Martin Böttger

Mutter des Untergrundes

Als Bärbel Bohley im November 1983 nach sechswöchiger Untersuchungshaft aus dem Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen entlassen wurde, berichtete sie ihren Freundinnen und Freunden von den Vernehmungen und Anschuldigungen der Staatssicherheit. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an das Treffen mit Ulrike Poppe und ihr im Freundeskreis, denn beide mussten sechs Wochen in Einzelhaft bei der berüchtigten Geheimpolizei der DDR verbringen. Bärbel erzählte uns, dass der Stasi-Vernehmer sie gleich zu Anfang als „Mutter des Untergrundes" tituliert hatte. Offizieller Vorwurf war jedoch die „Sammlung von Nachrichten". Nachrichten, die laut Strafgesetzbuch der DDR „geeignet waren, den Interessen der DDR zu schaden".

Wieso können Nachrichten, auch wenn sie wahr sind, den Interessen eines Landes schaden? Das fragten nicht nur wir uns damals. Im Herbst 1983 befand sich die Nachrüstungs-Debatte auf ihrem Höhepunkt und das war für die Friedensbewegungen aus Ost- und Westdeutschland Grund, näher zusammenzurücken. Petra Kelly und Gert Bastian gehörten zur bundesdeutschen Friedensbewegung und nutzten seit 1983 als Bundestagsabgeordnete der GRÜNEN ihren Diplomatenstatus, um Freunde in Ostberlin zu besuchen. Natürlich tauschten sie auch „Nachrichten" aus. Die Treffen fanden häufig in der Wohnung Bohley, manchmal auch in der Wohnung Böttger statt. Letztere bot sich auch deshalb an, weil sie ganz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße lag, über den Petra und Gert immer ein- und ausreisten..

Die unabhängige Friedensbewegung der DDR ist älter als der Nachrüstungsbeschluss von 1983. Bärbel Bohley gründete 1982 zusammen mit Katja Havemann, Irena Kukutz, Jutta Seidel und Ulrike Poppe die Bewegung „Frauen für den Frieden", der auch meine Frau Antje angehörte. Anlass war die zunehmende Militarisierung in der DDR, die in dem Gesetz, im Krisenfall auch Frauen zum Wehrdienst einziehen zu können, ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Aus Protest gegen dieses Gesetz versammelten sich Bärbel und weitere „Frauen für den Frieden" - ganz in schwarz gekleidet - auf dem Alexanderplatz, um auf dem dortigen Postamt ihre Briefe an das Wehrkreiskommando abuzugeben. In den Briefen teilte jede einzelne Frau der militärischen Einberufungsbehörde mit, dass sie sich unter keinen Umständen zum Dienst beim Militär bereit finden würde.

Diese und andere Friedensaktionen dürften dazu beigetragen haben, dass Bärbel von der Stasi verfolgt wurde und den Titel „Mutter des Untergrunds" erhielt. Die „Initiative für Frieden und Menschenrechte", Ende 1985 gegründet, hat sicher dazu beigetragen, diesen Titel zu festigen. In dieser „staatsfeindlichen Gruppierung" (Stasi-Jargon) versammelten sich nämlich nicht die Staatsfeinde, sondern Menschen, die das Land friedens- und demokratiefähig machen wollten. Bärbel gehörte von Anfang an dazu. Uns waren die Menschenrechte wegweisender Maßstab für eine Umgestaltung unseres Landes. Wir merkten irgendwann, dass unser Land nicht mehr zu reformieren, sondern nur noch zu revolutionieren war.

Bärbel Bohley war in meiner Erinnerung die Einzige, die instinktiv immer den richtigen Zeitpunkt wusste. Das war schon 1982 bei den „Frauen für den Frieden" der Fall, genau wie 1985 bei der „Initiative für Frieden und Menschenrechte". Und am 9. September 1989 erwischte sie mit Katja Havemann zusammen genau den richtigen Zeitpunkt, das NEUE FORUM zu gründen. Es war übrigens auch der richtige Ort: das Haus der Witwe von Robert Havemann in Grünheide bei Berlin.

So wurde Bärbel, die nie einen Führungsanspruch erhoben hatte, zur Mutter der Opposition. Später, Mitte der 90er Jahre, wurde sie in Kroatien eine Mutter der Flüchtlingskinder. Ehrenamtlich gründete sie dort die Hilfsorganisation Seestern e. V., die Kindern aus bosnischen Flüchtlingsfamilien aller örtlichen Ethnien kostenlose gemeinsame Sommerferien ermöglichte. Welch wunderbare Frau ist am 11. September 2010 von uns gegangen!