Arsenij Borisowitsch Roginskij (1946–2017)

Urheber: Stephan Röhl. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

Am 18. Dezember 2017 verstarb der Gründer der russischen Menschenrechtsgesellschaft „Memorial“, Arsenij Roginskij, nach langer Krankheit in einem Krankenhaus in Israel. Als er 1946 geboren wurde, hatte der Vater seine Jahre im Gulag Stalins gerade hinter sich und  lebte zwangsweise im Gebiet von Archangelsk. In den sechziger Jahren studierte Roginskij Geschichte in Estland, ging 1968 nach Leningrad, wo er in einer großen Bibliothek arbeitete und an Abendschulen lehrte. In eigenen Forschungen widmete er sich der Geschichte der russischen konstitutionellen Demokraten und ihrer Unterdrückung durch die Kommunisten nach der Oktoberrevolution. Er publiziert im Samizdat und im Ausland. Auf Druck des KGB verlor er seine Anstellung und konnte der vorgeschobenen Verfolgung wegen Asozialität nur entgehen, weil ihn die Schriftstellerin Natalja Dolina und der Pionier der vergleichenden Sprachwissenschaft Jakov Lurje als ihre Sekretäre anstellten. 1981 machten die sowjetischen Behörden ihm das unsittliche Agebot, ins Exil zu gehen, das er ausschlug. Daraufhin wurde er verhaftet und zu vier Jahren Haft im Gulag verurteilt, die er im Lager Perm verbrachte. 1985 in die Sowjetunion der Perestrojka entlassen, fuhr er fort den Panzer des Schweigens über die Verbrechen des Kommunismus in der Sowjetunion aufzusprengen. 1988 wurde er einer der Mitbegründer der informellen Organsation „Memorial“, die den Opfern des stalinistischen Terrors ein Denkmal setzen wollte. Hier wurden Zeugnisse des jahrzehntelangen Krieges der Kommunistischen Partei gegen das eigenen Volk – darunter auch Mitglieder der eigenen Partei – gesammelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zugleich wurde „Memorial“ eine der bedeutendsten Organisationen, die sich dem Schutz der Menschrechte auch unter den neuen Bedingungen widmete und widmet. Seit 1998 war Roginskij Vorsitzender dieser Gesellschaft, die von der russischen Regierung fortlaufend Diskriminierungen unterworfen wurde. So muss sie sich seit 2013 als ausländische Agentur bezeichnen, weil sie sich weigerte, auf die Unterstützung durch und die Zusammenarbeit mit Organisationen des Auslands zu verzichten.

Es ist vollkommen unmöglich, der Bedeutung Roginskijs und seiner Persönlichkeit in knappen Worten zu entsprechen. In seinem Wirken war er – wie „Memorial“ es als Organisation ist – einer der nächsten Verwandten der Robert-Havemann-Gesellschaft in Russland. Wir trauern um einen großherzigen Menschen und starken Charakter, einen Freund und Weggefährten, ein Vorbild, so wie Memorial für uns seit fast 30 Jahren Vorbild und Inspiration ist.

Bernd Florath & Ilko-Sascha Kowalczuk

 

Um seine Intentionen, die unseren so nahe sind, greifbar zu machen, erlauben wir uns hier ein Interview abzudrucken, das er im Jahre 2012, Maria Boshowitsch („Vedomosti/Pjatniza“) gab, 75 Jahre nach dem Februar-März-Plenum des ZK der KPdSU, das den Großen Terror von 1937 bis 1938 ins Leben rief, aus dessen Anlass „Memorial“ einen weiteren Band mit den Listen von durch Stalins Geheimpolizei Ermordeten veröffentlichte: (https://www.vedomosti.ru/library/articles/2012/02/24/dejstvuyuschie_lica_arsenij_roginskij_uberite_stalina_iz)

Warum begehen Sie den Jahrestag eines so düsteren Datums wie 1937?

1937 ist nicht nur Geschichte. Die Folgen des Terrors, seine Spuren im Bewusstsein der Massen, sind heute noch spürbar. Der Zweck des Terrors bestand zum einen darin, die Bedeutungslosigkeit eines Menschenlebens einem allmächtigen Staates gegenüber zu demonstrieren und zum anderen den Eindruck zu erwecken, "Feinde sind überall". In diesem Sinne erwies sich der Terror als ein äußerst erfolgreiches Projekt: Beide Stereotypen wurden fest im Bewusstsein der Menschen verankert.

Sind Spuren dessen auch heute noch sichtbar?

Sicher: Zum Beispiel in der Imitation demokratischer Prozesse. Erinnern wir uns: Am Vorabend des großen Terrors, im Dezember 1936, wurde die („Stalinsche“) Verfassung der UdSSR angenommen. In ihr waren auch die Gewaltenteilung, allgemeine Wahlen, die bürgerlichen und politischen Freiheiten und die unabhängige Justiz festgeschrieben. Dem Verfassungstext zufolge gab es in der UdSSR eine vollwertige Demokratie. Der Große Terror hat demonstriert, was heute "Imitationsdemokratie" genannt wird: Jedermann nimmt als normal hin, dass die Bürger zwar auf dem Papier Rechte haben, sie in Wirklichkeit aber völlig machtlos sind, auf Papier ist die Rechtsprechung unabhängig, in Wirklichkeit aber gelenkt. Diese unausgesprochene öffentlich-staatliche Konvention wiederholt sich heute in vieler Hinsicht; immerhin – es gibt keine massenhaften extralegalen Hinrichtungen mehr.

Gab es damals auch legale Hinrichtungen?

Nein, während des Großen Terrors wurde vor allem unter Umgehung des Gesetzes getötet. Zwei Jahre lang, von Oktober 1936 bis November 1938, wurden etwa eineinhalb Millionen Menschen unter politischen Beschuldigungen verurteilt und mindestens 720 000 von ihnen erschossen. Aber nur 90 000 der Ermordeten wurden durch ordentliche Gerichte oder Tribunale verurteilt; der Rest wurde von außerordentlichen Organen, die nicht in Gesetzen und Verfassungen vorgesehen waren, in den Tod geschickt: "Troikas" und "Dwoikas".

Was sollte getan werden, damit dieses furchtbaren Geschehen für heutige Generationen kein bloßes Abstraktum bleibt?

Sehr viel. Wir brauchen im Auftrag des Staates und mit staatlichen Gelder errichtete Monumente wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Wir brauchen Museums- und Erinnerungskomplexe, einfache Museen (zum Beispiel ein Museum im Gebäude des Militärkollegiums – in der Nikolskaja Straße 23), echte Gedenktafeln werden gebraucht. Heute kann man auf Gedenktafeln lesen: "Hier lebte Marschall Tuchatschewski ", "Hier lebte Meyerhold ", ergänzt allenfalls durch die jeweiligen Lebensjahre – doch kein Wort darüber, wie sie ermordet wurden. Es ist sehr wichtig, eine offizielle juristische Einschätzung der "Sonderoperationen" des Großen Terrors, ihrer Urheber und Vollstrecker zu geben. Schließlich brauchen wir neue Lehrbücher.

Wird in den Schulen versucht, dass die Kinder die Wahrheit über den Großen Terror erfahren?

Die Lehrer wissen doch gar nicht, wie man das unterrichten soll! Es ist nicht einmal so, dass gar nichts in unseren Lehrbüchern steht. Doch gute Lehrer vermitteln immer auch Kenntnisse, die nicht in den Lehrbüchern stehen. Wie sollen sie Solzhenizyns "Archipel Gulag" unterrichten, das jetzt im Lehrplan enthalten ist? Dies war eine ganz eigene Welt, eine spezielle Sprache, ein besonderes Problem. Wir brauchen methodische Handbücher für Lehrer, Exkursionen an solche Orte – nichts davon gibt es.

Ein noch immer unbestelltes Feld ...

Durchaus nicht: "Memorial" veröffentlicht im Jahr 2007 eine Diskette, auf der 2,7 Millionen Namen der Opfer und kurze Informationen über jeden von ihnen festgehalten sind. Die Liste umfasste zwar nur eine Minderheit der Opfer – vielleicht 20 Prozent von ihnen –, aber immerhin ... Wir veranstalten auch Wettbewerbe für Gymnasiasten, "Der Mensch in der Geschichte". Das Sacharow-Zentrum in Moskau organisiert Wettbewerbe für Lehrer. Aber das sind keine staatlichen, sondern bürgerschaftliche Initiativen, an einem Ort gibt es sie, am anderen nicht. Einigen Regionen hat ein solches Buch erreicht, andere nicht. In der Ukraine, in den baltischen Ländern ist es eine staatliche Angelegenheit.

In Russland ist "Basisinitiative" oft effektiver als eine staatliche.

Ja, doch einiges vermögen Basisinitiativen nicht. Zum Beispiel ist es notwendig, nach den Orten von Massengräbern zu suchen, um dort Gedenkfriedhöfe zu errichten. Für diese Suche wäre es notwendig, dass der FSB und das Ministerium für Inneren Angelegenheiten ihre Archive öffnen – doch wer wird sie dazu zwingen? Nehmen wir an, wir schaffen es ohne sie: Sie selbst finden den Ort, installieren selbst mit der persönlichen Erlaubnis des Gouverneurs und mit privatem Geld ein Denkmal. Und dann? Jahre vergehen, Enthusiasten zerstreuten sich, der Gouverneur wurde abgesetzt, das Feld wurde aufgeteilt und verkauft. Um dies zu verhindern, brauchen Sie einen besonderen Status, wie zum Beispiel für Kriegsgräber. Und dafür brauchen Sie wieder Gesetze.

Worüber Sie sprechen, erfordert viel Geld. Sie wurden gefragt, ob es nicht besser wäre, es für die Lebenden auszugeben als für die Toten.

Die notwendigen Haushaltsmittel sind im Vergleich zu diesen riesigen und oft sinnlosen Ausgaben, von denen wir täglich hören, einfach unbedeutend. Ist eine angemessene Erinnerung, auf der das Bewusstsein freier Menschen aufbauen kann, nicht diese Ausgaben wert?

Viele Leute halten diese These – und überhaupt die Diskussion über Entstalinisierung – für Demagogie. Sie sagen: "Beseitigt Diebstahl und Unordnung in unserem Leben, dann wird auch der Name Stalin von selbst verschwinden."

Und ich sage: Nimm Stalin aus unserem Leben, dann wird der Diebstahl und das Durcheinander von selbst verschwinden. Im Ernst: die Erfahrung unserer Geschichte zeigt, dass es ist unmöglich ist, weiter zu arbeiten und zu leben, ohne Kriminalität als Verbrechen zu bezeichnen. Worin besteht heute unsere Erinnerung an den Terror? Aus der Erinnerung an die Opfer, aber nicht an die Verbrechen. So lautet der nationale Konsens: Menschen haben Mitleid, vor allem Landsleute und Verwandte. Doch wer argumentiert so? Selbst Putin ging zum Erschießungsort Butowo, zeigte sich entsetzt über die Zahl der Opfer, und sein Sprecher sagte, dass die Erinnerung an die Tragödien so heilig sein sollte wie die Erinnerung an die Siege – übrigens eine sehr korrekte Aussage. Doch es ist nicht genug, dass einem die toten und gefolterten Menschen leidtun. Lassen Sie uns endlich herausfinden, wer das getan hat und warum. Solange wir die Frage nicht auf diese Weise stellen, werden wir eine fehlerhafte, einseitige Erinnerung haben. Wir werden Freiwillige bleiben, die sich um vergessene Gräber kümmern. Es ist eine noble Sache, aber sie bringt uns einem Begreifen der Geschichte nicht ein Jota näher.

Empfehlen Sie, zwischen Henkern und Opfer zu unterscheiden?

Wir hatten einen Scharfrichter – den Staat. Und nicht irgendeinen, sondern ganz konkret unseren Sowjetstaat. Genau das, was heute mit all unserer Kraft verschönert und idealisieret wird. Es geht nicht um die persönlichen Qualitäten Stalins und seines Gefolges, die an der Macht standen. Die eigentliche Macht war so eingerichtet, dass sie ohne Terror keine ihrer dringenden Aufgaben effektiv lösen konnte. Die staatliche Gewalt hörte während der Sowjetzeit nie auf; nur dass in einigen Jahren um Hunderte, und in anderen um Hunderttausende von Opfern ging. Dieses staatliche System war von Anfang an kriminell. Diese Wahrheit ist sowohl für das öffentliche Bewusstsein und erst recht für die Behörden extrem schwer zu begreifen. Doch erst wenn wir diese systematischen Verbrechen offiziell verurteilen, wird der Schatten Stalins uns endlich in Ruhe lassen.

Übersetzung: Bernd Florath