![]() |
04.09.2025
Der Aktivist und Therapeut Wolfgang Herdzin legt Zeugnis ab über sein persönliches Engagement in der staatsunabhängigen Friedensbewegung im SED-Staat
Wolfgang Herdzin agierte im SED-Staat in Oppositionsgruppen friedensbewegter, christlicher Prägung. Er stammt aus Eisleben und hielt als Katholik schon früh Distanz zu den in der DDR allgegenwärtigen kommunistischen Zumutungen.
Seine „autobiografische Meditation“, wie der Verlag sein Buch bezeichnet, verdeutlicht sein langjähriges Anliegen: Die „Anstiftung zum Frieden“. Sie kommt daher als Sammlung von Notaten, die mit vielerlei authentischen Ego-Dokumenten wie zum Beispiel Briefen und Tagebuchnotizen sowie Fotografien, unterfüttert sind.
Einerseits kann der Leser sich vertraut machen mit Texten, Hoffnungen und Gedanken, die vom Ringen um Wahrhaftigkeit in der kommunistischen Diktatur zeugen. Andererseits will der Autor damit auch ein Friedensengagement heute fördern. Sind aber die damaligen Ideen und Auseinandersetzungen noch heute in einer völlig veränderten Weltlage und zumal nun in einer wehrhaften demokratischen Gesellschaft tragfähig? Diese Frage wird nach der Lektüre von den jeweiligen Rezipienten unterschiedlich beantwortet werden. Einen Denkanstoß bietet sie allemal.
Teilhabe an Erinnerungen
Wolfgang Herdzin, der bisher kaum in wissenschaftlichen Werken über die Opposition gegen die SED genannt wurde, lässt in seinen Erinnerungen teilhaben am nicht ganz untypischen Weg eines Oppositionellen, der immer stärker in einen verstehenwollenden Dissens zur kommunistischen Obrigkeit geriet und schließlich nach Öffentlichkeit und Politikfähigkeit strebte.
Er legt dar, dass er bereits frühzeitig aus der verordneten sozialistischen Norm ausscherte: Nichteintritt in die staatliche Pionierorganisation, keine sozialistische Jugendweihe, dafür Messdiener und Literaturinteressierter. Er verschlang damals die Bücher von Albert Schweitzer, A. S. Neill, Dietrich Bonhoeffer und entdeckte vor allem Meister Eckhart und Erich Fromm, später auch Solschenizyn, Böll und Bahro. Hilfreich war ihm dabei die Bibliothek der Studentengemeinde in Halle. Im Buch befinden sich Auszüge, die er als Jugendlicher abtippte. 1973 fand er Zugang zu Gedichten von Reiner Kunze, die in Schreibmaschinenabschriften zirkulierten und zu dem er später persönlichen Kontakt aufnahm.
Das Abitur durfte er noch ablegen, obwohl ihm im Zeugnis bescheinigt wurde, dass er „den weltanschaulichen Erziehungsprozeß des Kollektivs hemmt“. Aufgefallen war er im marxistisch-leninistisch ideologisierten Fach „Staatsbürgerkunde“. Aber er ist behütet: „Meine Eltern stehen voll und ganz hinter mir.“
Für ein Studium war so einer jedoch „nicht geeignet“, da blieb ihm nur eine staatlich nicht anerkannte kirchliche Hochschule. Herdzin studierte Philosophie und Theologie in Erfurt. Seinen musikalischen, literarischen und philosophischen Interessen eröffneten sich hier Freiräume.
Selbst Biermann-Texte wurden abgeschrieben, manchmal auch etwas falsch, wenn es heißt „Soldaten sind sich alle gleich“, wo es doch heißen muss: Soldaten seh‘n sich alle gleich.
Repressionserfahrungen
Nun legte die Stasi eine Operative Personenkontrolle (OPK) „Student“ gegen Wolfgang Herdzin an wegen des Verdachts der Bildung einer „negativen jugendlichen Gruppierung“, die unter anderem den Wehrdienst ablehnt. Eine der folgenden MfS-Zersetzungsmaßnahmen war die Einberufung zwei seiner Freunde zur NVA. Andere wurden mit Aufenthaltskontrollen und Arbeitsplatzbindung überwacht. Weitere zwei inhaftiert. Auch in den folgenden Jahren verschwanden immer wieder Freunde im Gefängnis. Im Buch sind exemplarische Gerichtsurteile zu finden. Eine Freundin, Helgard Krumm, landete in Hoheneck. Ihre Leidensgeschichte findet später Eingang in die „Hohenecker Protokolle“ von Ulrich Schacht. Reiner und Elisabeth Kunze hatten sich für ihre Freilassung eingesetzt.
In dieser Zeit machte der Student Herdzin aber auch Bekanntschaft mit radikalen Basis-Christen aus dem Westen. Überschrieben ist das Kapitel über die zweite Hälfte der Siebzigerjahre mit „Krise - die dunkle Nacht, am Quell der Mystik und im Widerstand“.
Verdichtung
Nach dem Studium zog Herdzin nach Ostberlin und verdingte sich als Tellerwäscher. Er wollte erst einmal raus in das gewöhnliche Leben.
Eine bischöfliche Delegierung ermöglichte ihm ab 1979 ein Psychologie-Aufbaustudium. Mit dem engen Korsett eines rein kontemplativen Christentums haderte er bald und beschäftigte sich mit der „Theologie der Befreiung“, die in Südamerika hoch im Kurs stand. Damit einher ging der Traum von einem „echten Sozialismus“.
All diese geistigen Wurzeln und lebensweltlichen Erfahrungen verdichteten sich schließlich vor dem Hintergrund der sowjetischen Atomwaffenstationierung in der DDR mit folgender Nachrüstungsdebatte in der Bundesrepublik in seinem Engagement in verschiedenen Friedenskreisen mit all ihren Konflikten. Das Symbol der unabhängigen Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ ziert den Buchdeckel.
Anlässlich des Todes von Robert Havemann 1982 verfasste er einen Essay und zitierte einleitend dessen vielleicht wichtigsten Satz: „Es kann nichts Lebendiges und Menschliches gedeihen außerhalb der Freiheit.“
Poetisch gefärbte Briefe an (ausgereiste) Vertraute, aus denen in den folgenden Buchabschnitten ausgiebig zitiert wird, geben die Befindlichkeiten, Ängste und Hoffnungen der (friedens-)bewegten Jahre gut wieder, in denen „Frieden, Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit“ den Dreiklang spiritueller und konkreter Zielpunkte darstellten. Wichtig waren ihm die Suche nach „Heimat“ und eine „Resonanz mit der Natur“, aus der er Kraft schöpfte. Im grenzdurchschnittenen Harz empfand er „Heimatvertreibung“. Hier tritt das Ringen des Autors um tragfähige Zukunftsperspektiven für sich und die Gesellschaft deutlich hervor. Er kritisiert das Fehlen der „Einzigartigkeit und Unverletzbarkeit der Person“ im herrschenden marxistischen Ansatz.
Eine seiner persönlichen Konsequenzen war 1984 die „derzeitige“ Erklärung seiner Wehrdiensttotalverweigerung „aus christlicher Motivation“, was eine Inhaftierung hätte nach sich ziehen können. Die Einberufung blieb aus. Er fand nun eine Anstellung in einer Krisenberatung der Caritas als Psychotherapeut mit traumatisierten Menschen. Über dieses Tätigsein hat der Autor 2021 ein Buch vorgelegt (Von der Seele schreiben. Aus einem existenziellen Briefwechsel im Schatten der DDR. Verlag: tredition).
Im Umbruch
Unglaubliche fünf Mal reiste er mit Freunden illegal durch „Freundesland“ - durch die Ukraine, Georgien, Kirgisien und Usbekistan, die in der UdSSR kolonialisiert waren. Dies in einer Zeit, in der allein schon Reisen nach Polen für Walter-Normalbürger kaum möglich gewesen waren. Wie ihm die List gelang, erklärt der Autor leider nicht.
1987 und 1988 durfte Herdzin ganz offiziell sogar in die Bundesrepublik reisen und im Sommer 1989 glückte ein Verwandtenbesuch in den Vereinigten Staaten. Rechtzeitig war er wieder zurück, als sich die revolutionären Ereignisse überschlugen. Mittlerweile mit dem Hausbau in Hohen Neuendorf und dem Söhnchen beschäftigt, blieb er wie viele der grünbewegten Minderheit der Wiedervereinigung gegenüber zutiefst skeptisch. Schließlich wurde noch ein Pfarrer (Gottfried Gartenschläger) von Reinhard Schult als langjähriger IM enttarnt. Am Schluss kommt überraschend die Frau des Stasi-Spions Günter Guillaume ins Spiel.
Der Anhang bietet längere Texte an, die überwiegend Mitte der Achtzigerjahre entstanden. Sie verdeutlichen das Streben nach einer visionären gerechteren Welt und sind in ihrer Diktion von einem Dorfkneipenabend in östlicher Provinz utopisch weit entfernt. Verbreitung fanden seine Traktate im Friedrichsfelder Friedenskreis, dem er angehörte, und anderen kleinen Freundesgruppen.
Der Autobiograf konnte die Bestände des Oppositionsarchivs der Robert-Havemann-Gesellschaft nutzen, verbunden mit der Qual der Auswahl. Ergebnis ist eine chronologische schlaglichtartige Erzählung des Wachsens, Reifens und Werdens einer persönlichen Verantwortungssuche mit christlich-ethischer Grundierung.
![]() |
Wolfgang Herdzin: Anstiftung zum Frieden. Verlag Ludwig 2024. 208 Seiten, 87 Abbildungen, Festeinband, 17x24cm. ISBN: 978-3-86935-481-1
www.verlag-ludwig.de/neue-titel/neuerscheinungen/anstiftung-zum-frieden.html
![]() |
geboren 1955 in Lauchhammer. Ab 1976 fand er in Jena Kontakt zur Offenen Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte und besuchte systemkritische Lesekreise, 1982 Umzug nach Berlin. Dort Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wie der Berliner Umwelt-Bibliothek. Im Herbst 1989 war er einer der Organisatoren der Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Ab 1990 war er Mitarbeiter des Matthias-Domaschk-Archivs und zeitweilig Pressesprecher der Bürgerbewegung Neues Forum. 1997 bis 2005 studierte er Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universtiät zu Berlin und ist Diplom-Sozialwissenschaftler.
Bis zum Renteneintritt arbeitete er in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Gerold Hildebrand lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.