Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989

Ilko-Sascha Kowalczuk
Eine Dokumentation,
erschienen, Berlin 2002,
600 Seiten, Broschur,

Nicht mehr lieferbar!

Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft,
Band 7
ISBN 978-3-9804920-6-5

 

 

 

 

In den achtziger Jahren entwickelte sich in der DDR eine vielfarbige oppositionelle Untergrundliteratur - der Samisdat. Die ausgewählten Texte spiegeln ein breites Spektrum der politischen Vorstellungen und Diskussionen wider.
„Es sind, alles in allem, bewegende Zeitdokumente, die nun einer erweiterten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Sie haben heute noch immer viel zu sagen. Mancher Historiker wird im übrigen verblüfft sein und mit Respekt registrieren, wie realistisch die DDR-Opposition in ihrem Denken war.”
Karl Wilhelm Fricke


Die Bedeutung des politischen Samisdat in der DDR, Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk

Die Bedeutung des politischen Samisdat in der DDR - von Ilko-Sascha Kowalczuk

Am 21. März 2002 konstatierte die Schriftstellerin Sarah Kirsch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", daß es in der DDR keine Samisdat-Literatur gegeben habe. Die Menschen seien, so Kirsch, zu faul gewesen, Texte abzuschreiben. Auch wenn Sarah Kirsch, ohne dies selbst auszuführen, offensichtlich den künstlerischen, nicht den politischen Samisdat im Blick hatte, gibt sie ein weitverbreitetes Klischee wieder, das weder der historischen Realität entspricht noch wirklich – wie es Klischees an sich haben – falsch ist. Natürlich kann sich der Samisdat in der DDR nicht seinen Vorbildern in Rußland, Polen, Ungarn oder der ?SSR vergleichen, weder was die kreative Gestaltung noch das inhaltliche Spektrum und erst recht die gesellschaftliche Breitenwirkung anbelangt. Und doch haben wir es wiederum mit einer Breite und Vielfarbigkeit zu tun, die bislang weder von der medialen Öffentlichkeit noch der Wissenschaft in Deutschland hinreichend berücksichtigt oder gar gewürdigt worden ist. In den Archiven der Opposition und der Staatssicherheit sind jedenfalls eine Fülle von bekannten und vor allem unbekannten Samisdat-Produkten zu finden, die einen Schatz darstellen, den es noch zu heben gilt.

Der ungarische Schriftsteller György Konrád schrieb im Jahr 2000 anläßlich der Berliner Ausstellungseröffnung über politische Untergrundschriften im Kommunismus: "Was für ein Ereignis ...: eine in Eigeninitiative ohne Genehmigung herausgegebene Zeitschrift! Der Seltenheitswert erhöht sich durch den Verbotswert. Es ist, als würdest du neben gepanschtem ein Glas unverfälschten Wein trinken. Da jetzt keine Druckgenehmigung mehr gebraucht wird, ist es mit dem Samisdat nun vorbei. Nichts anderes wollte er: den eigenen natürlichen Tod. Es ziemt sich, seiner zu gedenken: wie der Verblichene in seinem Untergrundleben gewesen ist." Der ungarische Dissident fügte noch hinzu: "Der Samisdatleser ähnelt dem Samisdatautor. Auch er will sich von Angst freimachen."

Die Ausstellung in der Akademie für Künste sorgte 2000 für Furore. Denn das, worüber Konrád so enthusiastisch berichtete, war außerhalb des ehemaligen kommunistischen Machtbereichs weitgehend ein weißer Geschichtsfleck – sowohl im historischen Bewußtsein als auch in den historischen Darstellungen. Was jedoch für die ost- und ostmitteleuropäischen Länder galt, galt für die DDR in einem noch höherem Maße. Es war vor diesem Hintergrund geradezu folgerichtig, daß Untergrundschriften aus der DDR in der erwähnten Ausstellung nur marginal vorgestellt worden sind. Dies war für eine von deutschen Wissenschaftlern verantwortete Austellung in Deutschland nicht nur erstaunlich, sondern geradezu ärgerlich. Denn die gezeigten Exponate und Entwicklungen kannten vielfarbige Pendants in der gesamten Geschichte der DDR. Diese Feststellung ist in der Widerstands- und Oppositionsforschung freilich längst unumstritten – nur haben es solche Erkenntnisse bekanntermaßen oft schwer aus den stolzen Türmen des Wissens in die vermeintlichen Niederungen des allgemeinen Bewußtseins oder wenigstens von Schulbüchern vorzustoßen.

In der nach 1990 entbrannten Diskussion über die Ziele und das Wesen der Opposition in der DDR behaupten einige, in der Opposition wäre es lediglich um den Erhalt der DDR und einen – wie auch immer – verbesserten DDR-Sozialismus gegangen; andere entgegnen, nur die Opposition in der DDR hätte am Gedanken der deutschen Einheit festgehalten und wäre so zur alleinigen Vorkämpferin der deutschen Einheit geworden. Beide Behauptungen zielen in ihrer Radikalität an der historischen Realität vorbei. Dies hängt oft damit zusammen, daß die Selbstzeugnisse und authentischen Dokumente häufig unbeachtet bleiben. Das ist dadurch begünstigt, daß eine Vielzahl der Selbstzeugnisse nur schwer erreichbar ist.

Die Angst vor unkontrolliert Gedrucktem, Geschriebenem und Vervielfältigtem war in der DDR bei den Funktionären groß. Das Wort galt als Waffe. Die Kommunisten selbst gründeten ihr System auf Ideen und Überzeugungen, die sie zur materiellen Gewalt werden ließen. Sie hatten Worte in Waffen geschmiedet und wußten um deren Gefährlichkeit. Der Zugang zu Vervielfältigungsgeräten unterlag in der DDR dementsprechend strikten Kontrollen und Beschränkungen – nur die Kirchen hatten hier enge Spielräume. Im politischen Strafrecht existierten Paragraphen, die die freie Meinungsäußerung unter strafrechtlich relevanten Generalverdacht stellten und die Sammlung von Nachrichten und Informationen sanktionieren konnten. Die Strafmaße waren drakonisch bemessen (bis 12 Jahre Zuchthaus). So konnte schon jemand verurteilt werden, der nicht-geheime "Nachrichten" sammelte, zugänglich machte oder anderen, der Spionage verdächtigte Personen oder Organisationen, übergab.

Neben der "Druckgenehmigungspraxis" und den strafrechtlichen Verfolgungen existierte ein Bereich, der die Entfaltung einer freien Öffentlichkeit und einer mündigen Gesellschaft nachhaltig begrenzte und verhinderte: Die SED beharrte auf das Informationsmonopol und war zugleich oberste Hüterin und Kontrolleurin von Medien und veröffentlichter Meinung. Dabei stellte Zensur das zentrale Element dar. Die Existenz der Zensur war in den kommunistischen Staaten eine elementare Vorbedingung für die Entwicklung einer Gegenkultur und das Entstehen einer vielfarbigen Samisdat-Landschaft.

Dem russischen Schriftsteller Nikolai Glaskow wird die Wortbildung "Samisdat" zugeschrieben. Glaskow hatte 1952 seine unveröffentlichten Gedichte zusammengeheftet und zunächst mit der Bezeichnung "Sam-sebja-isdat" (dt. Verlag für sich selbst), später mit "Samisdat" (dt. Selbstverlag) versehen und privat verteilt. Das neue Wort reagierte in ironischer Anspielung auf die sprachlichen Ungetümer und die damit zusammenhängende Abkürzungsmanie in der Sowjetunion. Samisdat stand "Gosisdat" gegenüber, der "Staatsverlag".

Der politische Samisdat entwickelte sich in der Sowjetunion vor allem ab den sechziger Jahren zu einer festen inoffiziellen Größe, wobei neben Einzelwerken im Samisdat eine Vielzahl von Periodika und Zeitschriften publiziert wurden. Einzelne Bücher verbotener Autoren sollen im russischen Samisdat höhere Auflagen erzielt haben als in westlichen Verlagen. Andere Autoren wiederum wollten gern im Samisdat verbreitet werden, fanden aber kein Gegeninteresse vor. "Der Samisdat ... ist ein universeller Gegenkosmos, der von den Schriften russisch-nationalistischer Dissidenten bis zu Übersetzungen amerikanischer Soziologen, vom russisch-orthodoxen bis zum buddhistischen Schrifttum, von Gulag-Memoiren bis zu Pornoromanen reicht."

Samisdat bedeutet aber vielmehr als nur "Selbstverlag". Es ging nicht nur darum, Manuskripte selbst zu verfassen, selbst abzuschreiben, selbst zu vervielfältigen, selbst zu verbreiten, – dafür zuweilen auch selbst im Gefängnis eine Strafe abzusitzen –, es ging zunächst darum, sich bürgerlicher Rechte und Freiheiten zu bedienen als seien sie vom Staat wie selbstverständlich garantiert. Diese Einstellung beförderte die Herausbildung eigener Kulturmilieus, die der politischen Opposition als Hinterland, als praktischer Lebensbereich dienten. Denn Samisdat macht nur dann Sinn, wenn bestimmte politische Stellungnahmen, Entwürfe, auch bestimmte literarische Texte offiziell nicht verbreitet werden dürfen bzw. unterdrückt werden.

Samisdat war neben konkreten politischen Aktionen die wichtigste Artikulationsmöglichkeit der Opposition in den kommunistischen Staaten. Dabei war der Stellenwert in den einzelnen Staaten unterschiedlich. In der Sowjetunion fand der Samisdat eine weite Verbreitung. Allgemein galt nur als lesenswert, was offiziell verboten und im Samisdat verbreitet wurde. Ossip Mandelstam formulierte bereits 1930: "Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden. Die ersten sind schmutziges Zeug, die letzteren – abgestohlene Luft. Den Schriftstellern, die im voraus genehmigte Sachen schreiben, möchte ich ins Gesicht spucken, möchte ihnen über den Kopf schlagen ..."

Der Verbreitung selbst waren in den meisten Ländern durch die knappen materiellen Ressourcen Grenzen auferlegt. Das war nur in Polen anders. Hier genoß nicht nur der Samisdat seit den sechziger Jahren eine hohe gesellschaftliche Anerkennung, zugleich stand der Opposition hier auch die Technik zur Verfügung, um Samisdat-Publikationen in hohen Auflagen zu verbreiten. "Von 1976 bis 1980 wurden ... 440.000 Exemplare der unabhängigen Presse, 121 Druckmaschinen, 106 Schreibmaschinen, 1.770 Bogen Papier und 113 Kilo Druckfarbe konfisziert. Verhaftungen für 48 Stunden gehörten zum Alltag der Oppositionellen." In Polen existierten Zeitschriften im Samisdat, die Auflagen von über 5.000 Stück erzielten und an deren Herstellung 100 Personen aktiv beteiligt waren. Einzelne Bücher erreichten Auflagen von über 10.000 Stück, wobei sich in Polen wie auch in Ungarn feste Verlage etablierten, die zwar permanenten Repressionen ausgesetzt waren, sich aber letztlich immer wieder behaupten konnten.

Den Samisdat ergänzten weitere inoffizielle Publikationsformen. Dazu zählte der "Magnitizdat". Verbotene Sänger und Sängerinnen wurden auf Tonbändern und Kassetten, vereinzelt sogar auf selbst produzierten Schallplatten weitergereicht. Hinzu kam der "Tamisdat" (tam = dort). Das Wort bezeichnet Verlage, die im "westlichen" Ausland angesiedelt sind, d.h. dem Tamisdat werden Bücher und Zeitschriften hinzugerechnet, die im westlichen Ausland veröffentlicht worden sind. Dabei sind die Publikationen sowohl zunächst im Samisdat und anschließend im Tamisdat als auch umgekehrt publiziert worden. Dafür gibt es viele berühmte Beispiel, etwa Andrej Amalriks Buch "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben" oder Vacláv Havels Schrift "Versuch, in der Wahrheit zu leben", die zunächst im Samisdat erschienen sind und anschließend im Tamisdat weltweite Verbreitung fanden.

Die Stärke und Originalität des Samisdat hing wesentlich mit der Schwäche bzw. Stärke des Tamisdat zusammen. Um so mehr verbotene sowjetische Autoren im Westen publizierten und diese Werke in die Sowjetunion zurückflossen, um so schwächer wurde der sowjetische Samisdat, der tatsächlich seine kraftvollsten Ausdrücke in den sechziger und siebziger Jahren fand. In Polen war die Situation ab den siebziger Jahren insofern anders, als aus dem westlichen Ausland eine Vielzahl von Druckmaschinen und andere Technik (illegal) eingeführt werden konnten und sich so in Polen eine regelrechte Samisdat-Wirtschaft entwickelte. Hier war auch der Gegensatz zwischen Samisdat und Tamisdat am geringsten. In der ?SSR fanden die wichtigsten Samisdat-Autoren auch im Westen Verbreitung, wobei zu erinnern ist, daß ein großer Teil der Opposition nach 1968 das Land verlassen mußte und die Chartisten später immer darauf achteten, sowohl im Samisdat als auch im Tamisdat ihre Werke öffentlich zu machen. Das wohl berühmteste tschechische Samisdat-Buch, Václav Havels "Versuch, in der Wahrheit zu leben", fand so seinen Weg vom tschechischen Samisdat in den westlichen Tamisdat und von dort zurück in den polnischen, ungarischen, russischen und ostdeutschen Samisdat. In den kommunistischen Staaten Europas – abgesehen von der DDR – war man aber stets gezwungen, Tamisdat-Produkte zu übersetzen, weil sich englisch, französisch oder deutsch nur als beschränkt rezipierbar erwiesen und im Tamisdat nur begrenzt in polnisch, russisch, tschechisch oder ungarisch publiziert worden ist. Das Beispiel der DDR stellte auch hier eine Ausnahme dar.

Aufgrund der Teilung Deutschlands war der Tamisdat für die DDR stets wichtiger als der Samisdat. Schon in den fünfziger Jahren sind wichtige oppositionelle Schriften im Westen publiziert worden und anschließend in die DDR eingeführt worden. Das bekannteste Beispiel stellt die Plattform von Wolfgang Harich dar. Nach dem Mauerbau änderte sich die Situation. Robert Havemanns berühmte Vorlesungen etwa kursierten zwar als Abschriften und Mitschriften, aber erst nachdem sie komplett im Rowohlt Verlag bei Hamburg 1964 erschienen waren, konnten sie autorisiert auch in der DDR verbreitet werden. Havemanns Bücher waren dabei sowohl als Abschriften wie auch als Originalbuchausgabe im Umlauf. Rudolf Bahros Buch "Die Alternative" erschien 1977 in der Bundesrepublik und fand hundertfach seinen Weg zurück in die DDR. Zuvor sind bereits sechs umfangreiche Vorträge, die das Buch zusammenfaßten, von Bahro im Samisdat verbreitet worden.

Es gab viele Autoren bzw. Werke, die unter gar keinen Umständen in der DDR offiziell verbreitet und verlegt werden durften. Die in der Bundesrepublik verlegten Schriften sind oft entweder als Originalausgabe oder als Tarnschrift in der DDR illegal oder aber in typischer Samisdat-Ausgabe verbreitet worden. Die letztere Form war aber eine seltene Ausnahme. Vor allem in Samisdat-Periodika sind einzelne kürzere Arbeiten nachgedruckt worden. Zuweilen sind auch wichtige Arbeiten verfemter Autoren in eigenen Publikationen im ostdeutschen Samisdat publiziert worden. Günter Särchen und Ludwig Mehlhorn publizierten etwa im Rahmen der "radix-blätter" einen Band mit Essays von Jan Strzelecki. Über den 1988 ermordeten polnischen Soziologen äußern sich in dem 119 Seiten umfassenden Buch zudem mit Tadeusz Mazowiecki, Adam Michnik und Leszek Ko?akowski drei wichtige Vertreter des polnischen Gegendiskurses, die in der DDR unerwünschte Personen waren. Im März 1989 gaben Gerd Poppe und Benn Roolf das Heft "Václav Havel" heraus. Die Ausgabe stellte eine Sonderausgabe der Samisdat-Periodika "Kontext" und "Ostkreuz" dar. Die Titelgrafik steuerte Bärbel Bohley bei. Nach einer kurzen Vorstellung Havels durch Gerd Poppe erläuterten die Herausgeber ihre Motivation, ein solches Heft zusammenzustellen. Sie wollen gegen die erneute Verhaftung und Verurteilung Havels im Februar 1989 protestieren, über sein Werk und seine Person aufklären, ähnliche Editionen anregen und eine Diskussion über die Ideen von Havel befördern. Im Einzelnen handelt es sich um Auszüge aus einigen Essays und aus einem Schauspiel. Die insgesamt einzeilig gesetzten 37 Seiten speisen sich bis auf die Vorbemerkungen der Herausgeber aus Publikationen, die in der Bundesrepublik veröffentlicht worden sind. Zu dieser Tamisdat-Form zählen noch einige weitere Besonderheiten. "die taz" etwa publizierte seit 1986 vierzehntägig dienstags eine "Ost-Berlin-Seite" bzw. "DDR-Seite". Entscheidend beteiligt war Roland Jahn, der seit seiner Zwangsabschiebung 1983 als freier Journalist in West-Berlin lebte und neben Jürgen Fuchs die wichtigste Kontaktperson für die DDR-Opposition im Westen war. Jahn organisierte nicht nur Technik und Gedrucktes, sondern stellte im Westen auch Öffentlichkeit her. Ein Projekt war die "Ost-Berlin-Seite" der "taz", in der entweder authentische Stimmen der Opposition zu Worte kamen oder aber über Aktivitäten der Opposition berichtet worden ist. Eine weitere Erscheinungsform dieses Tamisdat war die "Tarnschrift", wie sie in den fünfziger Jahre häufig verbreitet worden ist: unter einem harmlosen Buchdeckel verbarg sich eine "Feindpublikation" (George Orwells "1984" etwa unter dem Titelblatt eines FDJ-Liederbuches), Zeitungen wie das "Neue Deutschland" sind gefälscht in den Umlauf gebracht oder eigens produzierte Zeitungen wie "Die Wahrheit", "Der Parteiarbeiter", "Die junge Stimme", "Der Aufbruch", "Ostsee-Kurier", "Schweriner Echo", "Neubrandenburger Augenzeuge" oder "Leipziger Allerlei" sind verteilt worden. Auch in den siebziger und achtziger Jahren sind verschiedene Tarnschriften verbreitet worden.

Der Tamisdat wirkte auf die Entwicklung des Samisdat in der DDR nachhaltiger ein als in anderen kommunistischen Staaten. Die westdeutsche Öffentlichkeit bildete eine Ersatzöffentlichkeit für die DDR. Der Literaturhistoriker Klaus Michael schrieb einmal zugespitzt: "Der Westen war immer schon der eigentliche Samisdat des Ostens." Als die ARD im August 1987 den Beitrag "Glasnost von unten" ausstrahlte und darin u.a. den "Grenzfall" bekannt machte, war die Existenz des politisches Samisdat und damit einer politischen Opposition auch im letzten Zipfel der DDR nicht mehr zu verheimlichen.

Die unabhängige Literatur- und Künstlerszene brachte bis 1989 insgesamt 30 grafisch-literarische Kleinzeitschriften und über 100 originalgraphische Künstlerbücher heraus. Gedruckt wurden sie zumeist in privaten Künstlerwerkstätten, die vereinzelt schon in den siebziger Jahren entstanden waren und die die restriktive staatliche Druckgenehmigungspraxis zunehmend ignorierten. Diese Publikationen überschritten zumeist nur in ästhetischer und nicht in politischer Hinsicht die Grenzen des offiziell Zugelassenen. Durch ihre geringe Auflagenhöhe war ihr Wirkungskreis ohnehin beschränkt. Dennoch zählte das MfS auch diesen Samisdat zum "politischen Untergrund". Grund dafür war vor allem die Tatsache, daß hier auf unkontrollierte Weise eine begrenzte Öffentlichkeit hergestellt wurde und sich die Beteiligten zumeist außerhalb des offiziellen Kunst- und Literaturbetriebes bewegten. Das MfS verzichtete überwiegend auf strafrechtliche Verfolgungen. Durch den Einsatz zahlreicher IM hatte sie die Szene fest im Griff. 1987 erlaubte die SED sogar einigen Bibliotheken, "Kleinzeitschriften" und "Grafikmappen" offiziell zu erwerben und zu sammeln. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre dehnte sich dieser kulturelle Samisdat nicht nur aus, sondern errang sogar mehr und mehr legale Positionen. Als Anfang März 1989 die Staatssicherheit eine Grundsatzanalyse über die Opposition in der DDR zusammenstellte fanden sich unter den 39 "nichtlizenzierten Druck- und Vervielfältigungserzeugnissen antisozialistischen Inhalts und Charakters", die das MfS als bedrohlich ansah, nur noch drei Periodika aus dem künstlerischen Samisdat: "Anschlag" (Leipzig), "Glasnot" (Leipzig/Naumburg) und "Zweite Person" (Leipzig). Diese drei literarischen Periodika publizierten auch politische Texte.

Künstlerischer und politischer Samisdat existierten in der DDR weitgehend separat voneinander. In einigen Fällen reagierten beide Seiten auch harsch ablehnend aufeinander. Anders als in Ostmitteleuropa und in der Sowjetunion waren künstlerischer und politischer Samisdat getrennt. Neben den drei genannten Ausnahmen bemühte sich ab 1988 auch die bei der Evangelischen Bekenntnisgemeinde Berlin-Treptow von Torsten Metelka und Benn Roolf herausgegebene Zeitschrift "Kontext" um einen Brückenschlag zwischen Politik und Kultur.

Die Geschichte des politischen Samisdat in der DDR reicht bis in die Anfänge des Staates zurück. Flugblätter, Aufrufe, Manuskripte oder Handzettel wurden zu allen Zeiten abgeschrieben und weitergereicht. Bis zum Mauerbau dominierten dabei Materialien, die im Westen hergestellt worden sind. Erst in den achtziger Jahren bildete sich ein breiter und kontinuierlicher politischer Samisdat heraus, der allein in der DDR herausgegeben, gedruckt und vertrieben wurde.

Politischer Samisdat bedeutete die konsequente Fortsetzung älterer Samisdat-Formen: Er stellte eine Fortsetzung des "einfachen" Samisdat dar, bei dem politische Texte mit einfachen Mitteln – Schreibmaschine, Durchschlagpapier, Stempelkasten – in sehr kleinen Auflagen verbreitet wurden. Das Schrifttum der evangelischen Kirchen, sofern es sich um politisches handelte, bildete ebenfalls eine Wurzel des politisches Samisdat. Hinzu kam der künstlerische Samisdat, der weniger vom Inhalt, sehr wohl aber von der Art und Weise als Impulsgeber anzusehen ist. Denn dieser Samisdat hatte gezeigt, daß es möglich war, "nichtlizenziert" zu publizieren.

Das erste nicht-staatliche gesellschaftskritische Periodikum waren die seit Januar 1980 vom Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg herausgegebenen "Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch-Natur". Sie erschienen zweimal im Jahr, bis November 1989 insgesamt 20 Ausgaben. Die Arbeitsgruppe Umweltschutz beim Stadtjugendpfarramt Leipzig gab seit November 1981 das Informationsblatt "Streiflichter" heraus. Das war das erste Periodikum einer politisch engagierten Basisgruppe. Von "Streiflichter" erschienen bis November 1989 56 Ausgaben, wobei die ersten Ausgaben jeweils nur ein oder zwei Blatt umfaßten. Die ersten Blätter agierten zurückhaltend und konzentrierten sich überwiegend auf Terminankündigungen, Selbstdarstellungen christlicher Gruppen und gesellschaftliche Themen mit religiösem Bezug. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre änderte sich das Profil des Samisdat. Politische Fragen rückten in den Mittelpunkt, die Sprache entkleidete sich zunehmend ihrer Verbrämungen und das Layout erschien zunehmend professioneller. Der Konstituierungsphase (bis 1985) folgte die Expansionsphase (1986-1989), in der die inoffizielle Publizistik den engen Rahmen innerkirchlicher oder künstlerischer Vervielfältigungen zunehmend durchbrach.

Der "mOAning star" erschien seit Dezember 1985 in Berlin. Das war ein lustiges Informationsblatt der "Offenen Arbeit" und später auch der "Kirche von Unten" in Berlin. Im Juni 1986 ist die erste Nummer des "Grenzfall" aus dem Umfeld der Berliner "Initiative Frieden und Menschrenrechte" (IFM) herausgekommen sowie kurz darauf das erste Heft der Umweltbibliothek in der Berliner Zionsgemeinde, das unter dem Namen "Umweltblätter" neben dem "Grenzfall" zur bekanntesten und wichtigsten Samisdat-Zeitschrift wurde. Die Zahl der bekannten politischen Samisdat-Periodika stieg von 20 (1987) über 30 (1988) und auf schließlich 39 (1989). Zentren der Herausgabe waren Berlin und Leipzig. Neben den Periodika gab es eine Vielzahl von Einzelpublikationen, die teilweise Buchcharakter annahmen.

Das größere Spektrum beförderte zugleich unterschiedliche politische Richtungen. Zwar dominierte in den meisten Ausgaben die Information, zugleich aber akzentuierten jene Blätter ihre politische Ausrichtung, die in einem gefestigten und klar positioniertem Oppositionskreis verwurzelt waren. Der "Friedrichsfelder Feuermelder" entstand beim "Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde" – er trat prononciert kapitalismusfeindlich auf, so daß auch der "Feuermelder" linkssozialistisch und zuweilen auch linksdogmatisch ausfiel. Die "Umweltblätter", von denen 1986 bis 1989 32 Ausgaben publiziert worden sind und die seit November 1989 als "telegraph" erscheinen, entstanden bei der Berliner Umweltbibliothek, die eher basisdemokratisch, radikalökologisch und anarchistisch orientiert war. Dies schlug sich auch in den "Umweltblättern" nieder. Die Publikationen aus dem Umkreis der IFM wie "Grenzfall", "Ostkreuz", aber auch Einzelpublikationen wie "Art. 23", "Fußnote 3" oder "Václav Havel", waren radikaldemokratischen Positionen und einem universell gültigen Menschenrechtsbegriff verpflichtet. Bei den Veröffentlichungen zeigten sich wachsende Unterschiede in den redaktionellen Konzepten – zwischen praktisch orientierten und theoretisch ausgerichteten Heften, zwischen lokal verankerten, überregional oder DDR-weit agierenden Periodika, zwischen Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Analysen, künstlerischen Essays, kommentarlosen Dokumentationen oder kürzeren Informationen.

Das große Problem stellte die technische Herstellung dar. Nur allmählich verbesserten sich in den achtziger Jahren die Produktionsbedingungen. Die meisten Samisdat-Publikationen wurden auf kirchlichen Maschinen hergestellt. Ausgaben, die ohne kirchliches Dach auskamen, hatten es bedeutend schwerer. Der "Grenzfall" ist anfangs auf Fotopapier im Format A6 in 50 Exemplaren abgezogen werden. Erst als über Roland Jahn ein Wachsmatrizengerät aus dem Westen besorgt werden konnte, wurde die Herstellung der bis 1000 Exemplare einfacher. Große Schwierigkeiten bereitete die Beschaffung von Matrizen, Farbe und Papier. In der DDR waren sie, zumal in größeren Mengen, kaum zu bekommen, so daß Farbe und Matrizen im Westen besorgt und über Besucher oder Korrespondenten eingeschmuggelt werden mußten. Michael Beleites, der 1988 die vielbeachtete Studie "Pechblende" über die Folgen des Uranbergbau in der DDR im Samisdat publizierte, erinnert sich: "Der Druck eines ‚nichtgenehmigten Druckerzeugnisses’ war fast mit einem ebensolchen Aufwand verbunden, wie die Informationsbeschaffung zu einem Tabu-Thema. Bis zur Fertigstellung des Manuskripts im Oktober 1987 hatte ich mir nicht vorstellen können, welche organisatorischen und technischen Probleme sich einer schnellen Vervielfältigung der Uran-Studie noch entgegenstellten. Erst im Frühjahr 1988 kam es dazu, daß der kirchliche Arbeitskreis ‚Ärzte für den Frieden’ in Berlin und das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg gemeinsam die Herausgeberschaft für die ‚Pechblende’ übernahmen. Doch damit waren die technischen Fragen noch nicht geklärt. Der Berliner Ärztekreis hatte kein Vervielfältigungsgerät, die Wittenberger Wachsmatrizen-Druckmaschine war kaputt und der Bund der evangelischen Kirchen in Berlin wollte sich nicht als ‚Dienstleistungsbetrieb’ für andere kirchliche Einrichtungen sehen. Schließlich wurden die mit Graphiken versehenen Seiten vom evangelischen Jungmännerwerk in Magdeburg im Offset-Verfahren gedruckt und die übrigen Seiten mit einer Wachsmatrizenmaschine in Berlin. (...) Kopierer oder Kopierläden gab es nicht, Wachsmatrizen und Druckerschwärze nur in extrem schlechter Qualität und Klammern für mehr als 15 Blatt waren ebenfalls nicht erhältlich. In dieser Situation haben uns Mitglieder der westdeutschen IPPNW geholfen, indem sie dem Ost-Berliner Ärztekreis westliche Wachsmatrizen und Druckerschwärze schenkten. Ende Mai 1988 habe ich dann eine Woche lang im Keller der Berliner Samariter-Gemeinde an einer alten, mit Handkurbel zu betreibenden Wachsmatrizen-Druckmaschine gestanden und die ca. 50.000 Seiten gedruckt. Im Anschluß daran haben wir bei Pflugbeils in der Wohnung die Hefte gelegt und geklammert. Als wir in Berlin die ersten fertiggestellten Hefte an Kirchenleitungsmitglieder verteilten, hat uns die Stasi bis zu den jeweiligen Haustüren verfolgt. Hans-Jürgen Röder sorgte für die Verbreitung der Studie im Westen. Nach seiner epd-Meldung wurde die ‚Pechblende’ bald zu einem größeren Thema in der westlichen Presse."

Das Herstellen von Samisdat-Publikationen war echte Knochenarbeit. Dirk Moldt, maßgeblich an dem politischen Spaßblatt der Offenen Arbeit Berlin "mOAning star" beteiligt, erinnerte sich: "Nach dem Drucken wurden die Papierstapel in der richtigen Reihenfolge hintereinander aufgebaut, und indem man von jedem Stapel das oberste Blatt abnehmend die Reihe abschritt, begann das ‚Legen’. Das konnte eine äußerst nervende Beschäftigung sein, wenn man sich gegenseitig behindernd, Waschfrauenfinger leckend, die Zunge trocken legte und die Rückenmuskulatur oft über Stunden einseitig strapazierte. Das ‚Legen’ war der übelste aller für die Herstellung von Info-Blättern notwendigen Arbeitsgänge. Aber ich erinnere mich auch, aus der Not eine Tugend machend, an regelrechte ‚Legepartys’, bei denen wir wie Verrückte um einen großen Tisch wetzten und die Drehungen im Kopf mit Wein zurückzuschrauben versuchten."

Einen qualitativen Sprung machte die Samisdat-Produktion, als in der "Umweltbibliothek" damit begonnen wurde, die Wachsmatrizen per Computer zu beschreiben und auf eigenen Geräten zu vervielfältigen. Wie wichtig die Technik war, wird auch daran deutlich, daß an den wenigen Maschinen, die "konspirativ" zur Verfügung standen, eine Reihe von verschiedenen Samisdat-Publikationen produziert worden sind.

Das Gefährlichste am Samisdat war seine technische Herstellung, nicht die intellektuelle Arbeit. Das mag absurd klingen, weist aber auf die Tatsache hin, daß auch in der DDR das Geschriebene erst als gefährlich eingestuft worden ist, wenn es vervielfältigt und dann verbreitet werden sollte. Um dies zu erreichen, benötigten der Samisdat nicht nur die Hilfe der Kirchen, sondern noch viel stärker – denn auch die Kirchen bedurften zunächst dieser Hilfe – des Westens. Einerseits kauften die Kirchgemeinden im Westen Druck-, Computer- und Kopiertechnik bzw. bekamen es von Partnergemeinden gespendet. Zum anderen aber organisierten westliche Unterstützer der Opposition und ausgebürgerte Oppositionelle Technik, Literatur und stellten Öffentlichkeit für die Opposition her. Mit dem Einsatz neuer Technik stieg die Auflagenhöhe der Samisdat-Publikationen. Das stellte wiederum Herausforderungen an die Vertriebstruktur. Während anfangs die Samisdat-Veröffentlichungen in der Regel nur im Umfeld der eigenen Gruppe verteilt und an einige wenige Kontaktpartner in anderen Städten verschickt wurden, konnten sie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre immer häufiger bei Veranstaltungen und größeren Zusammenkünften erhalten werden. Regelmäßig lagen die Hefte auf Büchertischen bei kirchlichen Veranstaltungen sowie in den Friedens- und Umweltbibliotheken aus. Einzelne Samisdat-Periodika sind nach einem Abonnentenschlüssel verteilt worden.

Der Samisdat ist ein Spiegelbild der Opposition. Die Samisdat-Schriften reflektieren in einem hohen Maße die Vorstellungen der Opposition. Allen Veröffentlichungen gemeinsam war ein diskursiver Ansatz, der das Medium nicht als Zentralorgan, sondern als basisdemokratisches Dialogforum begriff. Das Themenspektrum umfaßte Fragestellungen, die die Gruppen beschäftigten: innerer und äußerer Frieden, Umwelt, ökologische Lebensweise, Auseinandersetzungen mit dem SED-Staat und der Kirche, Menschenrechte, Demokratisierung, gesellschaftliche Reformen, Glasnost und Perestroika, Ostmittel- und Osteuropa, Solidarität mit der "Dritten Welt" und politisch Inhaftierten sowie Umgang mit der Vergangenheit.

Die Texte des Samisdat wie auch oppositionelle Aufrufe und Flugblätter müssen heute decodiert werden. Denn die Sprache war so vielgestaltig wie es oppositionelle Gruppen und Richtungen gab. Prinzipiell zeigt sich, daß die Oppositionellen sich nicht allein von der Gängelung durch die SED-Sprachnormierung befreit hatten, sondern auch ihre Argumente und Themen zumeist konträr zum offiziellen Medienbild standen. Weniger die zeitliche Nähe zum bevorstehenden Umsturz des Jahres 1989 war dabei bestimmend für den Grad der Distanz, als vielmehr die Rolle des Sprechers im Verhältnis zum staatlichen System. So spricht etwa der Theologe Schorlemmer noch zu Beginn des Wendejahres affirmativ von "unserer sozialistischen Gesellschaft", während zum selben Zeitpunkt die Vertreter der IFM längst westliche Ideen der Rechtsstaatlichkeit und politischen Gewaltenteilung als selbstverständlich proklamieren. Die meisten, nicht alle, Gruppen hielten zwar am Begriff "Sozialismus" fest, wollten aber vor allem – unabhängig wie sie sich nennt – eine freie und emanzipierte Gesellschaft. Die Existenz einer "sozialistischen Demokratie", wie offiziell pausenlos verkündet, wurde bestritten – diese Einsicht konstituierte die Opposition. Ihren Demokratiebegriff banden die Oppositionellen an die Verwirklichung demokratischer Elemente, die für die offiziell als rückständig geltende bürgerliche Demokratie konstitutiv sind, wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Möglichkeit zur Parteienbildung, freie Wahlen. Ebenso ist der offizielle Friedensbegriff, wonach Frieden nur vom Sozialismus garantiert sei, zurückgewiesen und Frieden demgegenüber als "unteilbar" erklärt worden. Frieden bestand aus zwei Elementen, aus dem inneren und dem äußeren Frieden. Wer aber "innen" keinen Frieden garantiere, könne dies auch "außen" nicht. Obwohl diese und andere Begriffe (wie etwa Freiheit) anders als offiziell vorgegeben benutzt und ausgefüllt worden sind, hieß dies nicht zugleich, daß sie wie im Westen gebraucht worden wären. Zum Samisdat gehörten aber auch, was oft übersehen wird, Diskussionen etwa um Ideen von Hannah Arendt, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann.

Die "Umweltblätter", der "Grenzfall" oder der "Friedrichsfelder Feuermelder" – um drei Periodika zu nennen, die verschiedene politische Standpunkte innerhalb der Opposition symbolisieren – waren thematisch breit ausgerichtet, reagierten sowohl ausführlich auf aktuelle politische Vorgänge und berichteten und analysierten zugleich grundsätzliche Entwicklungen und Prozesse. Schließlich gab es Samisdat-Publikationen, die ausdrücklich einzelnen Themen oder Ereignissen gewidmet waren. Dazu zählten Ausgaben, die auf einzelne Ereignisse reagierten (u.a. Art. 27, Fußnote 3, Dokumenta Zion), spezielle Entwicklungen darstellten und analysierten (z.B. Pechblende) oder als Periodika ein spezielles Thema in den Blick nahmen (z.B. Ostkreuz). "Kontext" nahm in vielerlei Hinsicht eine besondere Position ein, weil die Zeitschrift nicht nur breit orientiert war, sondern auch den Brückenschlag zwischen alternativer Kultur und politischer Opposition versuchte, herzustellen. Die "radix-blätter" wiederum waren als Reihe singulär, zumal die "radix-blätter" im unabhängigen und illegalen "Radix-Verlag" von Stephan Bickhardt hergestellt worden sind. Die einzelnen Ausgaben der "radix-blätter" aber waren zumeist speziellen Themen gewidmet, so daß die separaten Hefte im Gegensatz zur gesamten Reihe im Kontext des Samisdat in der DDR zunächst nicht besonders aus dem Rahmen fielen.

Das Herstellen und Verbreiten eigener Publikationen ist vom MfS eingehend beobachtet und verfolgt worden. Ziel war es, neue Samisdat-Publikationen zu verhindern. Der Samisdat zählte zur politischen Untergrundtätigkeit. Die Staatssicherheit hielt sich solange zurück, solange die Samisdat-Publikationen vorwiegend religiöse und kirchliche Fragen behandelten. Ohnehin waren der Herstellung und Verbreitung enge Grenzen gesetzt, da es stets an Druckkapazitäten, Farbe und Papier mangelte. Unabhängig vom Inhalt versuchten fast alle Redaktionsgruppen von Samisdat-Veröffentlichungen ihren Publikationen einen legalen Anstrich zu geben, um sich vor Repressionen zu schützen. Deshalb war auf fast allen Samisdat-Publikationen der Aufdruck "Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch" oder "Nur zur innerkirchlichen Information" zu lesen. Einige Publikationen haben darauf gänzlich verzichtet (etwa "Grenzfall", "radix-blätter", "Fußnote 3", "Art. 23", "Ostkreuz" sowie fast der gesamte künstlerische Samisdat). Andere , wie etwa die "Arche", haben selbstbewußt "natürlich innerkirchlich" verkündet. Um zu verdecken, daß es sich um eine Zeitschrift handelt, haben einige auf eine Numerierung verzichtet. Die "Arche" gab sich sogar zur Tarnung eine fiktive kirchliche Drucknummer. Der staatliche Druck richtete sich direkt fast nie gegen die Redaktionen, sondern zumeist gegen die Kirchenfunktionäre, die ultimativ gemahnt wurden, diese "Rechtsverstöße" zu unterbinden. Rainer Eppelmanns Blätter in der Berliner Samaritergemeinde sind Mitte der achtziger Jahre etwa vom Konsistorium unterbunden worden, weil das Erscheinen "politisch unverantwortlich" sei. Generalsuperintendent Günter Krusche (IM "Günter") zog eine Druckmaschine ein und sperrte die Drucklizenz.

Es gelang dennoch nicht, die Entwicklung des Samisdat ernsthaft zu beeinträchtigen. Es konnten zwar einzelne Ausgaben verhindert werden, aber nicht der Samisdat an sich. Unter Druck des MfS oder aber auch aus eigenem Antrieb unterband die Kirche immer häufiger das Erscheinen von einzelnen Ausgaben. Außerdem erreichte das MfS zuweilen durch Druck auf Kirchenstellen und durch eingeschleuste IM, daß sich in einigen Zeitschriften der Inhalt politisch "entschärfte". Trotz dieser Maßnahmen gelang es nicht, die inoffizielle politische Publizistik zu zerschlagen. Die Repressalien führten vielmehr zu neuen Solidaritätsaktionen und zu einer wachsenden Konfliktbereitschaft der Gruppen. Die Staatssicherheit mußte im Frühjahr 1989 gegenüber dem SED-Politbüro einräumen: "Ungeachtet einer Vielzahl durchgeführter differenzierter und zentral abgestimmter staatlicher und gesellschaftlicher, insbesondere auch rechtlicher Maßnahmen zur Verhinderung der Herstellung und Verbreitung solcher Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse – darin eingeschlossen die bekannten Maßnahmen gegen die antisozialistische Schrift ‚Grenzfall’, die im Zeitraum 1986/87 eine Schlüsselrolle unter derartigen Pamphleten einnahm und feindlich-negativen Kräften als Nachahmungsbeispiel diente – und dabei erzielter Ergebnisse konnte die Gesamtsituation auf diesem Gebiet nur unwesentlich positiv beeinflußt werden. (...) Insgesamt ist aktuell eine steigende Tendenz hinsichtlich der Profilierung existierender und der Herausgabe neuer sogenannter Informationsblätter zu beachten."

Das wesentliche Ziel der Opposition war in der Revolution 1989/90 sehr schnell erreicht: die Etablierung einer offenen Gesellschaft. Diese machte den Samisdat überflüssig. Die Opposition und ihre Samisdat-Veröffentlichungen haben den Boden bereitet, auf dem eine Revolution stattfinden konnte. Die intellektuelle, materielle und lebensperspektivische Unzufriedenheit der großen Mehrheit der Bevölkerung, der massenhafte Strom der Ausreiser und der politische Wille der Opposition mußten zusammenkommen, um das Regime zu begraben. Vor dem Herbst 1989 Opposition betrieben zu haben, war weder einfach noch gefahrlos. Ganz im Gegenteil. Und hier liegt auch das große Verdienst des Samisdat. Denn der Samisdat verlieh der Opposition eine Stimme. Sie konnte nah und fern gehört, diskutiert und beantwortet werden. In einer Diktatur, in der idealerweise der Bürger abgeschafft und nur der willenlose Sklave geduldet wird, ist es schwer, sich als Bürger und Bürgerin zu behaupten. Oppositionelle vollbrachten diese Tat mit schwerwiegenden Konsequenzen – sie benahmen sich als Bürgerinnen und Bürger, nahmen sich Rechte, die ihnen verwehrt werden sollten, verhielten sich als freie Bürger, obwohl die Unfreiheit das System prägte. Und der Samisdat war, vielleicht nicht das wichtigste, sehr wohl aber das sichtbarste Zeichen dafür, daß hier Männer und Frauen nicht nur für ihre Rechte einstehen und diese einklagen, sondern in einem Akt der emanzipatorischen Selbstbefreiung zugleich so lebten, als würde ihnen auch jemand diese Rechte garantieren.

Daß die Samisdat-Autoren so energisch für die Rechte des Individuums stritten, gewinnt seine eigentliche Tragweite erst im geschichtlichen Kontext. Einig waren sich die Oppositionellen in Osteuropa, auch in der DDR, darin, daß es töricht und verbrecherisch sei, wie die kommunistischen Herrscher gegen die Gesellschaft zu regieren. Ebenso einig zeigten sie sich aber auch darin, daß es sinnlos sei, die kommunistische Herrschaft stürzen zu wollen, solange die Sowjetunion den Ostblock nicht aus der eisenharten Umklammerung entließe. Es käme deshalb darauf an, wie etwa polnische Oppositionelle Mitte der siebziger Jahre herausstellten, Unabhängigkeit, eine "zweite Gesellschaft" im Inneren der Länder zu organisieren, sich frei zu machen vom Staat. Es ging, wie Konrád es in den achtziger Jahren nannte, um "Antipolitik" und um den Aufbau einer Zivilgesellschaft.

Der deutsche Samisdat braucht heute ebenso wie die Opposition in der DDR nicht idealisiert zu werden. Beides hatte Schwächen, zweifellos. Doch die Opposition und ihre Samisdat-Publikationen forderten einen übermächtigen Staat heraus, der letztlich wankte und zusammenbrach. Es wäre ebenso falsch, aus der Perspektive des Samisdat all das mit Argwohn zu betrachten, was die Zensur passieren ließ, was in der DDR offiziell publiziert werden konnte und keiner Verfolgung anheimfiel. Und nicht einmal alles, was im Samisdat erschien, bürgte für Qualität, Innovation, Originalität oder gar politische Weisheit. Und doch: die bloße Existenz formierte eine Kraft, und der Inhalt in der Summe gab dieser Kraft eine Richtung.

In der Retrospektive wird deutlich, daß der Samisdat emanzipatorisch über den engen Oppositionskreis hinaus wirkte. Einzelne wurden in ihrer Würde verteidigt, individuelle Autonomien behauptet und Geschichte immer wieder dem Vergessen entrissen. Die selbstverständliche Kommunikation nahm vorweg, was kaum jemand anstrebte. Der Untergrund war eine Brücke, ein Fall der Grenzen. Öffentlichkeiten entstanden in Einzelstücken. Dissonanzen, Differenzen, ja Zerwürfnisse gehörten, wenn schon nicht zum Programm, so doch aber zu dem Einsichtenkatalog, Bestandteil von Pluralität zu sein. Samisdat hieß Handeln. Es ging darum, die Hoheit über die Sprache, über das eigene Leben, über die Gesellschaft zurückzuerlangen. Der Samisdat hat dazu nicht wenig beigetragen, diese Hoheit zurückzuerlangen.

Schriften aus dem Untergrund, Rezension von Hubertus Knabe

Ein neues Buch dokumentiert den politischen Samisdat der DDR - Hubertus Knabe

Was gestern Gegenwart war, ist heute schon Geschichte. Wie beängstigend schnell die aktuellen Zeitläufe zur Historie werden, kann man an einer neuen, fast 600 Seiten starken Dokumentation studieren, die sich dem politischen Samisdat in der DDR der späten achtziger Jahre widmet. Zwischen hochglänzenden Buchdeckeln sind darin 63 Beiträge wiedergegeben, die noch vor kurzem nur in Kleinstauflagen und miserabler Schriftqualität in inoffiziellen Publikationen der DDR-Bürgerrechtlerszene nachzulesen waren.

Schon das physische Gewicht des Buches lässt die einst von nur wenigen wahrgenommenen und von noch wenigeren politisch ernstgenommenen Texte aus dem ostdeutschen "Untergrund" zu einer respekteinflößenden historischen Leistung gerinnen. Dem Herausgeber des Bandes, Ilko-Sascha Kowalczuk, gebührt das Verdienst, die heute fast vergessenen Texte aus dem Vormärz der 89er Revolution gehoben und Wissenschaftlern wie anderen Interessierten in kompakter Form zugänglich gemacht zu haben. Die Beiträge sind, nunmehr mit erläuternden Fußnoten versehen, in den Rang von historischen Quellen erhoben worden, die ein authentisches Bild von den Vorstellungen der sich formierenden DDR-Opposition geben. Wer sie liest, so formuliert Karl Wilhelm Fricke seine Eindrücke im Vorwort, "ist beeindruckt vom reifen Ernst, mit dem sich die intellektuelle und politische Elite des sozialistischen Staates deutscher Nation’ auseinandergesetzt hat, mit den Herrschaftsstrukturen, mit der Rolle der Kirchen, mit der Politik der Regierung auch gegenüber dem anderen deutschen Staat und der internationalen Staatengemeinschaft." (S. 16)

Kowalczuk hat sich bei der Auswahl auf eindeutig politische Texte beschränkt und diese nach verschiedenen Themenblöcken sortiert: Im ersten Abschnitt geht es um die oftmals widersprüchlichen und konfliktreichen Selbstverständigungsversuche auf dem Weg zu einer sich selbst nur allmählich und keineswegs durchgängig als Opposition begreifenden Gruppenszene. Texte wie der Antrag "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" vom April 1987 oder die Gründungserklärung der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) sind hier wichtige nachgedruckte Dokumente.
Thema des zweiten Teils, der mit einer kritischen Eingabe mehrerer Bürgerrechtler an den XI. Parteitag der SED vom April 1986 eingeleitet wird, sind die Auseinandersetzung mit dem System der Diktatur in der DDR. Der dritte Abschnitt ist mit dem Stichwort "oppositionelle Aktivitäten" überschrieben und enthält unter anderem Ulrike Poppes Studie über "Das kritische Potential der Gruppen in Kirche und Gesellschaft".
Der vierte Block widmet sich der "gesellschaftlichen Situation" in der DDR und dokumentiert unter anderem Texte zum bereits damals erkennbaren Problem des Rechtsradikalismus in Ostdeutschland. Im aus heutiger Sicht vielleicht interessantesten Abschnitt "Mauer-Ausreise-Deutsche Frage" sind Texte versammelt, die sich mit der Situation der deutschen Teilung beschäftigen. Sie widerlegen das Vorurteil, daß sich die DDR-Opposition der achtziger Jahre nicht mit Überlegungen zur Aufhebung der unnatürlichen Nachkriegsordnung beschäftigt hätte, wenngleich deutlich wird, daß es nur wenige waren, die sich diesem heiklen und politisch verdrängten Thema zuwandten. Typisch dafür ist, wie Ludwig Drees 1987 allein aufgrund der mehrmaligen Erwähnung des Wortes "Deutschland" in einem seiner Texte verunsichert feststellt: "Ich komme mir vor, als ob ich etwas historisch Überholtes oder wenigstens etwas Verbotenes denke." (S. 435) Im letzten Teil geht es schließlich um das "gemeinsame Haus Europa", d.h. um Texte, die sich vor allem den Staaten des sowjetischen Blocks zuwenden und jenseits der verordneten "Völkerfreundschaft" die dortigen Dissidenten als Bündnispartner der Opposition entdecken. Nicht immer ist die Zuordnung der Texte ganz überzeugend, da die Debatten in der Wirklichkeit meist weniger strukturiert geführt wurden, als es die Sortierung des Buches nahe legt.

Der Dokumentation vorangestellt ist eine Skizze des Herausgebers zur Entwicklung des politischen Samisdats in der DDR. Hier geht es um die Ursachen seiner Entstehung, um seine Rolle als Medium der zahlenmäßig schwachen Opposition und um sein artverwandtes und doch andersgeartetes Gegenstück im Bereich der ungenehmigten Künstlerzeitschriften.
Näher dargestellt werden mit den "radix-blättern", dem "Grenzfall" und dem Kontext" drei wichtige inoffizielle Periodika sowie deren praktische Arbeit. Schließlich wird das Problem der staatlichen Repression angesprochen, einschließlich der dankenswerterweise stets vermerkten Zusammenarbeit von verschiedenen Redakteuren mit dem Staatssicherheitsdienst, um am Ende kurz das Aufblühen und anschließende Vergehen des Samisdats in der 89er Revolution zu beschreiben. Angefügt sind dieser Einführung der Wortlaut eines längeren Rundtischgespräches mit ehemaligen Akteuren, darunter Gerd Poppe, Stephan Bickhardt und Torsten Metelka, sowie ein Interview mit Roland Jahn, ohne dessen materielle Unterstützung aus Westberlin viele Hefte nicht hätten erscheinen können.

Für Leser der jüngeren Generation dürften insbesondere die der Dokumentation beigegebenen Faksimile-Nachdrucke einzelner Titelblätter und Dokumente faszinierend sein. Einwenden ließe sich gegen das Buch möglicherweise, daß die Auswahl der Texte und Autoren nicht repräsentativ ist. Wichtige Organe des politischen Samisdats wie die "Umweltblätter" oder der "Friedrichsfelder Feuermelder" wurden gar nicht oder nur am Rande berücksichtigt. Auch die weniger stark politisierten (aber gleichwohl politischen) Periodika wie die "Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch-Umwelt" oder die immer etwas isoliert gebliebenen Hefte aus der Ostberliner Samaritergemeinde fehlen in der Dokumentation. Die für die Herausbildung der Opposition besonders wichtigen Samisdat-Zeitschriften in der Provinz wie das "Friedensnetz" aus Mecklenburg oder der "Aufbruch" aus der Region Forst werden kaum erwähnt. Auch das Rundtischgespräch berücksichtigt nur einen kleinen Teil der einstigen Samisdatproduzenten, überwiegend solche, die politisch der IFM nahestanden.
Der Herausgeber schreibt zu seiner Auswahl, daß er sich auf Publikationen konzentriert habe, die im Umfeld der demokratischen Opposition und der Menschenrechtsbewegung entstanden seien. Die Begrenzung und fehlende Repräsentativität könne auch deshalb in Kauf genommen werden, weil zu den anderen Spektren des Samisdats in den letzten Jahren bereits andere Publikationen entstanden seien. Ob diese Eingrenzung so glücklich war, ist nicht sicher. Gerade die Zusammenschau der unterschiedlichen Positionen und Stile wäre für einen historischen Quellenband zum politischen Samisdat aufschlussreich gewesen. Zugleich wären die teilweise scharfen Kontroversen, die nunmehr Geschichte sind, deutlicher hervorgetreten. Das Argument, daß die anderen Meinungen bereits anderswo publiziert worden seien, trifft für viele der weggelassenen Bereiche des Samisdats gerade nicht zu, während umgekehrt zahlreiche der hier aufgenommenen Texte bereits in anderen Nachdrucken zugänglich sind. So könnte der Eindruck entstehen, daß die Auswahl unausgesprochenen politischen Affinitäten folgt und einen bestimmten - zweifellos besonders wichtigen - Bereich der DDR-Opposition in den Mittelpunkt rücken will. Daß der Band das Phänomen des politischen Samisdats in der DDR nur ansatzweise auslotet, trifft auch auf die einleitende Überblicksdarstellung zu, und zwar nicht nur mit Blick auf die Auswahl der darin näher beschriebenen Periodika. Bis heute gibt es keine Inhaltsanalyse des inoffiziellen Schrifttums, die einigermaßen repräsentativ über die verhandelten Themen und ihre Gewichtung Aufschluß gibt.
Die Arbeitsweise der verschiedenen Redaktionen, von den internen Debatten und Entscheidungsprozessen über die Probleme der technischen Herstellung bis hin zu den inoffiziellen Vertriebswegen, sind oft nur den Beteiligten bekannt und jedenfalls wissenschaftlich nicht untersucht. Auch die Formulierung und Umsetzung der Gegenstrategien von SED und Staatssicherheitsdienst und deren Auswirkungen auf den Samisdat sind noch gründlich zu erforschen, einschließlich des im Buch leider unerwähnten Vorhabens der SED, die ausufernde inoffizielle Publizistik 1989 durch eine dann aber nicht mehr in Kraft getretene Neufassung der Druckgenehmigungsanordnung in den Griff zu bekommen.
Das alles schmälert freilich nicht den Wert dieser Dokumentation, die insbesondere dem einschlägig nicht weiter vorgebildeten Leser einen tiefen Einblick in die Vorstellungswelt der DDR-Opposition erlaubt. Erst in der Rückschau - nachdem sich das Schlachtgetümmel der einzigen gewaltlosen Revolution auf deutschen Boden gelichtet hat - wird deutlich, worin die historische Bedeutung der schwachen, aber politisch erfolgreichen Gegenöffentlichkeit im SED-Staat lag.

Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989. Eine Dokumentation, Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs Bd. 7, Berlin 2002

Rezension von Udo Baron, FU Berlin

Rezensiert für H-Soz-Kult von

Udo Baron, Forschungsverbund SED-Staat, Freie Universität Berlin

„Grenzfall“, „Umweltblätter“, „radix-blätter“ – nur wer sich gezielt mit dem Thema Widerstand und Opposition in der ehemaligen DDR beschäftigt, dem sagen diese „Flagschiffe“ der Untergrundpublikationen der DDR noch etwas. Der breiten Öffentlichkeit sind sie nahezu unbekannt. Wer kennt die vielen im Selbstverlag erschienenen Texte der oppositionellen Gruppierungen? Wer kennt ihre Inhalte und Anliegen? Wem sagen die Namen ihrer Autoren und die dahinter stehenden Bürgerrechtsinitiativen noch etwas? Zwar ist viel über Widerstand und Opposition gegen die SED-Diktatur in den letzten Jahren geforscht und geschrieben worden.[1]

Nur allzu oft war dabei jedoch die Interpretation der Oppositionsgeschichte übergebührlich interessengeleitet. Während die einen in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versuchten, der Umbruch in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands seien in erster Linie das Verdienst von Staatsmännern wie Helmut Kohl, George Bush senior und Michail Gorbatschow, unterstellten andere den oppositionellen Gruppierungen, sie wären nur an systemimmanenten Reformen und schon gar nicht an der deutschen Einheit interessiert gewesen.[2] Dieser Umgang mit Geschichte verdeutlicht, wie wichtig es ist, die sich vielfach in Privathänden befindlichen und nur schwer erreichbaren Selbstzeugnisse von Widerstand und Opposition in der DDR der Wissenschaft und Forschung, den Bildungseinrichtungen und der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Während für die im Selbstverlag erschienenen verbotenen Texte aus Zentral- und Osteuropa erste Forschungsarbeiten vorliegen [3], wurde sich mit dem politischen Samisdat in der DDR bislang wissenschaftlich nur vereinzelt beschäftigt. [4]

Dieses Desiderat versucht Ilko-Sascha Kowalczuk, einer der profiliertesten Historiker auf dem Gebiet der DDR-Oppositionsforschung, zu beheben. Mit seiner in der Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft erschienenen Dokumentation über den politischen Samisdat in der DDR trägt er die wichtigsten oppositionellen Texte aus den Jahren 1985 bis 1989 zusammen und erschließt sie einer breiten Öffentlichkeit. In einem einleitenden Essay führt er den Leser an die Thematik heran und sorgt für begriffliche Klarheit.

Kurz zeichnet er die Geschichte des Samisdat ausgehend von der Sowjetunion der fünfziger Jahre nach und beschreibt seinen Stellenwert für die Länder des real existierenden Sozialismus, um dann ergänzende Publikationsformen wie den Magnitizdat und den Tamisdat vorzustellen. Dabei hebt er zu recht die Bedeutung der Existenz von Zensur in den kommunistischen Staaten für die Entwicklung einer Gegenkultur und das Entstehen einer vielfarbigen Samisdat-Landschaft hervor, denn die „Angst vor unkontrolliert Gedrucktem, Geschriebenem und Vervielfältigtem war in der DDR bei den Funktionären groß. Das Wort galt als Waffe“ (S. 21). Beharrte doch aus diesem Grunde die SED auf ihrem Informationsmonopol und spielte sich als oberste Hüterin und Kontrolleurin von Medien und veröffentlichter Meinung auf, womit sie – Ironie der Geschichte – erst die Voraussetzungen für die Entstehung von Untergrundpublikationen schuf.

Nach einer kurzen Beschreibung des künstlerischen Samisdat spürt Kowalczuk ausführlich dem zentralen Anliegen seiner Arbeit, der Bedeutung und Entwicklung des politischen Samisdat in der DDR, d.h. der „Vervielfältigung und Verbreitung verbotener Texte im Selbstverlag“ (S. 106) und den damit zusammenhängenden Schwierigkeiten und erfolgten staatlichen Repressionen nach. Im Anschluss an seinen Aufsatz lässt er ehemalige Protagonisten aus Widerstand und Opposition gegen das SED-Regime zu Worte kommen und über ihre Erfahrungen mit dem Samisdat berichten.

Das Herzstück dieser Arbeit stellt ihr umfangreicher Dokumentenanhang dar. Auf über vierhundert Seiten hat Kowalczuk ein umfangreiches Kompendium ehemals verbotener Texte der DDR-Opposition angelegt. Zur besseren Übersicht hat er sie in sechs thematisch gegliederte Blöcke unterteilt. So geht es in einem ersten Abschnitt um Selbstverständigung und Oppositionsverständnis (S. 151-184). Ihm folgen politische Samisdate zur Diktatur in der DDR (S. 189-257) und zu oppositionellen Aktivitäten (S. 263-331). Daran schließen sich Beiträge zur gesellschaftlichen Situation in der DDR (S. 339-392), zu den Stichworten „Mauer“, „Ausreise“ und „Deutsche Frage“ (S. 405-455) und zum gemeinsamen Haus Europa (S. 475-559) an.

Die einzelnen Abschnitte enthalten nicht nur Beiträge oppositioneller Persönlichkeiten wie Gerd und Ulrike Poppe, Reinhard Weißhuhn, Ludwig Mehlhorn, Peter Grimm, Bärbel Bohley oder Wolfgang Templin, die zur 1985 außerhalb des kirchlichen Raums gegründeten Initiative für Frieden und Menschenrechte bzw. ihrem Umfeld gehörten, sondern auch zahlreiche Interviews wie jenes von Stephan Bickhardt mit Rainer Eppelmann über Abrüstung und Kriegsdienstverweigerung in der DDR (S. 271-279). Hinzu kommen Offene Briefe wie der von Peter Grimm, Ralf Hirsch und Peter Rölle am 15. August 1987 unter der Überschrift „Die Umgestaltung braucht mündige Bürger!“ verfasste (S. 214f.), in dem es um die Beschränkung der Möglichkeiten willkürlicher Machtausübung durch die Gewährung bürgerlicher Freiheiten wie den freien Zugang zu Informationen, von Reisefreiheit sowie die Einführung von Volksabstimmungen und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit geht.

Hochinteressant lesen sich die Beiträge von Konrad Weiß, mit denen er den Gründungsmythos der DDR, den zur Staatsdoktrin erhobenen Antifaschismus, entzaubert. Unter Verweis auf den zunehmenden Rechtsextremismus in der DDR folgert er zutreffend, dass „faschistische Traditionslinien, personelle wie strukturelle, [...] auch in sozialistischen Staaten“ existieren, da „unsere Alltagskultur [...] nicht völlig entnazifiziert“ wurde (S. 400). Als Replik auf die offiziellen Erklärungen der SED, die rechtsextremistisches Gedankengut und Übergriffe ausschließlich auf das Einwirken der Bundesrepublik zurückführte und somit als ein originär westdeutsches Problem betrachtete, stellte Weiß klar: „Diese jungen Faschisten sind das Produkt unserer Gesellschaft; es sind unsere Kinder“ (S. 402). Zugleich widerlegen die Texte dieser Dokumentation die These, dass es der Opposition gegen das SED-Regime nur um systemimmanente und nicht um systemüberwindende Reformen gegangen sei. [5]

Wie anders als systemsprengend konnte man etwa die Forderung Konrad Weiß` interpretieren, eine „öffentliche Kontrolle der machtstützenden Organe – der Polizei, der Justiz, des Strafvollzugs, des Staatssicherheitsdienstes – würde gerade jungen Bürgern mehr Rechtssicherheit und Vertrauen geben und Aggressionen abbauen“ (S. 403). Mit diesen Kernforderungen der DDR-Opposition stellte er das Herrschaftsprinzip der SED-Diktatur, ihren Anspruch auf vollständige Kontrolle von Staat und Gesellschaft, massiv infrage. Auch die immer wieder kolportierte Behauptung, die deutsche Frage hätte in den oppositionellen Kreisen und Zirkeln keine Rolle gespielt, wird u.a. durch einen Brief von Ludwig Mehlhorn aus dem Jahre 1986 an die evangelischen Bischöfe Martin Kruse und Gottfried Forck widerlegt. In diesem später mit zum Impulsgeber für die Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung gewordenen Schreiben wird zwar die Wiedervereinigung Deutschlands zum damaligen Zeitpunkt für nicht realisierbar gehalten. Sein Autor glaubte aber dennoch, „an der Perspektive der Einheit festhalten“ zu können und hoffte, dass sie „über die Stufen Entmilitarisierung und vertraglich gesicherte Neutralität [...] eines Tages auf friedlichem Wege erreicht werden“ könne (S. 406).

Kowaclzuk, der bereits an der von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen initiierten Ausstellung über den Samisdat in Zentral- und Osteuropa mitgewirkt hatte, gelingt mit dieser Dokumentation ein in dieser Form einzigartiger Überblick in Selbstzeugnissen über das politische Selbstverständnis von Opposition und Widerstand in der DDR. Ein umfassendes Autorenverzeichnis informiert zudem über die Vita führender Persönlichkeiten des Widerstandes gegen die SED-Diktatur im Besonderen und den real existierenden Sozialismus im Allgemeinen. Zwei in das Buch integrierte Fotoblöcke visualisieren die Thematik. Sie porträtieren zum einen zentrale Persönlichkeiten aus Opposition und Widerstand und vermitteln dadurch einen Eindruck von der Atmosphäre, die in den oppositionellen Kreisen bei der Anfertigung von verbotenen Publikationen vorherrschte. Zum Anderen gewähren sie einen Einblick in die grafische Gestaltung und inhaltliche Aufbereitung des politischen Samisdat.

Der Autor erschließt mit dieser Arbeit nicht nur den politischen Samisdat einer breiten Öffentlichkeit, sondern liefert zugleich auch einen Überblick über seine Entstehung, politisch-gesellschaftliche Bedeutung und Wirkungsgeschichte. Dadurch gewährt er Einblick in die „Diskussionen um Demokratie, Menschenrechte, Gesellschaft und Vergangenheitsbewältigung“ innerhalb und zwischen den verschiedenen oppositionellen Gruppierungen, wie Karl Wilhelm Fricke in seiner Vorbemerkung zutreffend feststellt (S. 12).

Auch wenn einige Aspekte, wie beispielsweise die exemplarische Übersichtstabelle über den politischen Samisdat, aus anderen Arbeiten übernommen wurden, [6] gelingt es Kowalczuk erstmalig die Opposition gegen das SED-Regime in ihren Selbstzeugnissen zu den zentralen Debatten in der DDR ab Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu Wort kommen zu lassen. Diese Dokumentation gehört dadurch schon jetzt zu den Standardwerken auf dem Gebiet der Samisdatforschung für die DDR und wird somit zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk für alle, die sich mit Opposition und Widerstand in Ostdeutschland auseinandersetzen.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Neubert, Erhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, Bonn 1997. Kowalczuk, Ilko-Sascha u.a., Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995. Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, 9 Bände in 18 Teilbänden, Bd. VII/1, Baden-Baden 1995, S. 896-986.
[2] Vgl. Jander, Martin (unter Mitarbeit von Thomas Voß), Die besondere Rolle des politischen Selbstverständnisses bei der Herausbildung einer politischen Opposition in der DDR außerhalb der SED und ihrer Massenorganisationen seit den siebziger Jahren, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VII/1, [FN1], S. 896-986.
[3] Vgl. Eichwede, Wolfgang (Hg.), SAMIZDAT. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000.
[4] Vgl. Kloth, Hans Michael, Unabhängige Archive und Materialien der Bürgerbewegungen. Der Stand von Erfassung, Hebung, Sichtung und Erschließung von Oppositionsdokumenten, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, 8 Bände in 14 Teilbänden, Band VI, Baden-Baden 1999, S. 919-996; Krone, Tina; Sello, Tom, Oppositionsarchive sind mehr als nur Dokumentenspender, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 2 (1996), S. 83-87.
[5] Vgl. Jander (vgl. Anm. 2).
[6] Vgl. Neubert (vgl. Anm.1), S. 756-766.

Zitation

Udo Baron: Rezension zu: Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hrsg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989. Berlin 2002 , in: H-Soz-Kult, 24.07.2003, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1016>.