statt, um die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit international zu sanktionieren. Damit bestätigte sich mir der Zusammenhang vom Auftreten der Bürgerrechtsbewegungen im sowjetischen Imperium mit dessen Erosion und damit der Preisgabe der SED-Diktatur in der DDR durch die Sowjetunion."

Im Zusammenhang mit der Übernahme seiner wissenschaftlichen und politischen Unterlagen in das Archiv der DDR-Opposition schilderte Manfred Wilke in den letzten Monaten in zahlreichen Begegnungen eindrücklich die vielseitigen Facetten seiner Biographie und die Motivation zu seiner politischen und wissenschaftlichen Tätigkeit.

In dieser Zeit durften wir auch ein Stück am privaten Leben der Familie Wilke teilnehmen. Wir feierten zusammen seinen 80. Geburtstag, lernten seine Kinder und Enkelkinder kennen und führten zahlreiche intensive Gespräche mit ihm und Karin bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Wir erinnern uns gerne an den spannenden Austausch und sind dankbar für das uns geschenkte Vertrauen, seine persönlichen Unterlagen und seine Arbeitsmaterialien übernehmen und für folgende Generationen bewahren zu dürfen.

Mit seinem nun im Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft gesicherten Nachlass werden künftige Forscherinnen und Forscher einen Einblick in das beeindruckende Schaffen von Manfred Wilke erhalten und vor allem einen reichhaltigen Fundus zu den Themen ‚Opposition und Widerstand im Kommunismus‘ und ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘ finden.

Die Robert-Havemann-Gesellschaft trauert um Manfred Wilke.

Rebecca Hernandez Garcia und Christoph Stamm