Heidi Bohley

Fritz und Anneliese Brosius gehörten zur Schicht der sogenannten „kleinen Leuten", die in Geschichtsbüchern selten eine eigene Stimme haben. Das wird sich mit der Geburt von Tochter Bärbel ändern, die am 24.Mai 1945 zur Welt kommt. Dieses Kind wird sich und anderen Gehör verschaffen. Die letzten Wochen vor der Geburt hatte die Mutter in einem Luftschutzkeller in Berlins umkämpfter Mitte verbracht. Immerhin hat das Kind einen anwesenden Vater - keine Selbstverständlichkeit in diesen Tagen. Die Familie lebt in beengten Verhältnissen in der Marienstraße. 1948 kommt noch Bruder Ulrich dazu, der später wegen eines politischen Witzes ins Gefängnis kommen und davon unheilbare seelische Schäden zurückbehalten wird. Die Kinder spielen in den Trümmern des Reichstages - wieder später, im zerstörten Sarajewo, wird Bärbel sich „wie zu Hause" fühlen. Ruinen sind die Landschaft ihrer Kindheit.

Mit 17 bezieht sie die erste eigene Wohnung, erlernt einen „ordentlichen" Beruf, aber ihre Liebe gehört der Malerei. Als sie 1969 auf einem Fasching Dietrich Bohley kennenlernt, hat sie bereits die Zusage für ein Malereistudium in Weißensee in der Tasche. 1970 kommt Sohn Anselm zur Welt. Auch Dietrich Bohley malt. Der studierte Theologe lässt sich als Autodidakt auf eine Künstler-Existenz ein. Ein waghalsiger Schritt in der DDR, die einen Asozialenparagraphen hat, der alle Bürger mit Gefängnis bedroht, die kein Anstellungsverhältnis nachweisen können. Erst sechs Jahre später wird er in den Verband Bildender Künstler aufgenommen.

Unterstützung erhält die junge Familie in Halle. Dietrichs Mutter übernimmt die Betreuung des kleinen Anselm wenn Bärbel in Berlin ist. Für Bärbel ist die MAM, wie sie von allen genannt wird, eine der tapfersten Frauen, denen sie je begegnet ist. Vater Bohley war noch in den letzten Kriegstagen getötet worden. Zurück blieb eine 40-jährige Witwe mit sieben Söhnen im Alter von null bis zehn Jahren, die später unter Berufung auf das Schicksal des Vaters allesamt den Wehrdienst verweigern.

Ich lernte die Familie Bohley 1975 kennen. In Halle hatte sich eine sehr lebendige Szene entwickelt, private Gegenwelten inmitten der Diktatur. Die weiträumige Wohnung der Bohleys war Treffpunkt für einen großen Freundeskreis und Bärbel gehörte dazu, obwohl sie da schon wieder mit Anselm in Berlin lebte. 1980 kam Dietrich Bohley ins Gefängnis, weil er den Dienst als „Bausoldat" verweigert hatte. Als wir zum Militärgericht nach Dresden fuhren, hatte Bärbel einen ihrer subversiven Einfälle: als Gruß für den Angeklagten, dem man sich nicht nähern durfte, schmierten wir uns ausgiebig mit dem damals beliebten Gras-Öl ein und dufteten in den männermiefigen Gerichtssaal hinein.

Das war natürlich keine Alternative zu wirklichem Protest. Diese Gelegenheit kam 1982. Bärbel drängelte mich bei einem Besuch in Halle doch etwas gegen das neue Wehrdienstgesetz zu tun und so gern ich mich auch davor gedrückt hätte, ich schrieb eine „Eingabe", die nie beantwortet wurde. Nur zusammen sind wir stark, das hatte man schließlich schon in der Schule gelernt. Der Text der nächsten gemeinsamen „Fraueneingabe", den ich kurz darauf von Bärbel erhielt, wurde in Halle von 50 Frauen unterschrieben. Die hatten aber auch ziemliche Angst vor der eigenen Courage und rückten zusammen. So entstand die hallesche Gruppe FRAUEN FÜR DEN FRIEDEN.

Bärbels Weitsicht war uns immer eine wichtige Orientierung. Wir fühlten uns zusammengehörig, nicht nur politisch, auch menschlich. Bärbel sagte einmal über ihre Haft 1983/84: „Das Wichtigste war, dass da draußen Menschen waren, denen ich ganz und gar vertraute. Sie würden alles tun, um uns freizubekommen, und alles, um Anselm, meinem Sohn, das Leben zu erleichtern." Bärbel erschien uns immer so furchtlos. Das lag wohl daran, dass sie dunkle Stunden als etwas sehr Privates behandelte und allein mit sich abmachte. Auch zum Sterben hat sie sich zurückgezogen - in eine schöne vertraute Umgebung, unterstützt von Sohn Anselm und ihrer Schwägerin Hilke Bohley.

(Zitat Bärbel): „Es ist immer da, man muss es nur zum Leuchten bringen."