Weißt du noch?

von Anett Schaaf

 

Es ist schon komisch, über mich zu schreiben. Ich habe keine besondere Biografie vorzuweisen. Außer, dass ich ein Kind der DDR bin und war und heute mit über 60 Jahren berichten kann, dass ich zwei Gesellschaftssysteme kenne. Zu meinen folgenden Erinnerungen möchte ich anmerken, dass es sich um rein persönliche Erinnerungen handelt, die von den historischen beweisbaren Tatbeständen abweichen können. Archivrecherchen zur DDR-Geschichte wurden von mir nicht durchgeführt.

Aufgewachsen bin ich in Dresden und habe bis 1982 dort gelebt. Meine Eltern gehörten nach heutiger Sicht der Mittelschicht an. Mein Vater war Staatsanwalt beim Gericht und meine Mutter arbeitete halbtags als Bibliothekarin in einem VEB.

Ich wurde 1959 geboren.  Wie die eigene Erziehung meiner Eltern, war auch meine Erziehung autoritär geprägt. Dies betraf aber nicht nur die Familie. Gehorsamkeit, Pflichterfüllung und Disziplin galten als oberste Tugenden und wurden auch an den Schulen den Kindern beigebracht.

Zu welcher Zeit meine Kindergartenzeit begann, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mit 4 Jahren. Meine Eltern sind beide tot, und ich kann keine Fragen mehr stellen. An negative Erfahrungen im Kindergarten kann ich mich nicht erinnern.  Ich weiß aber noch, dass ich Opa Walter Ulbricht toll fand, was auf einen Personenkult für den damaligen Staatsratsvorsitzenden in der frühkindlichen Erziehung hinweist. 

Mit 7 Jahren bin ich in die Schule gekommen. Um als kleine DDR vor allem im sportlichen Bereich gegenüber westlichen Staaten zu glänzen, war kulturpolitischer Auftrag des Bildungsministeriums, bei den Schulanfängern nach Talenten zu suchen und diese zu fördern.  Neben Sport waren es u.a. auch Naturwissenschaften und die Musik. An meiner Schule wurde in der 1. Klasse das kostenlose Erlernen eines Musikinstrumentes an einer Musikschule angeboten. Ich habe es mit Geige probiert, was ich 1 ½ durchgehalten habe. Die Musik hat mich danach weiterbegleitet. Mit 9 Jahren wurde ich in den Philharmonischen Kinderchor Dresden aufgenommen, dem ich bis zu meinem 16. Lebensjahr angehörte. In der Dresdner Philharmonie aufzutreten, bei Schallplattenaufnahmen, Rundfunk- und Fernsehsendungen mitzuwirken, war eine besondere Erfahrung.

Zurück zur Schule. Aufgrund der Systemorientierung war es natürlich Bildungsauftrag, junge Menschen zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Ein Klassenkollektiv, wie man eine Schulklasse nannte, sollte gemeinsam stark gegen kapitalistische Einflüsse sein. Außenseiter wurden als störend empfunden. 

In der ersten bis dritten Klasse wurde man Jungpionier, in der vierten bis siebten Klasse Thälmannpionier und in der 8. Klasse FDJler (Freie Deutsche Jugend). Zum Beginn des Unterrichts erhob sich die Klasse und nach der Meldung des Grußes der Pionierorganisation (Lehrer: „Für Frieden und Sozialismus, seid bereit! “ Klasse: „Immer bereit!“ ) durfte man sich setzen.  Bei den FDJlern hieß es "Freundschaft" ----> "Freundschaft".

Ein Mitschüler, der aus Glaubensgründen nicht Mitglied dieser Organisationen war, hatte einen schweren Stand bei Klassenkameraden und manchen Lehrern. Er wurde von den Kindern manchmal gehänselt und ausgegrenzt und von manchen Lehrern besonders kritisch beurteilt.

Unsere Lehrer habe ich aber nicht als übereifrige DDR-Sozialisten in Erinnerung, außer einer Geschichtslehrerin, die sich gern in Hasstiraden gegen den Westen verlor. Außerhalb des Unterrichts haben wir uns gern über sie lustig gemacht.

Als Kind musste ich leider schon lernen, nicht alles erzählen zu können, wobei das nicht nur uns Kinder betraf. Speziell bei mir waren es die 3 Geschwister meiner Mutter, die in Westdeutschland lebten. Mein Vater musste als Staatsbediensteter besonders linientreu und frei von westlichen Einflüssen und Kontakten sein. Bei Ehepartnern und Kindern der Staatsbediensteten wurden Westkontakte auch nicht gern gesehen. Man traf sich mit der Verwandtschaft trotzdem. Mein Vater stand dadurch unter ständiger Anspannung, dass diese Westverbindungen entdeckt werden und er dadurch beruflich Ärger bekommt. Berufsbedingt wusste er über den gut organisierten Überwachungsapparat Bescheid, über den er aber nicht sprechen durfte. Es gab deshalb Verhaltensregeln seitens meiner Eltern, mit keinem Außenstehenden über diese Familientreffen zu sprechen. Geschenke aus den Westen mussten zu Hause bleiben. Als Kind habe ich dadurch Ängste entwickelt, nichts Falsches zu sagen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie meine Eltern diese Verbote begründeten. Bestimmt aber nicht damit, dass es einen Überwachungsapparat mit ggf. negativen Folgen gab, wenn man sich nicht an Regeln hielt.

Das es negative Folgen gab, wenn man von den vorgegebenen Normen abweicht, gab es dann leider doch in unserer Familie. Ich habe eine Schwester, die 7 Jahre älter ist. Als sie mit 19 einen ungarischen Staatsbürger heiratete und einige Zeit nach Ungarn zog, bekam mein Vater berufliche Probleme.  In Ungarn spürte man einen Hauch vom Westen. Das betraf das Warenangebot, aber auch das internationale Flair. Gern trafen sich in Ungarn auch DDR-Bürger mit der Westverwandtschaft. Für die DDR-Oberen bedeutete das nicht nur ein ideologisches Sicherheitsrisiko. 1978 fuhr ich im Urlaub an den Balaton. Es war eine andere Welt, die wir erlebten. Bunt und leider für uns als arme DDR-Bürger sehr devisenorientiert. Wir haben uns wie Bürger zweiter Klasse gefühlt. Zurück zu meinem Vater. Aufgrund dieser ungarischen Familienerweiterung wurde mein Vater als Staatsanwalt am Bezirksgericht als nicht mehr tragbar eingeschätzt. Er musste für einige Jahre als Justitiar in einem kleinen volkseigenen Betrieb arbeiten, was für ihn einen beruflichen Abstieg bedeutete. Nachdem die Ehe meiner Schwester geschieden wurde, durfte er nach einiger Zeit wieder am Gericht als Staatsanwalt arbeiten. Diese Erfahrung hat ihn sehr getroffen. Ich kann nur annehmen, dass seine Angst, nicht systemkonform zu sein und zu handeln ziemlich groß gewesen sein muss. Es gab eine zweite Begebenheit, die eine Partnerschaft meiner Schwester betraf. Sie verliebte sich Anfang der 80er Jahr in einen Studenten aus Tansania, ein damals sozialistisch orientiertes Land. Meist wurden diese Studenten von der Staatssicherung überwacht. Mein Vater war zu dieser Zeit wieder Staatsanwalt am Gericht, und ich kann nur vermuten, dass aufgrund dieser Verbindung wieder Druck auf meinem Vater ausgeübt wurde. Als dann sogar von Heirat und eine damit verbundene Auswanderung in die Arabischen Emirate die Rede war, verbot mein Vater meiner Mutter und mir jeglichen Kontakt zu meiner Schwester. Wir haben uns trotzdem mit ihr getroffen. Meine Schwester erzählte mir später, dass meine Mutter versuchte, auf eine Partnertrennung Einfluss zu nehmen. Sie behauptete gegenüber meiner Schwester, dass ihr der Freund Avancen gemacht hätte. Es ist anzunehmen, dass meine Mutter diese Lüge auf Druck der Stasi erzählt hat. Die Beziehung zum Studenten zerbrach später, aber aus anderen Gründen.

Zurück zu mir. Nach der Schule wäre ich gern Gebrauchswerber (Schaufenstergestalter) geworden. Aber es gab wenige Lehrstellen, die nur über Beziehungen zu bekommen waren, wie so viele Dinge in der DDR. Die Personalleiterin vom Rat des Bezirkes Dresden gehörte zum Freundeskreis meiner Eltern und so habe ich über diese Beziehung einen Ausbildungsplatz zum Facharbeiter für Schreibtechnik erhalten. Nach der Ausbildung habe ich mich zwei Jahre als Sekretärin im Rat des Bezirkes Dresden gelangweilt.  Ich war jung, war nachts oft unterwegs und habe dann den restlichen Schlaf im Büro nachgeholt, da es nichts zu tun gab.

In dieser Zeit gab es zwei Begebenheiten, über die ich mich damals gewundert aber nicht weiter nachgedacht habe.

Mein Freund war Musiker mit dem ich mich manchmal während der Mittagspausen auf dem Parkplatz des Rates des Bezirkes getroffen habe. Er fuhr einen Ford Mustang, was zu DDR-Zeiten sehr exotisch war. Obwohl ich in einer staatlichen Behörde arbeitete, wurde ich nicht kritisiert. Dieser Freund holte ab und an aus Polen westliche Musikinstrumente in die DDR. Da diese nur mit Devisen zu bekommen waren, schmuggelt er versteckt in seinem Ford Westgeld über die Grenze. Einmal habe ich ihm begleitet. Er war es gewohnt, dass jedes Mal an der Grenze sein Auto durchsucht wurde und er wunderte sich, dass wir ohne Probleme die Grenze passieren konnten. Als wir ungeplant in Görlitz auf der Rückreise übernachten mussten und ich darüber meine Eltern informierte, eröffnete mir mein Vater, dass mein Freund verheiratet ist und eine Tochter hat. Obwohl mich diese Nachricht schockierte und die Trennung von meinem Freund nach sich zog, war ich immer noch sehr naiv, dahinter Überwachungsaktivitäten seitens des Staates zu vermuten. Wie mein Vater sein Wissen begründete, weiß ich nicht mehr, vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen.

Es gab übrigens noch eine zweite Beziehung, die ich basierend auf der Aussage meines Vaters beendete. Mein Vater teilte mir mit, dass sich mein Freund in einem kriminellen Milieu bewegt und ich zu meinem Schutz diese Beziehung beenden muss. Auch hier funktionierte ich und schrieb meinem Freund einen Abschiedsbrief mit der Bitte, nicht mehr mit mir Kontakt aufzunehmen. Heute wundere ich mich über mein Desinteresse, was die Kenntnisse meines Vaters betraf. Über Stasinetzwerke wurde in unserer Familie und in meinem Freundeskreis nicht gesprochen, deshalb konnte ich mir nicht vorstellen, dass Überwachungsnetzwerke dahinterstecken könnten, was höchstwahrscheinlich der Fall war. Auf Nachfrage im Stasiunterlagen-Archiv gibt es zwar einen Hinweis auf Unterlagen zu meiner Person. Diese sind aber nicht mehr auffindbar.

Nach meiner Beschäftigung beim Rat des Bezirkes arbeitete ich als Sekretärin in einem anderen staatlichen Amt. Auch hier gab es eine Begebenheit, für deren positiven Ausgang ich meinem Vater bis heute dankbar bin. Ich heirate zu dieser Zeit und als junges Ehepaar wollte man natürlich auch eine eigene Wohnung beziehen, die aber Mangelware und mit langen Wartezeiten verbunden war. Mein Vater teilte mir mit, dass die Staatssicherheit mich anwerben möchte. Er betonte ohne detaillierte Erläuterungen die Gefährlichkeit dieses Ministeriums und warnte mich, dass ich mich von diversen Verlockungen wie z.B. der Bereitstellung einer Wohnung nicht beeinflussen lassen soll. Man bot mir in diesem Gespräch neben einer gut bezahlten Arbeit wirklich eine Wohnung und diverse materielle Verlockungen an. Ich bat um Bedenkzeit, sagte das Arbeitsangebot später ab und hatte das Glück, dass mich kein Stasi-Mitarbeiter mehr kontaktierte.

Aber höchstwahrscheinlich hatte die Staatssicherheit bereits in meinem engsten Familienkreis Einzug gehalten. Nicht nur, dass mein Vater beruflich mit ihr konfrontiert war. Mein Vater erzählte mir kurz nach der Wende, dass mein Schwiegervater Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen sei. Offiziell wurde kommuniziert, dass er Sicherheitsbeauftragter bei einer LPG sei. Es gab natürlich Sicherheitsbeauftragte in Betrieben und LPG’s, die sich um die Arbeitssicherheit kümmerten. Aber es gab auch Stasi-Offiziere im besonderen Einsatz (OibE), die unter dem Deckmantel Sicherheitsbeauftragter die Belegschaft aushorchten und entsprechende Informanten hatten. Das würde auch erklären, dass mein Schwiegervater „Kollegen“ zu Hause empfing und längere Gespräche auch am Wochenende hinter verschlossenen Türen führte. Abgesehen davon hat ihr Sohn, der später mein Ehemann wurde, beim Wachregiment Felix Dzierzynski seinen Militärdienst geleistet. Dieses Regiment war dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt. Ich vermute, dass dieser Militärdienst auch in Verbindung mit einer möglichen Stasiverbindung meines Schwiegervaters zusammenhing.

Vielleicht noch kurz eine Erinnerung, die meine Eheschließung betraf. Mein zukünftiger Ehemann stand kurz vor seinem 26 Lebensjahr und es gab ein Lockmittel für junge Paare seitens des Staates, was wir in Anspruch nehmen wollten. Junge Ehepaare konnten in der DDR einen Ehekredit von 5000,00 M aufnehmen. Dieser wurde nur gewährt, wenn man nicht älter als 26 Jahre war und das gemeinsame Bruttoeinkommen 1400,00 DDR-Mark im Monat nicht überstieg. Mit dem Kredit verbunden war eine Kindergeld-Prämie und für jedes geborene Kind musste weniger Geld zurückgezahlt werden. Viele junge Leute haben deshalb früh geheiratet.

Noch ein Rückblick in die 80er Jahre.  Wir durften 1981 mit einer kleinen Reisegruppe an die sowjetische Schwarzmeerküste nach Gagra reisen. Im Hotel war es dem Personal verboten, mit uns als DDR-Bürger in Kontakt zu treten. Grund waren die Vorgänge in Polen, die mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc zusammenhingen.  Obwohl wir als DDR-Bürger wie auch die Sowjetbürger mit sozialistischer Propaganda berieselt wurden, waren wir aufgrund der Nähe zu Polen und dem Westen besser informiert. Aus Sicht der Sowjetoberen stellten wir dadurch ein Sicherheitsrisiko dar.  Wir haben natürlich Wege gefunden, uns mit dem Personal heimlich zu treffen, wobei das Hotelpersonal sehr viel Angst hatte, entdeckt zu werden.

Im Dezember 1982 zog ich mit meinem Mann nach Berlin, da er dort nach dem Studium eine Arbeitsstelle bekommen hatte.  Wie wir an unsere dunkle kalte 1 ½ Zimmer-Erdgeschosswohnung in einem Berliner Hinterhaus gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Aber wir waren trotzdem glücklich, denn Berlin war als Wohnort begehrt. Es lag an der besseren Versorgung gegenüber der restlichen DDR mit einigen Dingen des täglichen Bedarfs.  Nach 5 ½  Jahren Wartezeit bezogen wir endlich eine begehrte Neubauwohnung. Eigentlich hatten wir mit 2 Kindern nur Anspruch auf 3 Zimmer. Mit einem kleinen Betrug bekamen wir eine Vierzimmerwohnung. Der Chef meines Mannes bescheinigte meinem Mann, dass er Schichtarbeiter sei. Und Schichtarbeiter hatten Anspruch auf ein zusätzliches Zimmer.

In Berlin konnten wir nun auch im Gegensatz zu Dresden westliche Radio- und Fernsehsender empfangen. Dresden wurde zu DDR-Zeiten das Tal der Ahnungslosen genannt, da der Empfang von westlichen Sendern aufgrund der geografischen Tallage kaum möglich war. An Grenzübergängen und in diversen Ministerien waren deshalb viele Sachsen anzutreffen, was die Sachsen auch aufgrund ihres Dialektes nicht zum Sympathieträger machte.

Natürlich hatten wir in der DDR-Zeit unsere Reisesehnsüchte und Wünsche nach besonderen materiellen Dingen. Es war bitter, dass man die Verwandten im Westen nicht so einfach besuchen konnte. Besonders bitter für meine Mutter, denn ihre Eltern zogen Mitte der 70er Jahre aus gesundheitlichen Gründen zu ihrer Tochter nach Westdeutschland. Besonders schlimm war, dass meine Mutter aufgrund des Berufes meines Vaters am Gericht zur Beerdigung ihres Vaters nicht reisen durfte.

Nach der Gewährung der Milliardenkredite durch die Bundesrepublik 1983 und 1984 lenkte die DDR als Gegenleistung ein, großzügiger bei Besuchsanträgen zu verfahren. 1988 hatte meine Großmutter einen runden Geburtstag und endlich durfte meine Mutter ihre Mutter in Westdeutschland besuchen. Und sogar mir wurde eine Besuchserlaubnis erteilt. Der Ehemann und die Kinder mussten aber als Rückreisegarantie zu Hause bleiben.  

Man hat sich hinter vorgehaltener Hand über die Zustände in der DDR aufgeregt. Kritische Stimmen wurden mundtot gemacht. Man wurde Meister im Organisieren und Schlangestehen, manchmal auch über Nacht, wenn man etwas Besonderes haben wollte. Das betraf nicht nur materielle Dinge, sondern auch kulturelle Veranstaltungen.

Politisch war ich nicht sehr interessiert und durch die langjährige einseitige Berichterstattung eher abgestumpft. Wir hatten nicht die Illusion, dass sich etwas verbessern könnte und hatten uns im Mangelsystem eingerichtet.

Als mit Gorbatschow 1986 die Konzepte Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Einzug hielten, wuchs auch bei uns DDR-Bürgern der Wunsch nach politischem Wandel.  Gorbatschow wurde in der DDR zum Superstar. Polen und Ungarn leiteten Reformen ein, aber die Führung DDR wollte nichts davon wissen. Der Frustpegel stieg, was letztendlich auch zur die Massenflucht über die Botschaft in Prag führte. Eine Flucht kam für uns nicht in Frage.  Wir waren nicht so frustriert und unglücklich, um diesen Schritt zu wagen.

Uns hat der Mut vieler DDR-Bürger beeindruckt, die gegen das Regime trotz Gefahren auf die Straße gingen. Aus Angst vor Konsequenzen und aufgrund der Verantwortung für 2 kleine Kinder sind wird nicht mitgelaufen.

Es war im ersten Augenblick so unwirklich, als die Nachricht zur Grenzöffnung kam. Wir haben uns mit unseren Nachbarn im Hausflur getroffen und auf die wunderbare Nachricht mit Sekt angestoßen.

Das Freiheitsgefühl war wunderbar aber die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Mein Arbeitgeber ließ sich ziemlich schnell nach Maueröffnung von einem pensionierten Manager aus der Bundesrepublik die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen erklären. Ich war Chefsekretärin beim Direktor für Ökonomie und wusste, was das für uns Arbeitnehmer zu bedeuten hat. Da ich mit meinem Mann in einer Firma arbeitete, entschieden wir, uns für eine Anstellung im Westen der Stadt zu bewerben. Anfang 1991 begann ich als Sekretärin in einer großen IT-Firma mit Büro am Wittenbergplatz zu arbeiten. Mit offenen Armen wurde ich von meinen Westkollegen nicht empfangen. Man traute mir als DDR-Bürger nicht viel zu. Finanziell trotz gleichem Leistungsanspruch lag ich noch weit bis in die 2000er Jahre unter dem Gehaltsniveau meiner Westkollegen. Meine Ost-Kollegen, die in Geschäftsstellen, die in den neuen Bundesländern eröffneten, Arbeit fanden, bekamen noch niedrigere Löhne. Mein Mann wurde dann wirklich arbeitslos. Da er sich zu dieser Zeit schon sehr gut mit IT auskannte fand er dann ziemlich schnell eine Arbeitsstelle.

Nach gut einem Jahr hatte man mich in meiner neuen Firma akzeptiert, und ich genoss es jeden Tag, mit dem Doppeldeckerbus durchs Brandenburger Tor zu fahren. Noch heute empfinde ich es als besonderes Geschenk die Freiheit zu haben, fremde Länder zu bereisen.

Rückblickend auf meine DDR-Erfahrungen frage ich mich heute immer noch, wie ich bei einigen Begebenheiten so blind sein konnte. Vielleicht, weil ich sehr behütet aber auch abgeschottet von mancher Wirklichkeit aufgewachsen bin. Erst über Freya habe ich viel über die Stasimachenschaften in der DDR erfahren. Ich bin ihr dankbar, dass sie als Teil der Bürgerrechtsbewegung wesentlich daran beteiligt war, dass die DDR heute nicht mehr existiert.

Ich sehne mich nicht zurück, wie manch ein Ostalgiker. Die meisten Menschen in der DDR hatten es nicht einfach. Nach der friedlichen Revolution mussten wir lernen, uns in einem neuen Gesellschaftssystem zurechtzufinden, was oft sehr schwer war. Die meisten Menschen haben es geschafft. Dieser Sachverhalt wird zu wenig gewürdigt.

Heute gibt es immer noch zu wenig Re­prä­sen­tanz von Menschen mit ostdeutscher Biografie in führenden Positionen. Es ist zu wünschen, dass auch diese Situation bald der Vergangenheit angehört.