Peter Grimm

Ich konnte neben vielen anderen Dingen etwas sehr Wichtiges von Bärbel lernen: Auch in der grauen DDR und in kaum aussichtsreicher Lage kann Opposition Spaß machen. Mochte alles auch noch so ernsthaft, wichtig und nicht ungefährlich sein - Bärbel lebte so sichtbar  die Freude am Aufbegehren und die Lust daran, sich Freiheiten zu nehmen, die andere einem nicht geben wollen. Ohne solche Beispiele  hätte ich mich in dieser Lebenswelt der Oppositionsgruppen kaum einrichten wollen. Ich war schließlich einer der Jüngsten in der Runde der Gründer und Mitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte.

Ich kann für diese Zeit nicht zwischen den Erinnerungen an die Freundin und Nachbarin Bärbel und die Oppositionelle Bärbel Bohley unterscheiden. Das gehörte für mich einfach zusammen in ein Leben.

Dafür stehen sinnbildlich zwei ganz wichtige Orte: Bärbels Küche und ihr Atelier. Dort konnte man sich bei Kaffee oder Rotwein wohlig aufgehoben fühlen und gleichzeitig politische Erklärungen formulieren oder Aktionen planen. Wenn hier gefeiert wurde, hörte die Opposition nie ganz auf und bei politischen Debatten blieb es hier trotzdem immer ein wenig familiär.

Ich hatte Bärbel ein paar Jahre zuvor bei Katja Havemann in Grünheide kennengelernt. Ich suchte dort Kontakt zu denen, die diese DDR-Verhältnisse nicht stumm erduldeten, also zur Opposition, obwohl die sich damals selbst meist noch nicht so nannte.

Dass man sich bei solch einer Suche zu Bärbel hingezogen fühlen musste, war klar: Sie plädierte dafür, sich nicht mehr nur auf die Kernthemen der Friedens- und Umweltgruppen zu beschränken, sondern mit der Thematisierung der Menschenrechte die SED-Diktatur de facto frontal anzugreifen. Und sie gehörte zu denen, die den schützenden aber auch einengenden Raum der Kirche verlassen wollten. Was heute so banal klingt, hörte sich damals ungeheuer radikal an.

Für mich als Anfang-Zwanzigjährigen war das faszinierend, wie auch ihre klare Ablehnung jeglicher fesselnder Organisation. Die würde einen doch nur hindern das Eigene zu tun. Das war manchmal auch für Mitstreiter nicht einfach zu ertragen, aber trotzdem in dieser Zeit oft genau das Richtige.

Ich erinnere mich da an eine Sitzung der Initiative Frieden und Menschenrechte im Sommer 1986 in Bärbels Atelier. Wir hatten gerade die erste „grenzfall"-Ausgabe herausgebracht, die zweite stand bevor und die Diskussion entspann sich um die Frage, ob wir das Blatt mit dem Vermerk „herausgegeben von Mitgliedern der Initiative Frieden und Menschenrechte" versehen können.  Wir konnten ja kein Impressum in ein illegales Blatt setzen, wollten aber trotzdem sagen, wo es herkommt und über wen man uns erreichen kann. Während manche IFM-Mitstreiter nun darüber diskutieren wollten, ob die Redaktion ihnen dann nicht auch Rechenschaft leisten müsse, beendete Bärbel diese Diskussion laut und klar mit dem Satz: „Ihr macht da Euer Ding, das ist doch klar, da redet niemand rein!" Danach wollte das keiner weiter debattieren.

Ich habe sie ohnehin immer als Freundin erfrischend klarer Worte erlebt. Sie konnte mit Witz und spitzen Bemerkungen die Sprechblasen von Ideologieliebhabern zerplatzen lassen. Wenn einer nichts zu sagen hatte, dann sollte er sie auch nicht mit vielen Worten behelligen.  Insofern sorgte sie - und das war in manchen damaligen Runden sehr verdienstvoll - dafür, dass Debatten nicht ausuferten. Und wenn sie das nicht verhindern konnte, so wurden sie wenigstens nicht langweilig.

Ohnehin konnte man von Bärbel oft genug hören: Wir sollten nicht so trocken und langweilig, sein, also nicht nur Erklärungen, Papiere und Publikationen produzieren, sondern gern auch mal unsere Gegner vorführen. Beispielsweise mit einem originellen Protest gegen das nicht erklärte aber praktizierte Ausreiseverbot auch ins östliche Ausland. Alle, die wir an den Grenzen zurückgewiesen wurden, sollten aus Protest im Frühjahr 1987 einen bestimmten Flug nach Prag buchen. Das geschah bekanntermaßen auch. Zwar wurden wir alle am Flug gehindert, doch das bizarre Schauspiel - eine Staatsmacht hindert mit riesigem Aufwand ein Häuflein Opponierender an einer legalen Reise in den Osten - wurde öffentlich aufgeführt.

Doch dieses Spektakel war Bärbel nicht genug. Sie wollte sich auch noch eine offizielle Erklärung ertrotzen und zog zum Innenministerium. Dort wollte sie den Besucherbereich nicht eher verlassen, bis sie eine Antwort bekam. Ihre Ausrüstung für einen solchen Behördengang war ungewöhnlich und fiel enorm auf: Ein großer, prall gefüllter Picknick-Korb. Der Verwunderung darüber entgegnete sie, sie werde ja eine ganz lange Wartezeit überstehen müssen und begann im Amt zu frühstücken. Das sorgte natürlich für Aufsehen und verfehlte seine Wirkung bei denen die es sahen nicht, auch wenn sie bald darauf aus dem Gebäude geworfen wurde.

Bärbel erschien immer als die, die das tat, was sie für richtig hielt, egal was andere von ihr erwarteten. Aber wir konnten uns alle auf sie verlassen.

Ich bin wieder in Bärbels Küche. Hier saßen wir auch nachts im November 1987 als die Stasi wegen des geplanten grenzfall-Drucks die Umweltbibliothek gestürmt hatte. Bärbel wurde noch während der dortigen Hausdurchsuchung angerufen und trommelte nun all die Mitstreiter zusammen, die sie sofort erreichen konnte. Ab den Morgenstunden wurde die Runde immer größer.  Hier wurden nun Informationen gesammelt und verbreitet, Erklärungen formuliert und auch die Mahnwache vor der Zionskirche mit vorbereitet. Bärbels Küche und Atelier konnten auch Trutzburg sein.

Mir waren es nahe und wichtige Orte. Und wie wichtig ein Mensch ist, merkt man ja oft erst, wenn er fehlt. Bei Bärbel ging es mir so im Januar 1988 nach ihrer Verhaftung und der halbjährigen Abschiebung zum sogenannten Studienaufenthalt. Da fehlte plötzlich ein Zentrum des Oppositionslebens. Da merkte man: Eine Initiative Frieden und Menschenrechte hätte es ohne Bärbel Bohley in dieser Form nicht gegeben, für mich nicht gegeben.

Doch damals war Bärbel ja nach einem halben Jahr wieder da. In Küche und Atelier wurde wieder mit Mut und Lust die Veränderung der Welt geplant.