Bärbel Bohley wurde am 24. Mai 1945 in Berlin als Tochter der Eheleute Anneliese und Fritz Brosius geboren. Die zerstörte Stadt mit den vom Krieg traumatisierten Menschen prägten ihre frühe Kindheit. Der Vater, Elektroingenieur bei der AEG, wurde zur zentralen Figur ihrer Kindertage. Der Forderung seines Arbeitgebers nach einem Umzug in den Westteil der Stadt widersetzte er sich und nahm eine Stellung in einem Ost-Berliner VEB an. Eine spätere Einstellung als Lehrer endete nach einem Jahr, weil er sich weigerte, in die SED einzutreten. Die Sonntage waren Museums- und Ausstellungsbesuchen mit seiner Tochter vorbehalten. In diesem Milieu wuchs Bohley auf und empfand sehr früh den sozialen Unterschied, der ihre Familie von manch anderer in ihrem Umfeld trennte.[1]
Nach dem Abitur begann sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau, arbeitete nach deren Abschluss in verschiedenen Tätigkeiten und ließ sich zur Lehrausbilderin für Industriekaufleute qualifizieren.
Bis dahin war sie den Weg gegangen, der durch das Bildungssystem der DDR vorbestimmt war: auf die Schule folgte eine Ausbildung, die direkt in die berufliche Tätigkeit führte. Bärbel Bohley aber suchte nach Plätzen, die ihr eine individuellere Lebensgestaltung ermöglichten. Die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wurde ihr schon früh sehr wichtig. So machte sie ihre künstlerische Begabung zum Beruf und studierte von 1969–1974 Malerei an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee.
1970 heiratete sie den Maler Dietrich Bohley aus Halle/Saale. Im gleichen Jahr wurde der gemeinsame Sohn Anselm geboren, der nach der Scheidung von Dietrich Bohley bei ihr lebte.
Nach ihrem Abschluss arbeitete sie als freischaffende Malerin in Ost-Berlin, was ihr den gewünschten Handlungsspielraum bot. Sie lebte im Stadtteil Prenzlauer Berg, wo sich in den 1980er Jahren eine lebendige Künstlerszene etablierte, die sich alternativen Kunstprojekten jenseits des staatlichen Kulturbetriebs widmete. In den vielen maroden Häusern fanden Künstlerinnen und Künstler Wohn- und Arbeitsräume, die sie auch für Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen und Performances nutzten.
Bohleys zahlreiche Druckgrafiken, Zeichnungen und mit kräftigen Strichen und satten Farben gemalten Bilder zeigen Menschen, Menschen in Gruppen, Milieustudien. Aktdarstellungen überwiegen, manchmal ergänzt durch Schriftzüge oder Überklebungen mit bedrucktem oder unbedrucktem Papier. Das Malen mit Ölfarben gab sie sehr schnell auf. Es entsprach nicht dem, was sie mit ihrer Kunst ausdrücken wollte. Bleistift, Kaltnadelradierung, Tusche, Gouache- und Kreidefarben lagen ihr näher. In ihren Werken sticht immer wieder die Konzentration auf den Einzelnen hervor, das Individuum als Teil der Gruppe oder von dieser isoliert. Was völlig fehlt, sind Landschaften und Architektur. Auch Darstellungen von Tieren finden sich nur wenige. Der kommunistischen Ideologie, die den einzelnen Menschen im Kollektiv aufgehen lässt, stellt sie das Individuum gegenüber, das auf sich selbst zurückgeworfen ist.[2]
Auch wenn sie ihr künstlerisches Schaffen als besonderen Freiraum für sich definierte, blieb ihre Kunst doch mit ihrem politischen Engagement verwoben. „Ich bin keine politische Künstlerin. Ich bin ein politischer Mensch, der Kunst macht.“[3] So beschrieb sie das für sich. Dieses Selbstverständnis fand seinen Ausdruck u.a. im September 1987, als sie über ihre Freundin Petra Kelly dem Generalsekretär der SED, Erich Honecker, bei dessen Besuch in der Bundesrepublik ihre Grafik mit dem Titel Niemandsland zukommen ließ, zusammen mit einem längeren Brief, in dem sie politische Veränderungen in der DDR einforderte.[4]
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In der Bunderepublik waren Teile ihres Werkes 1982 und 1986 in Expositionen mit Künstlern aus der DDR in Göttingen und Oberhausen zu sehen, 1989 gab es zunächst in Frankfurt / Main, später in anderen Städten, eine Einzelausstellung mit ihren Bildern und Grafiken. Eine letzte Ausstellung fand 1990 in der Galerie am Schlossberg in Gadebusch statt. 1976 und 1980 erhielt sie den Förderpreis des Staatlichen Kunsthandels der DDR. Bohley war Mitglied im Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) und dort von 1979 bis 1983 Mitglied in der Sektionsleitung „Malerei“.
Im November1989 wurde sie gebeten, eine Grafik für eine Grafikmappe beizusteuern. Die politischen Geschehnisse ließen ihr keine Zeit und so schrieb sie mit weißem Stift auf schwarzes Papier „Manchmal ist Kunst abwesend!“ Das war ihr „Abschied von der Kunst“.[5]
„In der DDR das System kritisch infrage zu stellen, setzt Autonomie voraus, den Mut und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung.“[6] Freiheit erkämpfen, um selbst bestimmen zu können, wurde ihr Bekenntnis. Das Land gehöre nicht den Funktionären aus Partei und Staat. Das fing mit den alltäglichen und naheliegenden Dingen an, die sie verändern wollte. In den 1970er Jahren bestimmten bröckelnde Fassaden und verwahrloste Hinterhöfe das Bild des Berliner Stadtbezirkes Prenzlauer Berg. Zusammen mit ihrer Freundin Irena Kukutz forderte sie in Eingaben an den Rat des Stadtbezirkes Reparaturen an dem Haus, in dem sie wohnte, und die Begrünung der Umgebung. Ihre Kinder sollten nicht im Dreck und Schutt spielen müssen. Sie machten Fotos, wandten sich an die „Berliner Zeitung“ und boten ihre Mitarbeit an. Das Erleben, dass all dies nichts nutzte, ließ sie jedoch nicht verstummen, sondern machte sie „radikaler und wütender“.[7]
Das durch den NATO-Doppelbeschluss forcierte Wettrüsten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs und die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft in der DDR waren Anfang der 1980er Jahre Anstoß für Bärbel Bohleys aktives politisches Engagement. In der alternativen Kunstszene in Ost-Berlin fand sie viele Menschen, die ähnlich dachten und handelten. Durch die Verwandtschaft ihres Ehemannes, der selbst wegen Wehrdienstverweigerung nicht zum Medizinstudium zugelassen wurde, bekam sie Anschluss an das Oppositionsmilieu in Halle/Saale.[8] Die Angst vor einem Atomkrieg zwischen NATO und Warschauer Pakt rückte die Friedensfrage in den Mittelpunkt. Die westliche Friedensbewegung und die sich in der DDR neu und zumeist unter dem Dach der evangelischen Kirche formierenden Friedensgruppen verstanden sich zunehmend als blockübergreifend. Die gegenseitig aufgenommenen Verbindungen wurden vertieft. Bärbel Bohley war Mitunterzeichnerin des von ost- und westdeutschen Friedensaktivist*innen gemeinsam formulierten Appells „Anstiftung für den Frieden“ im Jahr 1980. Zu gleicher Zeit kam sie auch in Kontakt mit Robert Havemann und seinem Umfeld. „Was mich an Robert Havemann begeistert hat, war nicht so sehr sein politisches Denken […] Er hat mich beeindruckt durch seine Fröhlichkeit. Diese Art von Fröhlichkeit war einfach ansteckend […] Das mögen die Gene sein, aber es ist auch eine Freiheit im Kopf, und das hat er irgendwie vermittelt, dass es um diese Freiheit im Kopf geht“, äußerte sie sich später über ihre Begegnungen mit ihm.[9] Wieder war es die zur Selbstbestimmung befähigende Freiheit, die sie faszinierte.
1982 trat in der DDR ein neues Wehrdienstgesetz in Kraft, das es ermöglichte, auch Frauen zum Dienst an der Waffe einberufen zu können. Im Kontext des Wettrüstens Anfang der 1980er Jahre bedeutete dies einen weiteren Schritt zur Kriegsertüchtigung der Gesellschaft. Den Armeedienst betrachteten die in der Friedensarbeit aktiven Frauen nicht als Ausdruck der Gleichberechtigung, sondern als ihrem Frau-Sein widernatürlich. In Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder lehnten sie dies ab. Sie wehrten sich mit spontanen Erklärungen und Eingaben, in denen sie den zuständigen Instanzen des Regierungsapparates ihre Verweigerung darlegten. Sie forderten andere Frauen auf, es ihnen gleich zu tun. Als Reaktionen von staatlicher Seite darauf weitgehend ausblieben, verfassten sie im Oktober 1982 eine gemeinsame Eingabe, adressiert an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, in der sie eine öffentliche Diskussion forderten und zivilen Ungehorsam ankündigten, sollte es zu einer Einberufung von Frauen kommen. „Wir Frauen wollen den Kreis der Gewalt durchbrechen und allen Formen der Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung unsere Teilnahme entziehen. […] Wir Frauen erklären uns nicht dazu bereit, in die allgemeine Wehrpflicht einbezogen zu werden und fordern eine gesetzlich verankerte Möglichkeit der Verweigerung“, heißt es darin u.a.[10] Etwa 150 Frauen unterzeichneten landesweit diese Eingabe, unter den politischen Bedingungen in der DDR eine enorm hohe Zahl.
Im Zuge dieser gemeinsamen Aktionen fanden die Frauen um Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Katja Havemann, Irena Kukutz u.a. zu einer Gruppe zusammen und gründeten die „Frauen für den Frieden“ in Ost-Berlin. Dem Beispiel folgten Frauen in anderen Städten. Die „Frauen für den Frieden“ wurden zu einem der „wichtigsten Kristallisationspunkte der unabhängigen Friedensbewegung“.[11] Sie hielten enge Verbindungen zu Frauen-Friedensgruppen und prominenten Aktivistinnen in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern. Bärbel Bohley war mit Petra Kelly (Mitgründerin der Grünen) befreundet und hielt zu ihr und ihrem Umfeld besonders enge Kontakte. Der blocküberwindende Ansatz der Friedensarbeit war ihr wichtig. Sie wollte, dass die Frauen aus der DDR in ihrer spezifischen Situation auch im Westen gleichberechtigt wahrgenommen werden. Bärbel Bohleys Wohnung wurde zu einem zentralen Versammlungsort und Treffpunkt für die Frauen, aber auch für westliche Journalist*innen und Vertreter*innen der Friedensbewegung. Da sie ihren Widerspruch öffentlich machte, reagierte der SED-Staat mit Verfolgung und Repressionen. 1983 wurde sie aus der Sektionsleitung „Malerei“ des VBK ausgeschlossen, erhielt keine Aufträge mehr, wurde mit einem Reiseverbot ins westliche und östliche Ausland belegt und durfte ihre Bilder nicht mehr auf Ausstellungen zeigen. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte schon im Juni unter dem Decknamen „Bohle“ einen sogenannten Operativen Vorgang angelegt, in dem Bärbel Bohley fortan „bearbeitet“ wurde. Ende 1983 folgte die Verhaftung. Zusammen mit Ulrike Poppe kam wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“ in Untersuchungshaft. Anlass waren Kontakte nach England, zur dortigen Frauen-Friedensbewegung. Das Strafgesetzbuch der DDR sah für dieses „Delikt“ eine Freiheitsstrafe von zwei bis zwölf Jahren vor. Massive internationale Proteste gegen die Verhaftung der beiden Frauen bewirkten ihre Entlassung im Januar 1984.
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Ab Mitte der 1980er Jahre fächerte sich die Opposition thematisch stärker auf. Auch wenn sowohl die Umwelt- als auch die Menschenrechtsproblematik von den Gruppen als Bestandteil der Friedensfrage betrachtet wurden, traten beide Themen jetzt differenzierter in den Vordergrund. 1985 kamen Vertreter*innen der Signatarstaaten der Schlussakte von Helsinki, zu denen auch die DDR gehörte, anlässlich des zehnten Jahrestages der Unterzeichnung dieses Dokuments erneut in der norwegischen Hauptstadt zusammen. Oppositionelle Gruppen und Initiativen (nicht nur) in der DDR nahmen den Impuls zur Einhaltung der Menschen- und Freiheitsrechte, der von diesem Ereignis ausging, auf. Sie konstatierten die Nichteinhaltung dieser Grundrechte in Eingaben und Erklärungen und forderten sie ein. Menschenrechtsgruppen entstanden, in Berlin begleitet von stark ideologisierten Diskussionen, die zu einer politischen Differenzierung führte zwischen Anhänger*innen eines eher marxistisch geprägten Menschenrechtsverständnisses und jenen, die die Allgemeingültigkeit von Menschen- und Freiheitsrechten betonten. Für letztere bildeten der Kampf für Frieden und die Menschenrechtsarbeit eine Einheit.[12] Aus ihnen formierte sich im Frühjahr 1986 die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM), die sich explizit als von der Kirche unabhängige Gruppe verstand. Bärbel Bohley war eine der Mitgründer*innen. Sie beteiligte sich an den vielfältigen Aktivitäten der IFM, schrieb für deren Samizdat-Zeitschrift Grenzfall und unterstützte die Versuche der landesweiten Vernetzung der Oppositionsgruppen.
Im November 1987 überfiel das MfS in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Berliner Umweltbibliothek. Mit dieser sogenannten „Aktion Falle“ wollte der Staatssicherheitsdienst die Macher des Grenzfall beim Drucken der Untergrundzeitschrift auffliegen lassen. Auch wenn das nicht gelang (zum Zeitpunkt des Überfalls wurden gerade die im Rahmen der kirchlichen Sonderdruckgenehmigung legal erscheinenden Umweltblätter gedruckt), kam es doch zu zahlreichen Verhaftungen. Dies hatte aber nicht den gewünschten einschüchternden Effekt, sondern erzeugte eine Welle des Protests und der Solidarisierung. Bärbel Bohleys Wohnung wurde zur Koordinationsstelle für die Organisation der Proteste und Mahnwachen, die auf die Stasi-Aktion folgten.
Der Grenzfall erschien nach dieser Aktion bis 1989 noch in zwei Ausgaben, eine von ihnen verantwortete Bärbel Bohley.
Nur wenige Wochen später kam es erneut zu zahlreichen Verhaftungen, als Bürgerrechtler*innen und Ausreisewillige mit eigenen Plakaten an der alljährlich zum Gedenken an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht stattfindenden staatlich organisierten Demonstration teilnehmen wollten. In den darauffolgenden Tagen wurde Bohleys Wohnung wiederum zum Mittelpunkt der Ereignisse. Sie stellte ihren Telefonanschluss für die Einrichtung eines Kontakttelefons zur Verfügung, hier wurde das weitere Vorgehen besprochen und Verbindung zu westlichen Medien aufgenommen. Der Zugriff durch das MfS erfolgte prompt. Sie wurde festgenommen. In der Untersuchungshaft wehrte sie sich gegen die Versuche des MfS, sie zur Ausreise in die Bundesrepublik zu zwingen. Erst als ihr, abgeschlossen von der Außenwelt, gesagt wurde, sie sei die Letzte, die noch keinen Ausreiseantrag unterschrieben hätte, gab sie nach, erwirkte aber eine mündliche Zusage, nach sechs Monaten zurückkehren zu dürfen und erhielt einen Reisepass der DDR, ein bis dahin unübliches Vorgehen. Die Bedingungen für diesen sechsmonatigen Aufenthalt waren auf offizieller Ebene zwischen den evangelischen Kirchenleitungen in Ost- und Westdeutschland geregelt worden. Sie verbrachte zusammen mit ihren damaligen Lebensgefährten Werner Fischer und ihrem Sohn Anselm elf Wochen in der Bundesrepublik, den größten Teil der sechs Monate in Großbritannien und noch eine kurze Zeit in Frankreich und Italien. Dabei begleitete sie immer die Ungewissheit, ob die angestrebte Rückkehr in die DDR wirklich möglich sein würde. Um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, hatte sie es deshalb während ihrer Zeit in der Bundesrepublik immer wieder in Gesprächen auf politischer Ebene ins Spiel gebracht.[13] Dieses Zwangsexil empfand Bohley als persönliche Niederlage. „Ich habe eine Reise gemacht, die der Traum eines jeden in diesem Land DDR an der Grenze zwischen Ost und West ist. […] Aber ich war verschlossen, meine Sinne waren vernagelt, zu. Entgegen meinem Willen bin ich auf die andere Seite der Mauer geschoben worden. Ich habe die Macht des totalitären Systems auf absurde Weise erfahren“, schrieb sie im Nachgang.[14] Es gelang ihr, im August 1988 in die DDR zurückzukehren. Dieser Schritt war ein offenes Bekenntnis zu ihrem Leben in diesem Land, zu dessen demokratischer Veränderung sie weiterhin beitragen wollte. Sie mischte sich ein in die Diskussionen über das Selbstverständnis der Opposition, die in dieser Zeit in den unterschiedlichen Gruppen vielerorts und kontrovers geführt wurden. Sie plädierte für einen „neuen Selbstfindungsprozess“ außerhalb der Kirche. Es bedürfe einer klaren Gegenposition aller “progressiven Kräfte“, die aus den Reihen der Opposition heraus selbst gestaltet werden müsse. Weder der Westen noch der Osten (angesichts von Glasnost und Perestrojka setzten besonders Vertreter*innen des „Dritten Weges“ auf die Entwicklungen in der Sowjetunion) würden dabei helfen. „Ohne die so viel geschmähte Opposition geht es nicht, zu der wir uns endlich bekennen sollten. Zu dieser Gesellschaft, in der wir leben möchten, gehört es, dass es diese Gegenposition gibt, ohne die die Politik nicht gedrängt werden wird, Reformen und Veränderungen einzuleiten.“[15] Opposition müsse herausfinden aus ihrer Isolation und nicht nur die Entschlossenen, sondern vor allem die Unentschlossenen mitnehmen.[16] Vor diesem Hintergrund gab Bohley im Frühjahr 1989 zusammen mit Katja Havemann, Jürgen Fuchs, Rolf Henrich u.a. im Samizdat das Buch Urkunde. 40 Jahre heraus. Wenig später erschien es unter dem Titel 40 Jahre DDR …und die Bürger melden sich zu Wort in der Bundesrepublik. Neben Texten und Gesprächen mit prominenten Oppositionellen kommen hier Bürgerinnen und Bürger unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft mit ihrer Kritik am SED-Staat, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen zu Wort. Es liest sich wie ein Abgesang auf das politische System der DDR, gleichzeitig kommt die Aufbruchstimmung zum Ausdruck, die sich im Frühjahr 1989 unter den Oppositionellen immer deutlicher Bahn brach. „Und so habe ich mich, wie viele andere hier für dieses Land entschieden. Die Millionen Unentschlossenen entscheiden sich vielleicht auch für dieses Land, wenn sich die Möglichkeit für sie ergibt, es zu verändern, wie sie es wollen. Diese Möglichkeit muss von ihnen und uns erkämpft werden, sie wird uns nicht einfach gegeben werden. Und dieser Kampf darf nicht so ausgehen wie am 17. Juni 1953“, schrieb Bohley. Das Buch greift ihr Credo auf: Demokratie muss im Herzen der Gesellschaft, bei den Menschen, beginnen. Wenn ihnen eine Stimme gegeben wird, werden sie die Kraft für Veränderungen finden. Mit dieser Intention begann sie im Frühjahr 1989 zusammen mit Katja Havemann und Rolf Henrich in der sich verschärfenden politischen Krise in der DDR nach Wegen zu suchen, die gesellschaftliche Isolation, in der sich die Opposition sah, zu überwinden und eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen und zu mobilisieren. Am 9./10. September 1989 wurde deshalb im Haus von Katja Havemann in Grünheide von Mitgliedern der Menschenrechts- und Umweltbewegung der Gründungsaufruf zu einer Initiative formuliert, der sie den Namen Neues Forum gaben. Unter dem Titel „Aufbruch 89“ forderten sie darin einen „demokratischen Dialog“ zwischen den Menschen in der DDR und dem SED-Regime. Er wurde in der darauffolgenden Woche verbreitet und binnen kurzer Zeit von zehntausenden Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet.[17]
Das Neue Forum verzichtete bewusst auf ein politisches Programm. Es verstand sich als Plattform für alle, die nach Partizipationsmöglichkeiten für einen gesellschaftlichen Umgestaltungsprozess suchten, ganz im Sinne von Bohleys Vorstellungen einer Demokratisierung "von unten".
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Bärbel Bohley wurde eine der prominentesten Protagonist*innen der Friedlichen Revolution. Zuschreibungen wie „Symbolgestalt der DDR-Revolution“, „Jeanne d’Arc der deutschen demokratischen Revolution“[18] oder „Mutter der Revolution“ lehnte sie persönlich ab, Symbolfigur wollte sie nie sein. Doch so überzeichnet diese Begriffe auch klingen mögen, sie verweisen auf ihre besondere Rolle nicht erst im Herbst 1989, sondern bereits auf dem Weg dorthin. Dabei bekannte sie sich ausdrücklich immer wieder zu jener Richtung, die die DDR nicht abschaffen, sondern sie demokratisch verändern wollten. Mit diesem Standpunkt gehörte sie bald auch innerhalb des Neuen Forum zur Minderheit.
Ihre Kritik am DDR-System war ethisch motiviert. Sie folgte keinen ideologisch inspirierten oder gar parteipolitischen Interessen. Ihre Abscheu gegen Hierarchien und alles, was die Authentizität und die Freiheit des Einzelnen einschränken konnten, bestimmte ihr Handeln, nicht nur während der gesellschaftlichen Umwälzungen 1989/90.
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Nach dem Ende des SED-Regimes war sie von Mai bis Dezember 1990 Abgeordnete der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Sie beteiligte sich im September desselben Jahres an der Besetzung der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg, um sich mit anderen Aktivist*innen gegen die Verbringung der Stasi-Akten in das Bundesarchiv und für deren Öffnung und eine gezielte Aufarbeitung einzusetzen. Wenig später, im November, beteiligte sie sich an Aktionen gegen die Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Sie sah Potenzial für politische Veränderungen in der Bürgerbewegung, weniger in politischen Parteien. Aus diesem Grund positionierte sie sich auch gegen die Fusion mit den Grünen. Sie vertrat weiterhin basisdemokratische Konzepte. Demokratie konnte ihrer Meinung nach nicht „von oben“ implementiert werden.[19] Einen solchen Prozess hielt sie im wiedervereinigten Deutschland allerdings immer weniger für realisierbar. Im Juli 1991 nahm Bärbel Bohley an einem Kongress zum Umgang mit dem SED-Unrecht teil. Sie wird seitdem mit den Worten zitiert: „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen.“ Dieses Zitat stieß eine breit geführte Diskussion an, auch seine Authentizität wurde angezweifelt. Laut der Mitschrift im wenig später erschienen Tagungsband hatte sie gesagt: „Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten.“[20] Unabhängig von allen Debatten hatte sie mit ihrer Äußerung ein grundsätzliches Misstrauen der Ostdeutschen gegenüber dem bundesdeutschen Rechtsstaat artikuliert. Für viele Menschen, die in der SED-Diktatur unter Verfolgung und Repressionen gelitten hatten, war es nur schwer zu verstehen, dass ihre Peiniger nun durch jene Rechtsstaatsprinzipien geschützt waren, die sie anderen verweigert hatten.Deshalb plädierte Bohley dafür, die Ahndung des Unrechts eher als Aufgabe der Politik und weniger der Justiz zu betrachten.
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Desillusioniert über die Entwicklungen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre brauchte sie nach eigenen Worten „Abstand zu Deutschland […] Ich hatte das Gefühl, dass wir seit 1989 immer wieder die Frage und die Forderung gestellt haben, die Vergangenheit darf nicht unter den Tisch fallen, aber die Gesellschaft wollte das nicht hören.“[21] Sie ging nach Sarajevo und engagierte sich dort von 1996 bis 1999 für das Office of the High Representative (OHR) des Peace Implementation Council (PIC) – der Internationalen Friedensbehörde für Bosnien-Herzegowina – in einem Wiederaufbauprogramm für durch den Krieg zerstörte Häuser und organisierte die Rückkehr von Geflüchteten in ihre bosnische Heimat. Ihre Erfahrungen in dem kriegszerrütteten Balkanstaat erschütterten ihre pazifistische Grundhaltung. „Ich bin zwar Pazifistin, aber nur noch für mich“, sagte sie jetzt über sich. „Ich könnte nur noch für mich sagen, ich nehme keine Waffe und schieße auf jemand anderen, aber ich kann nicht mehr sagen, wir müssen Pazifisten sein und sind gegen jeden militärischen Einsatz und dabei schauen wir zu, wie wirklich ein Volk vernichtet wird.“[22]
Ab 1999 lebte sie im kroatischen Čelina. Zusammen mit ihrem Mann Dragan Lukić, einem Lehrer aus Bosnien-Herzegowina, den sie in Sarajevo geheiratet hatte, gründete sie den Verein „Morsca Zvjiezda“ (Seestern), der geflüchteten Kindern und Kriegswaisen aus Bosnien kostenlose Ferienaufenthalte ermöglichte. Im Jahr 2006 organisierte sie das Projekt „Zisternen“, um Bedürftige mit Trinkwasser zu versorgen.
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Zwei Jahre später kehrte sie wegen einer Krebserkrankung nach Berlin zurück. Sie nutzte die ihr verbleibende Lebenszeit, um in zahlreichen Vorträgen und Interviews bilanzierend auf die Friedliche Revolution zurückzuschauen und Demokratiedefizite zu benennen.
Bärbel Bohley verstarb am 11. September 2010 im Haus ihres Sohnes in Gehren (Uckermark).
Noch zu Lebzeiten hat Bärbel Bohley den größten Teil ihrer politischen Schriften und anderer Unterlagen der Robert-Havemann-Gesellschaft für ihr Archiv der DDR-Opposition übergeben. Dort ist es einsehbar und nutzbar für Forschung, Bildung und alle interessierten Menschen – ein Beitrag, damit – ganz in ihrem Sinne – Demokratie „von unten“ wachsen kann.
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[1] Vgl. Klaus Wolfram: Nachbericht, in: Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988, posthum hrsg. von Irena Kukutz, Berlin 2011, S. 143–157, hier bes. S. 143–144.
[2] Christian Spunk Seipel: Das künstlerische Werk von Bärbel Bohley. Eine Werkschau, Einführung zu einer Ausstellung in der Klosterscheune Zehdenick vom 12.5. – 7.7.2024, Mai 2024 , URL: www.klosterscheune-zehdenick.de/events-klosterscheune/2024/5/12/vernissage-brbel-bohley, letzter Abruf 30.06.2025.
[3] Bärbel Bohley zit. in: Katalog zur Ausstellung "Bärbel Bohley - die Künstlerin. Grafik und Zeichnung", Galerie Pankow, Berlin 27.01-11.04.2021, S. 35.
[4] Vgl. Katalog zur Ausstellung „Bärbel Bohley – die Künstlerin. Grafik und Zeichnung“, Galerie Pankow, Berlin 27.01.–11.04.2021, S. 60.
[5] Bärbel Bohley im Gespräch mit Irena Kukutz, zit. in: ebd., S. 57.
[6] Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988, posthum hrsg. von Irena Kukutz, Berlin 2011, S. 138.
[7] Almut Ilsen / Ruth Leiserowitz (Hg.): Seid doch laut! Die Frauen für den Frieden in Ost-Berlin, Berlin 2019, S. 38.
[8] Dietrich Bohley, geb. 1941, wurde aufgrund seiner Weigerung, den Armeedienst an der Waffe auszuüben, trotz einer Ausbildung zum medizinisch-technischen Laboranten nicht zum Studium der Medizin zugelassen. Er studierte stattdessen ab 1963 Theologie an der Universität Halle, das wegen kritischer Äußerungen im Fach Marxismus-Leninismus (das Pflichtfach für alle Studierenden in der DDR war) durch Exmatrikulation 1966 beendet wurde. Er setzte sein Studium an den Kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Berlin fort. Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete er in unterschiedlichen Berufen. Seit 1970 hatte er sich intensiv mit Malerei und Grafik beschäftigt und war ab 1976 als freischaffender Künstler tätig. 1980 sollte er erneut zum Wehrdienst eingezogen werden. Er verweigerte wieder, kam für anderthalb Monate in Untersuchungshaft und wurde zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Vgl.: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Bohley, Dietrich, URL: www.catalogus-professorum-halensis.de/politische-verfolgung-ddr/verfolgte/bohley_dietrich.htm, letzter Abruf 04.07.2025.
[9] Almut Ilsen / Ruth Leiserowitz (Hg.): Seid doch laut! Die Frauen für den Frieden in Ost-Berlin, Berlin 2019, S. 45.
[10] Bärbel Bohley an Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, Eingabe, Berlin, 12.10.1982, Robert-Havemann-Gesellschaft/Archiv der DDR-Opposition: RHG, BBo 38, Bl. 3-4.
[11] Reinhard Weißhuhn: Bärbel Bohley, in: Ilko-Sascha Kowalczuk / Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, S. 306–309, hier S. 306.
[12] Vgl. Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bonn 1997, 2. Aufl., S. 592–599.
[13] Vgl. Klaus Wolfram: Nachbericht, in: Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988, posthum hrsg. von Irena Kukutz, Berlin 2011, S. 143–157, hier bes. S. 149.
[14] Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988, posthum hrsg. von Irena Kukutz, Berlin 2011, S. 137.
[15] Bärbel Bohley: DDR – Zwischenzeiten, in: grenzfall 1-12/1988, S. 28-30, Archiv der DDR-Opposition: RHG PS 047/16.
[16] Vgl. Bärbel Bohley u.a.: 40 Jahre DDR …und die Bürger melden sich zu Wort, Frankfurt/Main 1989, S. 10.
[17] Aufbruch 89 – Neues Forum, Archiv der DDR-Opposition: RHG BBo 068, Bl. 2–3.
[18] Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bonn 1997, 2. Aufl., S. 837.
[19] Vgl. Bärbel Bohley: Der Beitrag der Bürgerrechtler zur Zukunftsgestaltung Deutschlands, in: Erhart Neubert / Günter Rische (Hrsg.): Der Demokratie Zukunft geben. Bürgerrechtlerkongress der Konrad-Adenauer-Stiftung in Leipzig, Freiburg im Breisgau 1998, S. 27–32, hier S. 30.
[20] Bundesministerium der Justiz (Hg.): 40 Jahre SED-Unrecht: eine Herausforderung für den Rechtsstaat. Erstes Forum des Bundesministers der Justiz am 9. Juli 1991 in Bonn, München und Frankfurt/Main 1991, S. 31.
[21] Bärbel Bohley: Der Beitrag der Bürgerrechtler zur Zukunftsgestaltung Deutschlands, in: Erhart Neubert / Günter Rische (Hrsg.): Der Demokratie Zukunft geben. Bürgerrechtlerkongress der Konrad-Adenauer-Stiftung in Leipzig, Freiburg im Breisgau 1998, S. 27–32, hier S. 28-29.
[22] Ebd., S. 29.