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Freya bat mich meine Erinnerungen an die DDR aufzuschreiben. Ich habe keine besondere Biografie vorzuweisen. Außer, dass ich ein Kind der DDR bin und war und heute mit 66 berichten kann, dass ich zwei Gesellschaftssysteme kenne. Zu meinen folgenden Erinnerungen möchte ich anmerken, dass es sich um rein persönliche Erfahrungen handelt, die von den historischen beweisbaren Tatbeständen abweichen können. Archivrecherchen zur DDR-Geschichte wurden von mir nicht durchgeführt.
Aufgewachsen bin ich in Dresden und habe bis 1982 dort gelebt. Meine Eltern gehörten nach heutiger Sicht der Mittelschicht an. Mein Vater war Staatsanwalt beim Gericht und meine Mutter arbeitete halbtags als Bibliothekarin in einem VEB.
Ich wurde 1959 geboren. Wie die eigene Erziehung meiner Eltern, war auch meine Erziehung autoritär geprägt. Dies betraf nicht nur die Familie. Gehorsamkeit, Pflichterfüllung und Disziplin galten als oberste Tugenden und wurden auch an den Schulen den Kindern beigebracht.
Zu welcher Zeit meine Kindergartenzeit begann, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mit 4 Jahren. Meine Eltern sind beide tot, und ich kann keine Fragen mehr stellen. An negative Erfahrungen im Kindergarten kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß aber noch, dass ich „Opa“ Walter Ulbricht toll fand, was auf einen Personenkult für den damaligen Staatsratsvorsitzenden in der frühkindlichen Erziehung hinweist.
Mit 7 Jahren bin ich in die Schule gekommen. Nach meiner Kenntnis war es kulturpolitischer Auftrag des Bildungsministeriums, bei den Schulanfängern nach Talenten zu suchen und diese zu fördern. Neben Sport waren es u.a. auch Naturwissenschaften und die Musik. An meiner Schule wurde in der 1. Klasse das kostenlose Erlernen eines Musikinstrumentes an einer Musikschule angeboten. Ich habe es mit Geige probiert, was ich 1 ½ durchgehalten habe. Die Musik hat mich danach als Mitglied des Philharmonischen Kinderchores Dresden bis zu meinem 16. Lebensjahr weiterbegleitet. In der Dresdner Philharmonie aufzutreten, bei Schallplattenaufnahmen, Rundfunk- und Fernsehsendungen mitzuwirken, war eine besondere Erfahrung. Von Reisen ins westliche Ausland wie als Mitglied des Kreuzchores Dresden konnte man nur träumen. Immerhin gab es zwei Konzertreisen nach Prag und Brno.
Meine Familie war angepasst und so war es auch für mich normal, dass ich Jungpionier und ab der vierten Klasse Thälmannpionier wurde. Dies war mit einem Ritual des Pioniergrußes verbunden und bei Pioniernachmittagen, Veranstaltungen begrüßte man sich: Lehrer: „Für Frieden und Sozialismus, seid bereit! “ Klasse: „Immer bereit!“). Wir mussten dabei strammstehen und die rechte Hand zum Kopf führen, wie Soldaten. In der 8. Klasse gab es das blaue Hemd der Freie Deutsche Jugend (FDJ). Bei den FDJlern hieß es "Freundschaft" ----> "Freundschaft", was aber mit keiner Gestik verbunden war. An eine große Begeisterung meinerseits und die meiner Mitschüler für diese Organisationen kann ich mich nicht erinnern. Man war dabei, weil es zum Alltag in der DDR gehörte und man wollte kein Außenseiter sein.
Außenseiter waren Mitschüler, die aus Glaubensgründen oder anderen Überzeugungen nicht Mitglied dieser Organisationen waren. Bei uns betraf es nach meiner Erinnerung 2 Mitschüler, die etwas am Rand der Klassengemeinschaft standen und von Lehrern oft kritischer beurteilt wurden.
Meine Lehrer habe ich nicht als übereifrige DDR-Sozialisten in Erinnerung, außer einer Geschichtslehrerin, die sich gern in Hasstiraden gegen den Westen verlor. Außerhalb des Unterrichts haben wir uns gern über sie lustig gemacht.
Als Kind musste ich leider schon lernen, nicht alles erzählen zu können, wobei das nicht nur uns Kinder betraf.
Speziell bei mir waren es die Verbindungen zu 3 Geschwister meiner Mutter, die in Westdeutschland lebten. Mein Vater musste als Staatsbediensteter besonders linientreu und frei von westlichen Einflüssen und Kontakten sein. Bei Ehepartnern und Kindern der Staatsbediensteten wurden Westkontakte auch nicht gern gesehen. Man traf sich mit der Verwandtschaft trotzdem. Mein Vater stand dadurch unter ständiger Anspannung, dass diese Westverbindungen entdeckt werden und er dadurch beruflich Ärger bekommt. Berufsbedingt wusste er über den gut organisierten Überwachungsapparat Bescheid, über den er aber nicht sprechen durfte. Es gab deshalb Verhaltensregeln seitens meiner Eltern, mit keinem Außenstehenden über diese Familientreffen zu sprechen. Geschenke aus den Westen mussten zu Hause bleiben. Als Kind habe ich dadurch Ängste entwickelt, nichts Falsches zu sagen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie meine Eltern diese Verbote begründeten. Bestimmt aber nicht damit, dass es einen Überwachungsapparat mit ggf. negativen Folgen gab, wenn man sich nicht an Regeln hielt.
Das es negative Folgen gab, wenn man von den vorgegebenen Normen abweicht, gab es leider dann doch in unserer Familie. Meine 7 Jahre ältere Schwester heiratete einen ungarischen Staatsbürger und lebte einige Zeit in Ungarn. Mein Vater verlor zu dieser Zeit seine Arbeit als Staatsanwalt am Gericht und musste als Justitiar in einem kleinen Betrieb anfangen. Für ihn bedeutete dies einen beruflichen Abstieg. In Ungarn spürte man einen Hauch vom Westen, da Ungarn für westdeutsche Touristen ein billiges Urlaubsland war. Als DDR-Bürger war man mit dem DDR-Aluminiumgeld leider Tourist zweiter Klasse. Gern trafen sich in Ungarn DDR-Bürger mit der verbotenen Westverwandtschaft. Ich nehme an, dass Ungarn deshalb für die DDR-Oberen ein ideologisches Sicherheitsrisiko bedeutete und mein Vater für den Staatsdienst nicht mehr tragbar war.
Nachdem die Ehe meiner Schwester geschieden wurde, durfte er nach einiger Zeit wieder am Gericht als Staatsanwalt arbeiten. Diese Erfahrung hat ihn sehr getroffen. Ich kann nur annehmen, dass seine Angst, nicht systemkonform zu sein und zu handeln ziemlich groß gewesen sein muss.
Es gab eine zweite Begebenheit, die eine Partnerschaft meiner Schwester betraf. Sie verliebte sich Anfang der 80er Jahr in einen Studenten aus Tansania, ein damals sozialistisch orientiertes Land. Mein Vater war zu dieser Zeit wieder Staatsanwalt am Gericht, Ich kann nur vermuten, dass aufgrund dieser Verbindung wieder Druck von Seiten der staatlichen Organe auf meinem Vater ausgeübt wurde. Als dann sogar von Heirat und eine damit verbundene Auswanderung in die Arabischen Emirate die Rede war, verbot mein Vater meiner Mutter und mir jeglichen Kontakt zu meiner Schwester. Wir haben uns trotzdem mit meiner Schwester getroffen aber mit der Angst, erwischt zu werden. Meine Schwester erzählte mir später, dass meine Mutter versuchte, auf eine Partnertrennung Einfluss zu nehmen. Sie behauptete gegenüber meiner Schwester, dass ihr der Freund Avancen gemacht hätte. Es ist anzunehmen, dass meine Mutter diese Lüge auf Druck der Stasi erzählt hat. Die Beziehung zum Studenten zerbrach später aus anderen Gründen.
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Zurück zu mir. Nach der Schule wäre ich gern Gebrauchswerber (Schaufenstergestalter) geworden. Aber es gab wenige Lehrstellen, die nur über Beziehungen zu bekommen waren, wie so viele Dinge in der DDR. Über eine Bekannte meiner Eltern habe ich dann einen Ausbildungsplatz zum Facharbeiter für Schreibtechnik erhalten. Nach der Ausbildung habe ich mich zwei Jahre als Sekretärin im Rat des Bezirkes Dresden gelangweilt. Es gab fast nichts zu tun. Ich war jung, war nachts oft unterwegs und habe dann den restlichen Schlaf im Büro nachgeholt.
In dieser Zeit gab zwei Begebenheiten, über die ich mich damals gewundert aber nicht weiter nachgedacht habe.
Mein Freund war Musiker mit dem ich mich manchmal während der Mittagspausen auf dem Parkplatz des Rates des Bezirkes getroffen habe. Er fuhr einen Ford Mustang, was zu DDR-Zeiten sehr exotisch war. Obwohl ich in einer staatlichen Behörde arbeitete, wurde ich nicht kritisiert. Dieser Freund holte ab und an aus Polen westliche Musikinstrumente in die DDR. Da diese nur mit Devisen zu bekommen waren, schmuggelt er versteckt in seinem Ford Westgeld über die Grenze. Einmal habe ich ihm begleitet. Er war es gewohnt, dass an der Grenze jedes Mal sein Auto durchsucht wurde. Vielleicht war es Zufall, aber er wunderte sich, dass wir ohne Probleme die Grenze passieren konnten. Als wir ungeplant in Görlitz auf der Rückreise übernachten mussten und ich darüber meine Eltern informierte, eröffnete mir mein Vater, dass mein Freund verheiratet sei und eine Tochter hat. Obwohl mich diese Nachricht schockierte und die Trennung von meinem Freund nach sich zog, war ich immer doch sehr naiv, dahinter Überwachungsaktivitäten seitens des Staates zu vermuten. Wie mein Vater sein Wissen begründete, weiß ich nicht mehr, vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen.
Auch eine weitere Beziehung, basierend auf der Aussage meines Vaters, beendete ich. Mein Vater teilte mir mit, dass sich mein Freund in einem kriminellen Milieu bewegt und das ich zu meinem eigenen Schutz diese Beziehung beenden muss. Heute wundere ich mich über mein damaliges Desinteresse, was die Kenntnisse meines Vaters betraf. Über Überwachungsstrukturen wurde in unserer Familie und in meinem Freundeskreis nicht gesprochen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Überwachungsapparate dahinterstecken könnten. Auf Nachfrage im Stasiunterlagen-Archiv gibt es zwar einen Hinweis auf Unterlagen zu meiner Person. Diese sind aber nicht mehr auffindbar.
Nach meiner Beschäftigung beim Rat des Bezirkes arbeitete ich mehrere Jahre in einem anderen staatlichen Amt. Hier gab es eine Begebenheit, für deren positiven Ausgang ich meinem Vater bis heute dankbar bin. Mein Vater teilte mir mit, dass die Staatssicherheit mich anwerben möchte. Er betonte ohne detaillierte Erläuterungen die Gefährlichkeit dieses Ministeriums und warnte mich, dass ich mich von diversen Verlockungen, wie z.B. der Bereitstellung einer Wohnung, die oft mit langen Wartezeiten verbunden war, nicht beeinflussen lassen soll. Mit der Bitte um Bedenkzeit und späteren Absage des Arbeitsangebotes hat mich später kein Stasi-Mitarbeiter mehr kontaktiert.
Dass die Staatssicherheit n meinem engsten Familienkreis Einzug gehalten hatte, kann ich nur vermuten, aber nicht beweisen. Es liegt aber sehr nahe. So ist davon auszugehen, dass nicht nur mein Vater beruflich mit ihr konfrontiert war. Mein Vater erzählte mir kurz nach der Wende, dass mein Schwiegervater Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen seit. Ich war zu feige, meinen in der Zwischenzeit verstorbenen Schwiegervater dazu anzusprechen. Offiziell wurde kommuniziert, dass er Sicherheitsbeauftragter bei einer LPG war. Es gab natürlich Sicherheitsbeauftragte In Betrieben und auch in den LPG’s, die sich um die Arbeitssicherheit kümmerten. Aber es gab auch Stasi-Offiziere im besonderen Einsatz (OibE), die unter dem Deckmantel Sicherheitsbeauftragter die Belegschaft aushorchten und Kontaktberichte schrieben. Das würde auch erklären, dass mein Schwiegervater „Kollegen“ zu Hause empfing und längere Gespräche hinter verschlossenen Türen führte. Abgesehen davon hat sein Sohn, der später mein Ehemann wurde, seinen Militärdienst beim Wachregiment Feliks Dzierzynski abgeleistet. Dieses Regiment war dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt. Ich vermute, dass dieser Militärdienst auch in Verbindung mit der vermuteten Stasiverbindung meines Schwiegervaters zusammenhängen könnte.
Vielleicht noch kurz eine Erinnerung, die meine Eheschließung betraf. Mein zukünftiger Ehemann stand kurz vor seinem 26. Lebensjahr, und es gab ein Lockmittel für junge Paare seitens des Staates, was wir noch in Anspruch nehmen wollten. Junge Ehepaare konnten in der DDR einen Ehekredit von 5000,00 M aufnehmen. Dieser wurde nur gewährt, wenn man nicht älter als 26 Jahre war und das gemeinsame Bruttoeinkommen 1400,00 DDR-Mark im Monat nicht überstieg. Mit dem Kredit verbunden war eine Kindergeld-Prämie und für jedes geborene Kind musste weniger Geld zurückgezahlt werden. In der DDR wurde insgesamt früh geheiratet, was vielleicht auch mit dieser Regelung verbunden war. Es könnte sein, dass diese oft überstürzten Heiraten auch als mögliche Ursache für die hohe Scheidungsrate in der DDR zu sehen sind.
Noch ein Rückblick auf die 80er Jahre. Wir durften 1981 mit einer kleinen Reisegruppe an der sowjetischen Schwarzmeerküste unseren Urlaub verbringen. Im Hotel war es dem Personal verboten, mit uns als DDR-Bürger in Kontakt zu treten. Grund waren die Vorgänge in Polen, die mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc zusammenhingen. Aufgrund der geografischen Nähe zum Westen und der damit verbundenen Informationsmöglichkeiten waren wir als DDR-Bürger besser als die Sowjetbürger informiert. Das war aus Sicht der Sowjetoberen ein gewisser Unsicherheitsfaktor. Wir haben natürlich trotzdem Wege und Möglichkeiten gefunden, uns mit dem Personal heimlich zu treffen und auszutauschen.
Im Dezember 1982 zog ich mit meinem Mann nach Berlin, da er dort eine Arbeitsstelle bekam. Wir bewohnten eine dunkle kalte 1 ½ Zimmer-Erdgeschosswohnung in einem Berliner Hinterhaus. Trotzdem waren wir glücklich in Berlin zu leben, denn die DDR-Hauptstadt wurde mit einigen Dingen des täglichen Bedarfs etwas besser beliefert, als die restliche DDR. Nach 5 ½ Jahre Wartezeit konnten wir eine begehrte Neubauwohnung beziehen. Mit 2 Kindern hatten wir nur Anspruch auf max. 3 Zimmer. Mit einem kleinen Betrug bekamen wir eine 4-Raumwohnung, die eigentlich nur Schichtarbeitern zustand. Da ich den Chef meines Mannes gut kannte, machte er meinen Mann auf dem Papier zum Schichtarbeiter.
In Berlin konnten wir westliche Radio- und Fernsehsender empfangen. Ein entsprechender Rundfunkempfang war in Dresden aufgrund der geografischen Tallage kaum möglich. Deshalb wurde Dresden zu DDR-Zeiten das Tal der Ahnungslosen genannt. Oft waren deshalb an Grenzübergängen und in diversen Ministerien auch Dresdener Sachsen anzutreffen, was die Sachsen aufgrund ihres Dialektes nicht zum Sympathieträger machte.
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Gern wäre ich mit nach der Geburt meiner Kinder 1 Jahr zu Hause geblieben. Miete, Energie und Grundnahrungsmittel waren zwar günstig. Konsumgüter, wie elektronische Geräte oder Autos waren teuer. Deshalb musste auch ich, wie die meisten Frauen, aufgrund der wirtschaftlichen Notwendigkeit einer Vollbeschäftigung nachgehen. Abgesehen davon wurden Frauen, die sich vor allem ihren Kindern und ihrer Familie widmen wollten, oft als "Schmarotzerinnen" bezeichnet. Kindern und Vollbeschäftigung bedeutete für Frauen eine erhebliche Doppeltbelastung. Oft war der Krippen- oder Kindergartenplatz nicht um die Ecke. Für mich und unseren Sohn bedeutete es 5 Uhr aufstehen und erst nach 17.00 Uhr nach Hause kommen. Die Kindereinrichtung meiner Tochter war später etwas näher. Alle waren am Abend total geschafft und hundemüde. Die meisten Männer unterstützen ihre Frauen im Familienalltag kaum, was auch in meiner Familie der Fall war. Gern hätte ich mich mehr mit den Kindern beschäftigt. Aber es fehlte oft die Kraft und Energie. Immerhin gab es einmal im Monat einen Haushalttag für die Frau, der aber oft für diverse notwendige Erledigungen verplant war.
Natürlich hatten wir in der DDR-Zeit auch unsere Reisesehnsüchte. Es war bitter, dass man die Verwandten im Westen nicht so einfach besuchen konnte. Besonders bitter für meine Mutter, denn ihre Eltern zogen Mitte der 70er Jahre aus gesundheitlichen Gründen zu ihrer Tochter nach Westdeutschland. Besonders schlimm war, dass meine Mutter aufgrund des Berufes meines Vaters am Gericht nicht zur Beerdigung ihres Vaters reisen durfte. Erst nach 1983 wurde etwas großzügiger bei Besuchsanträgen verfahren. 1988 wurde meine Großmutter 90 Jahre und meine Mutter durfte endlich ihre Mutter besuchen. Sogar ich durfte reisen. Ehepartner und Kinder mussten als „Rückreisepfand“ in der DDR bleiben.
Politisch war ich zu DDR-Zeiten nicht interessiert und durch die langjährige einseitige Berichterstattung eher abgestumpft. Wir hatten nicht die Illusion, dass sich etwas verbessern könnte. Ich war noch keine 30 und mit mir selbst und meiner jungen Familie und zwei Kindern zu beschäftigt, um mir über andere Dinge Gedanken zu machen.
Mit vielen Dingen im täglichen Alltag war man unzufrieden, aber nicht unglücklich. Meine Familie und ich haben uns mit den Gegebenheiten arrangiert und im Mangelsystem eingerichtet. Man hat sich hinter vorgehaltener Hand über die Zustände in der DDR aufgeregt, aber als gegeben hingenommen. Man wurde Meister im Organisieren und Schlangestehen, manchmal auch über Nacht, wenn man etwas Besonderes haben wollte. Das betraf nicht nur materielle Dinge, sondern auch kulturelle Veranstaltungen.
Als mit Gorbatschow 1986 Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Einzug hielten, wuchs bei vielen DDR-Bürgern die Hoffnung und der Wunsch nach einem politischen Wandel. Gorbatschow wurde ein Hoffnungsträger, und wir waren begeistert von ihm. Als die DDR aber keine Anstalten machte, irgendetwas zu verändern war man ziemlich enttäuscht. Den Mut, sich der darauffolgenden Fluchtwelle anzuschließen hatten wir nicht. Wir waren nicht so frustriert, um diesen Schritt zu wagen und hatten auch Angst vor den möglichen Konsequenzen, den Kontakt zu den Daheimgebliebenen zu verlieren.
Wir bewunderten 1989 unsere Mitbürger, die trotz drohender Gefahren gegen das Regime auf die Straße gingen. Die Verantwortung für zwei kleine Kinder und die Angst vor Konsequenzen hielt mich davon ab mitzulaufen. Uns besuchten 3 Tage vor Mauerfall meine Tante und Cousine aus Westdeutschland und wir glaubten kaum, dass sich trotz der großen Demonstrationen schnell etwas ändern würde.
Die Nachricht zur Grenzöffnung war dann so unwirklich, dass wir sie kaum glauben konnten. Nach der Aussage Schabowskis zur Maueröffnung, öffneten sich auch die Türen unserer Nachbarwohnungen und wir feierten das Ereignis auf unserem Hausflur mit Sekt.
Das Freiheitsgefühl war anfänglich wunderbar. Eine Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Mein Arbeitgeber ließ sich ziemlich schnell nach Maueröffnung von einem pensionierten Manager aus der Bundesrepublik die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen erklären. Ich war Chefsekretärin beim Direktor für Ökonomie und wusste ziemlich schnell, was das für uns Angestellte zu bedeuten hat. Da ich mit meinem Mann in einer Firma arbeitete, entschieden wir, uns für eine Anstellung in Westen der Stadt zu bewerben. Anfang 1991 bekam ich eine Stelle als Sekretärin in einer großen IT-Firma. Mit offenen Armen wurde ich von meinen Westkollegen nicht empfangen, denn man traute mir als DDR-Bürger nicht viel zu. Finanziell lag ich trotz gleichem Leistungsanspruch unter dem Gehaltsniveau meiner Westkollegen, was über lange Jahre so beibehalten wurde. Meine Ost-Kollegen, die in Firmenniederlassungen in den neuen Bundesländern arbeiteten, bekamen noch niedrigere Löhne. Nach gut einem Jahr hatte man mich in der Abteilung akzeptiert, wobei noch viele Jahre gern zu Witzen über Ostdeutsche gelacht wurde. Ostdeutsche wurden gern als leistungsmäßig nicht gleichwertig angesehen. Manchmal war man erstaunt, wenn ich mich als Ostdeutsche outete.
Ich erinnere mich noch gut an das wunderbare Gefühl, wenn ich mit dem Doppeldeckerbus durchs Brandenburger Tor zur Arbeit fuhr. Ich empfinde auch heute noch eine große Dankbarkeit, wenn ich fremde Länder besuchen darf, die zu DDR-Zeiten für uns verschlossen waren. Ich denke dann oft an meine Mutter, die auch gern in fremde Länder erkundet hätte, aber 2 Jahre nach dem Mauerfall verstorben ist.
Heute frage ich mich oft, dass meine Familie aufgrund der beschriebenen familiären Ausrutscher nicht mit schwerwiegenderen Konsequenzen leben musste. Vielleicht waren wir doch zu angepasst und man war der Meinung, dass keine ideologische Gefahr von uns ausgeht. Oder es gab an der ein oder anderen Stelle schützende Hände aus dem Freundeskreis meiner Eltern. Durch das Studium meines Vaters waren Freundschaften zu Leuten entstanden, die zur Dresdner Nomenklatura gehörten.
Rückblickend auf meine DDR-Erfahrungen frage ich mich heute immer noch, wie ich bei einigen Erlebnissen so blind sein konnte. Vielleicht, weil ich doch sehr behütet aber auch abgeschottet von mancher Wirklichkeit aufgewachsen bin. Erst über den engeren Kontakt zu Freya habe ich in den Wendezeiten viel über den Stasimachenschaften der DDR erfahren. Ich bin ihr dankbar, dass sie als Teil der Bürgerrechtsbewegung wesentlich daran beteiligt war, dass die DDR heute nicht mehr existiert.
Ich sehne mich nicht zurück, wie manch ein Ostalgiker. In einer Demokratie mit Redefreiheit ohne große Angst vor Konsequenzen zu leben, empfinde ich als großes Geschenk. Ich hatte Glück, dass ich nie arbeitslos war und dass es mir nicht schwerfiel, mich ins neue System zu integrieren. Viele Menschen aus der ehemaligen DDR hatten es nicht einfach, sich im neuen Land zu orientieren. Nach der friedlichen Revolution mussten wir lernen, uns in einem neuen Gesellschaftssystem zurechtzufinden und uns oft auch gegen Vorurteile von Menschen aus dem alten Bundesländern wehren, was nicht immer einfach war. Ich wünschte mir, dass die Lebensleistung vieler ehemaliger DDR-Bürger heute mehr Anerkennung finden würde.
Es gibt immer noch zu wenig Repräsentanz von Menschen mit ostdeutscher Biografie in führenden Positionen. Es ist zu wünschen, dass auch diese Situation bald der Vergangenheit angehört.
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Annett Dierlamm wurde 1959 in Dresden geboren. Ihre Eltern wohnten im gleichen Haus wie die Eltern von Freya Klier. Nach ihrer Heirat 1981 zog sie nach Berlin. Sie arbeitete bis 1990 in Dresden und Berlin -Prenzlauer Berg als Sekretärin und ab 1991 in Berlin-Siemensstadt. Durch den nachbarschaftlichen Kontakt ihrer Eltern hat sich eine Freundschaft zu Freyas Familie entwickelt. Nach der Wende wurde der Kontakt zu Freya Klier intensiviert und besteht noch heute.