Jens Reich

Wir berichten hier gemeinsam über Lebens- und Schaffensabschnitte, die wird jeweils mit Bärbel zusammen verbracht haben. Bei mir trifft das für das Jahr 1989 zu, und so will ich im Namen der Gruppe, die wir damals waren, davon erzählen.

Ich habe Bärbel vor dieser Zeit persönlich nicht gekannt. Sie fuhr an einem schönen Julitag zusammen mit Katja in Spreewerder bei unserer Mehrfamilien-Sommerkommune vor, die gleichzeitig eine Wochenendvariante des Freitagskreises war. Sie ging direkt auf mich zu und fragte, ob ich nicht am nächsten Tag mit zu Rolf Henrich nach Schlaubehammer kommen wolle - sie würden dort gern auch mit mir über die politische Lage der Opposition nach der verlogenen Kommunalwahl und dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens reden. Ich fuhr am nächsten Tag auf konspirativen Umwegen dorthin. Dort traf ich neben Katja und Bärbel auch noch Erika Drees und Rolf Henrich mit seiner Frau an, und beim Kaffeetrinken planten wir das Treffen bei Havemanns am 9. September in Grünheide, wo dann das Neue Forum gegründet wurde.

So wurden wir bekannt, und ich war dann den ganzen Herbst 89 in ihrer Arbeitsumgebung, in ihrer Wohnung, an den verschiedenen Trefforten des noch nicht zugelassenen Neuen Forums, bei den Vorstellungen der Bewegung in Kirchen und auf republikweiten Foren. Den letzten gemeinsamen Ausflug hatten wir dann in der Delegation von Bürgerbewegten, die Anfang Januar zu Lech Walesa nach Warschau reiste. Danach gabelten sich unsere politischen und beruflichen Wege wieder, und wir haben uns in den letzten Jahren nur gelegentlich getroffen. Der Herbst 89 ist also mein Erinnerungshintergrund.

Ich denke, es werden wohl nicht viele widersprechen, wenn ich sage, dass Bärbel in der DDR die Schlüsselfigur der Bürgerbewegung des Herbstes 89 ist. Sie war keine politische Führungsperson im üblichen Sinne, aber für viele, viele Menschen so etwas wie ein Vorbild, wie in der aufregenden, wirren, auch bedrohlichen und dabei gleichzeitig befreienden Zeit zu handeln sei. Wenn eine Person analog zu Lech Walesa, Vaclav Havel, Andrei Sacharov für die DDR als Kristallisationssymbol der so facettenreichen Ereignisse des Herbstes 89 genannt werden sollte, dann wird man vor allem an Bärbel Bohley denken. Es ist der Herbst 89 gewesen, in dem sie zur historischen Persönlichkeit wurde.

Sie wirkte eminent politisch und war doch so antipolitisch! Sie erledigte in ständiger Hochspannung ein ungeheures Arbeitspotential, buchstäblich manchmal bis zur physischen Erschöpfung, aber nicht mit Terminkalender und wohlberechneten Abläufen, sondern ganz chaotisch, alles spontan, jederzeit zu überraschenden Wendungen bereit, jede Anregung aufnehmend, wenn sie ihr zusagte. Ein politisches Programm für die Reform der DDR hat sie nicht ausgearbeitet. Es gibt zwar einige Texte aus dieser Zeit, aber ihre Hauptwirksamkeit bestand in unmittelbar öffentlichen Auftritten, in Abendveranstaltungen in den Kirchen, mit deren Oberen sie aber wenig zu tun haben wollte, und vor allem in den Medien der DDR, die nach einigem Zögern von Erfüllungsorganen der Staatsmacht zu freien politischen Diskussionsforen wurden. Bärbel hat diese Medien ausgiebig bedient, auch die westlichen Medien, vermittelt über die Freunde, die in den Westen abgeschoben wurden, und die Journalisten, die in der DDR akkreditiert waren und ihr den Zugang zu Printmedien und Fernsehen verschafft hatten.

Ihre Spontanität, mit der sie zwar keineswegs aus dem Bauch, sondern mit blitzschnellen Einfällen aus dem Kopf heraus formulierte, hat sie damals dazu befähigt, ganz anders politischen Einfluss auf das Volk auszuüben als wir anderen, die überwiegend eher umständlich, diskursiv dachten und formulierten. Es gelangen ihr immer wieder wunderbar knappe Aphorismen, so wie zum Beispiel (allerdings etwas später als 1989) der Ausspruch: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ Solche Sätze habe ich bewundert! Kürzer geht so etwas nicht zu sagen, beide Teilsätze treffen faktisch zu, und doch ist es die sperrige Gegeneinandersetzung der beiden Sätze, die eine noch heute andauernde Spannung um das Für und Wider der deutschen Vereinigung ausgelöst hat.

Solche Aussprüche tat Bärbel ganz unerwartet, und sie hat sie nie endlos wiedergekaut, wie es die Politiker tun müssen, wenn sie mal einen guten Einfall hatten. Hingeknallt und nicht weiter darum herumgeredet! Sehr wirkungsvoll!

Einen solchen Satz hat sie auch am Wochenende nach dem 9. November getan. Das Volk sei verrückt geworden, und die Regierung habe den Verstand verloren. Auch hier wurde es gesagt und nicht weiter kommentiert, und wir diskutieren bis heute, was daran zutrifft und was nicht.

Ich finde, dass Bärbel ihre ganz große Zeit 1989 hatte und sich damit treu geblieben ist, dass sie die großen politischen Ideale von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit ganz naiv einfach beim Wort genommen hat und damit das Volk begeistert hat, das damals wie heute die verschnörkelte Politiksprache nicht hören will. Damals waren sie zu begeistern, heute würden sie weghören. Die große Zeit ist vorbei. Aber das gehört heute nicht hierher.

Mit persönlichen Eigenschaften von Bärbel möchte ich aus meiner nahen Erfahrung von damals schließen. Sie war politisch naiv, von unbefangener Leidenschaft, spontan ohne genaue Kalkulation der Folgen, völlig angstfrei, auch in den brenzligen Situationen. All das wissen wir aus unzähligen Porträts dieser bemerkenswerten Frau. Was ich noch hinzufügen möchte und manchen vielleicht zu hören doch überrascht: Sie war in jenen stressreichen Wochen absolut heiter, sie hat einen lebhaften Sinn für ironische und komische Situationen gehabt, sie war nie befangen vor großen Namen, und wir haben oft laut und herzlich gelacht, über die zahllosen großen und kleinen Wichtigtuer auf der politischen Bühne ebenso wie über uns selbst, die wir oft als politische Laienspieler bezeichnet wurden. Ich sehe das nicht als Schimpfwort.

Bärbel war nicht nur ein großes Talent der Antipolitik, sondern auch die Prinzipalin einer großen politischen Theaterinszenierung. Für Deutschland können wir stolz sein, dass wir dabei waren, als es in Europa um den Aufbruch aus Fremdbestimmung und Unmündigkeit ging. Und dass wir einen Menschen wie Bärbel dabei hatten.