"Sie haben so lange das Sagen, wie wir es dulden" Briefe an das Neue Forum September 1989 bis März 1990

Tina Krone (Hg.)
Eine Dokumentation,
erschienen, Berlin 1999,
411 Seiten, Broschur,

Preis: 10,00 Euro

Nicht mehr lieferbar!

Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft

Band 4
ISBN 978-3-9804920-3-4

 

Vor zehn Jahren, am 10.9.1989, wurde in der DDR ein Aufruf zu dem berühmten Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Der Gründungsaufruf des Neuen Forums wurde zur Initialzündung für Hunderttausende von DDR-Bürgern, ihr Schweigen zu brechen.
Die Erstunterzeichner des Aufrufes, wie Bärbel Bohley, Jens Reich, Sebastian Pflugbeil und Reinhard Schult bekamen damals Briefe aus dem ganzen Land.
Aus rund 1000 Briefen an das Neue Forum, die sich in der Robert-Havemann-Gesellschaft befinden, wurde eine repräsentative Auswahl getroffen. Die 289 für diesen Band der Schriftenreihe der Gesellschaft  ausgewählten Briefe lassen noch einmal die Monate lebendig werden, in denen die DDR-Bürger aufstanden.
Menschen verschiedenster Berufe und Altersgruppen haben geschrieben: Handwerker, Studenten, Schüler, Arbeiter, Rentner, Kindergärtnerinnen, Wissenschaftler. Manchmal waren es ganze Arbeitskollektive, Freundeskreise oder Familien, die sich an das Neue Forum wandten. Auffallend viele Briefe kamen von NVA-Angehörigen: Soldaten, Unteroffiziere, Bausoldaten, Offiziersschüler.
Von der Zeit des Aufbruchs im September 1989 bis kurz nach der Volkskammerwahl im März 1990 geschrieben, geben die Briefe unerwartet genaue Einblicke in die Befindlichkeiten der DDR-Bürger, als sie selber Geschichte machten. Die Euphorie dieser Zeit, aber auch die Unsicherheit werden eindrucksvoll sichtbar. Es ist eine Chronologie besonderer Art entstanden: ein Tagebuch der Umwälzung, geschrieben von einer Vielzahl unbekannt gebliebener Menschen.


Einleitung des Buches

Zur Auswahl der Briefe

Vor zehn Jahren wurde in der DDR ein Aufruf zu dem berühmten Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ein kurzer Text, der die Bildung einer "politischen Plattform" mit dem Namen "Neues Forum"1 bekanntgab, wurde zur Initialzündung für Hunderttausende von DDR-Bürgern, ihr Schweigen zu brechen. Sie fanden den Mut, sich endlich einzumischen, indem sie mit ihrer Unterschrift unter den Gründungsaufruf, auf Demonstrationen und in Protestschreiben die Zulassung dieser Vereinigung forderten.

Die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufes bekamen Briefe aus dem ganzen Land. Immer mehr Menschen wollten durch ihre Unterschrift unter den Aufruf Einverständnis mit dem Anliegen signalisieren oder Mitglied im Neuen Forum werden. Sie begründeten oft ausführlich, weshalb sie schreiben, erklärten, welche Hoffnungen sie an das Neue Forum knüpfen und machten ganz konkrete Vorschläge, was in der DDR verändert werden sollte.

Die für diesen Band ausgewählten Briefe wurden von der Zeit des Aufbruchs im September 1989 bis kurz nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 geschrieben. Sie vermitteln in einzigartigerweise Einblicke in die Befindlichkeiten der DDR-Bewohner in diesen Monaten. Die sich überschlagenden Ereignisse spiegeln sich genauso, wie die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste. Die Euphorie dieser Zeit, aber auch die Unsicherheit werden eindrucksvoll nachvollziehbar.

Aus etwa 900 im Robert-Havemann-Archiv und ca. 100 in anderen Archiven oder Privatsammlungen vorhandenen Briefen wurde eine repräsentative Auswahl getroffen - repräsentativ hinsichtlich der Anliegen, der angesprochenen Themen, der Motive für das Schreiben der Briefe, der sozialen und der geographischen Herkunft der Absender.

Menschen mit ganz verschiedenen Berufen, aus allen Altersgruppen haben geschrieben: Handwerker, Studenten, Schüler, Arbeiter, Rentner, Kindergärtnerinnen, Bauern, Wissenschaftler. Manchmal waren es ganze Arbeitskollektive, Freundeskreise oder Familien, die sich an das Neue Forum wandten. Auffallend viele Briefe kamen von NVA-Angehörigen: Soldaten, Unteroffiziere, Bausoldaten, aber auch Offiziersschüler - entsprechend viele sind in die vorliegende Auswahl aufgenommen worden.

Die Briefe wurden in der Reihenfolge abgedruckt, in der sie entstanden sind. Der Fortgang der Ereignisse mit seinen Sprüngen und Verzögerungen teilt sich so unmittelbar mit und die Reaktionen auf das überwältigende Geschehen - von spontaner Zustimmung bis brüsker Abwehr - vermitteln Sprache und Geist der Akteure selbst. So ist eine Chronologie besonderer Art entstanden: ein Tagebuch der Umwälzung, geschrieben von einer Vielzahl unbekannt gebliebener Menschen. Der Wert der Briefe als Zeitdokumente ergibt sich aus ihrer großen Anzahl und Vielfalt. Untersuchungen unter sozialen, politischen oder historischen Aspekten bieten sich an.

Adressaten dieser Briefe waren zunächst die 30 Gründer des Neuen Forums. Mit dem Entstehen der ersten organisatorischen Strukturen erweiterte sich der Empfängerkreis der Briefflut um die dann gewählten Sprecher. Als nach und nach Büros eröffnet werden konnten, wandten sich die Menschen mit ihren Anliegen auch dorthin. Trotzdem blieben die bekannten Erstunterzeichner weiter für viele Ansprechpartner.

Im Herbst 89 sind auch der Demokratische Aufbruch, Demokratie Jetzt, die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP), der Unabhängige Frauenverband, die Vereinigte Linke, die Grüne Partei und die Grüne Liga entstanden. Daß es sich in diesem Buch ausschließlich um Briefe an das Neue Forum handelt, ist der Tatsache geschuldet, daß das Neue Forum im Herbst 89 die größte Breitenwirkung hatte und dadurch zum Empfänger dieser Briefe werden konnte. Damit wird nichts über die Rolle ausgesagt, welche die neuen Vereinigungen und Parteien im weiteren Fortgang der Ereignisse spielten.

Es geht hier auch nicht um eine Darstellung der Zeit von September 1989 bis März 1990 insgesamt. Die Wirkung der politischen Vorgänge auf den einzelnen und seine Reaktionen darauf sollen sichtbar werden.

Es wurde ebenfalls darauf verzichtet, die Antwortbriefe aufzuspüren. Obwohl zweifellos interessant, hätten sie den Aspekt verschoben. Einige der Briefwechsel befinden sich vollständig im Robert-Havemann-Archiv und sind hier der Öffentlichkeit zugänglich.

Unberücksichtigt geblieben sind die zahllosen Solidaritätsschreiben von Organisationen, Parteien und Einzelpersonen aus dem Ausland. Ausgewählte Briefe von Privatpersonen aus der damaligen Bundesrepublik dagegen fanden Eingang in dieses Buch. Es wird eine große Sympathie deutlich, die oft mit konkreten Hilfsangeboten einhergeht, aber auch Besserwisserei und Ignoranz begegnen uns. Die heftige Auseinandersetzung um die deutsche Wiedervereinigung, wie sie in den Briefen aus der DDR geführt wird, erfährt durch die Briefe aus dem Westen eine wesentliche Ergänzung.

Die 289 in diesem Buch versammelten Briefe lassen noch einmal die Monate lebendig werden, in denen die DDR-Bürger aufstanden. Und sie erinnern an oft längst vergessene Hindernisse, die sie zu überwinden hatten. Wird doch in Bewertungen dieser Zeit oft vergessen, unter welchen Bedingungen sie zu handeln begannen: daß die Mitgliedschaft in illegalen Vereinigungen unter Strafe stand, oder daß die Teilnehmer an den berühmt gewordenen Montagsdemonstrationen in Leipzig nicht wissen konnten, wie hoch die Skrupel der Herrschenden, den Schießbefehl zu geben, wirklich waren. Auch, wie tief die Zweifel vieler Bereitschaftspolizisten und Soldaten schon gingen, war ihnen noch unbekannt.

Eines der wesentlichsten Hindernisse war, daß die Öffentlichkeit in Wirklichkeit nicht öffentlich gewesen ist. Wenn die Medien zu hundert Prozent von der Staatspartei kontrolliert werden und Kommunikationstechnik dünn gestreut ist, dann ist es nicht nur schwer, an Informationen zu kommen, sondern auch, solche zu verbreiten. Nur ein Außenstehender, für den dies offenbar nicht nachvollziehbar war, konnte nach einer Veranstaltung des Neuen Forums - neun Tage nach seiner Gründung - in der Gethsemanekirche in Berlin ein Urteil abgeben, wie es in einem Fernschreiben an den Chef des Bundeskanzleramtes nachzulesen ist: "Die Veranstaltung zeigte, daß die Arbeit neuer und alter Gruppen in der DDR weit entfernt ist von effektiver Oppositionsarbeit .

Selbst einfachste Organisationsformen waren nicht bedacht worden. So war z. B. der Gründungsaufruf vielen Besuchern nicht bekannt, war aber auch nicht in genügender Anzahl zur Verteilung vorhanden."2 Warum der Gründungsaufruf bis in den Dezember hinein noch nicht alle Interessenten erreicht hatte und die Herstellung und Verbreitung schwierig waren, wird aus den weiteren Ausführungen und vor allem aus den Briefen selbst hervorgehen.

Dieses mangelnde Einfühlungsvermögen schlägt sich auch in der Bewertung der DDR-Opposition nieder. Die in den 70er und 80er Jahren entstandenen Gruppen und ihre Nachfolger, die Bürgerbewegungen, sind inzwischen zum Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Den höchst unterschiedlichen Versuchen, in der DDR Veränderungen oder Reformen durchzusetzen, den Bestrebungen, sich durch den Aufbau einer Gegenkultur, dem umfassenden Konformitätsdruck zu widersetzen, wird von einigen Wissenschaftlern am Ende der Stempel "systemimmanent" aufgedrückt. In der Konsequenz bedeutet das nichts anderes, als, wer das System nicht stürzen wollte, hätte eigentlich gar nicht in Opposition zu ihm gestanden.

Die Vielfalt der oppositionellen Bestrebungen wird auf den Begriff der "Systemimmanenz" reduziert, weil nicht ausdrücklich die Abschaffung des Sozialismus das Ziel war, sondern seine Demokratisierung. Dabei wird ignoriert, daß es die Suche nach einer Gesellschaftsform war, in der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklicht werden können, welche die Oppositionellen trieb. Ob das nun eine sozialistische Gesellschaft sein könne, oder ob etwas anderes - eine Alternative zu Sozialismus und Kapitalismus - gesucht werden müsse, war immer umstritten. Sie hatten sich gegen den Kapitalismus entschieden, weil sie (stark vereinfacht dargestellt) in einer Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln mehr Potenzen für eine wirkliche Demokratie sahen als in einer mit. Im nachhinein kann man sagen, die oppositionellen Gruppierungen hätten sich nicht zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwischen Sozialismus und Demokratie entscheiden müssen, und sie hätten auch die Suche nach einer Alternative zu den beiden Systemen aufgeben sollen. Damit werden aber heutige Ansichten zugrunde gelegt, ohne sich zu vergegenwärtigen, aus welchen Ansichten damals oppositionelles Handeln entstand. Denn daß mit der Beseitigung der Macht der führenden Partei gleich das ganze System zusammenbrechen würde, hatte niemand angenommen. Diese Fehleinschätzung hatte ihre eigenen Gründe, sie ändert aber nichts daran, daß die Arbeit der Opposition Widerstand gegen die SED-Diktatur war, und daß diese Diktatur mit dem Sozialismus, den die Oppositionellen verfochten, nichts gemein hatte. Es ist also falsch, beide nachträglich in ein Boot zu setzen. Um das damalige Denken und Handeln zu verstehen, ist eine genaue Rekonstruktion der DDR-Wirklichkeit notwendig. Die Briefe können ihren Teil dazu beitragen.

 

1 Der Gründungsaufruf des Neuen Forums "Aufbruch 89 - Neues Forum", siehe S. 385f.

2 Fernschreiben des Staatssekretärs Bertele an den Chef des Bundeskanzleramtes, Berlin (Ost), 20. 9. 1989, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes, bearb. v. Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, S. 409f.

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

Zur Auswahl der Briefe               7
Einführung     11
Die Zulassung des Neuen Forums     23
Editorische Notiz     29

BRIEFE AN DAS NEUE FORUM
September und Oktober 1989
   
Chronologie ausgewählter Daten     33
Briefe (Nr. 1-110)     43
November 1989    
Chronologie ausgewählter Daten     137
Briefe (Nr. 111-180)     145
Dezember 1989    
Chronologie ausgewählter Daten     225
Briefe (Nr. 181-210)     231
Januar 1990    
Chronologie ausgewählter Daten     279
Briefe (Nr. 211-253)     283
Februar und März 1990    
Chronologie ausgewählter Daten     333
Briefe (Nr. 254-269)     339
Briefe aus dem Westen: Oktober 1989 bis März 1990    
Briefe (Nr. 270-289)     355

DOKUMENTE    

Gründungsaufruf des Neuen Forums vom 10. 9. 1989     385
Brief der Gründer des Neuen Forums vom 1. 10. 1989     387
Offener Problemkatalog vom 1. 10. 1989     389
SED-Information Nr. 261, 1989/7     393
Novemberaufruf vom 14. 11. 1989     398
Fernschreiben aus dem Bezirksamt des AfNS Gera vom 9. 12. 1989      400

ANHANG    

Quellennachweis    
1. Briefe und Dokumente     405
2. Chronologie     405
3. Fotonachweis     407
Personenregister     409