Alltagserinnerungen aus DDR und Sperrgebiet

von Birgit Hillmer

 

Als Freya Klier mich gefragt hat, ob ich Lust habe, für ein neues Buch einen kleinen Beitrag zu schreiben, habe ich mich sehr gefreut, denn mir gehen einige Geschichten aus DDR-Zeiten im Kopf herum, die für mich nie gänzlich erklärbar waren und die, auch nach vielen Jahren zeigen, wie kläglich und verlogen es oft in der DDR zuging. Einiges blieb mir immer mehr oder weniger präsent. Ich erinnere mich schreibend, ohne unbedingt genau Datum und Uhrzeit nennen zu können, aber bin durchaus sicher, belegt u.a. durch viele Gespräche mit beteiligten Personen, die Fakten richtig wiedergeben zu können.

Solidarisches Handeln in der Mangelgesellschaft

Zu den Mythen der DDR gehört, dass wir im besseren Deutschland lebten, im Gegensatz zu der bösen, kalten, kapitalistischen Ellenbogengesellschaft, wir auch immer solidarisch zusammengehalten haben. Im Nachhinein war mir klar, dass dies oft nur ein Zweckbündnis war, Motto: Ich kann dir das besorgen, du mir dafür etwas Anderes, was es gerade nicht oder nur selten zu kaufen gab. Viele verstanden Erich Honeckers Parteitagsparole als Aufforderung, „Genossen, wir müssen aus den Betrieben noch viel mehr herausholen", denn es war schließlich alles Volkseigentum und man sicherte sich seinen Anteil daran. In realistischer Formulierung, hieß der kleine einachsige Anhänger, den der Trabi ziehen konnte, im Volksmund „Klau fix". Der von vielen nach dem Zusammenbruch der DDR bedauerte Verlust des solidarischen Zusammenhalts bedeutet nur, nicht wahrhaben zu wollen, dass die Mangelwirtschaft nur durch eine Tauschgesellschaft gelindert werden konnte.

Natürlich gab es auch echte Nachbarschaftshilfe. Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen hängt damit zusammen. Meine Eltern waren, wie fast alle in der DDR, berufstätig und daher oft ab 6:00 Uhr morgens bis spät am Abend nicht zu Hause. Daher bin ich bei meiner Oma aufgewachsen. Sie war Neulehrerin und später Schulleiterin in der kleinen Thüringer Dorfschule im Grenz- bzw. Sperrgebiet, wo es neben ihr nur noch eine weitere Lehrerin, Frau G.H. gab, die später noch erwähnt werden soll Sie unterrichteten jeweils die erste und zweite bzw. die dritte und vierte Klasse. Als Schulleiterin musste meine Oma manchmal morgens um 6:00 Uhr mit dem Bus zu dienstlichen Veranstaltungen in die Kreisstadt fahren. An diesen Tagen hat sie mich in der örtlichen Bäckerei „abgeliefert". Die Bäckersleute hatten dann schon Bettzeug oben auf den großen Backofen gelegt und ich durfte dort noch eine Runde schlafen. Wenn die ersten süßen Hefehörnchen aus dem Backofen gezogen wurden, habe ich zugeschaut, wie sie diese Kuchen mit einem eigens dafür reservierten Handfeger mit Zuckerguss bestrichen und mir so ein Hörnchen noch warm ins Bett reichten und natürlich hat es wundervoll geschmeckt.

Eine andere Geschichte zeigt, dass es auch in der Mangelwirtschaft uneigennützige Hilfe und solidarisches Handeln geben konnte. Es war 1967 oder 1968, als viele Menschen bei uns an Gelbsucht erkrankten, so auch in unserem Dorf. Mich und andere Kinder traf es auch und wir, etwa zehn Kinder, waren im Krankenhaus der Kreisstadt alle zusammen isoliert in zwei Zimmern untergebracht, dazwischen gab es eine große Flügeltür, die offenstehen durfte. Spielen konnten wir nur in den Betten, toben und herumlaufen war verboten, aber wenigstens konnten wir uns unterhalten und miteinander beschäftigen. Niemand durfte uns besuchen, auch Angehörige nicht, sondern sie konnten nur, im Freien stehend, sich mit uns durch die Fenster unterhalten. Das funktionierte, weil sich unsere Zimmer im Erdgeschoss befanden. In dieser Zeit der Krankheit, es war September, brauchten wir mehr als sonst Vitamine, ganz besonders frisches Obst. Gemüse war nicht das Problem, aber bis auf Äpfel, Birnen und Pflaumen gab es kaum Obst. Umso größer war unser Erstaunen, als unsere zwei Zimmer überraschend mit Köstlichkeiten wie Mandarinen, richtigen Orangen, nicht die bräunlichen, saftlosen aus Kuba, Pampelmusen und Bananen beliefert wurden. Die Begeisterung über diese Aktion und die Dankbarkeit hält bis heute an und wir werden diese Hilfe nie vergessen. Ein Dorfbewohner, der als Kraftfahrer in das NSN (Nicht-Sozialistisches-Wirtschaftsgebiet) fahren dufte, hat einen Teil seines Geldes, das bei seinen Fahrten zum Teil in D-Mark bezahlt wurde, dafür ausgegeben, um uns Kindern, seine eigenen waren gar nicht betroffen, nicht nur eine Freude zu machen, sondern uns dabei zu unterstützen, schneller gesund zu werden. Nach über 50 Jahren denke ich immer noch an unsere Freude, aber auch an den Neid, der in den anderen Zimmern dadurch ausgelöst wurde.

Aug in Aug mit dem Klassenfeind. Das Sperrgebiet

Im Sperrgebiet zu wohnen, hatte, wie beschrieben mit dem Zusammenhalt im Dorf trotz allgegenwärtiger Angst vor Denunziation und Bespitzelung durchaus nicht nur negative Aspekte. In meiner Kindheit war das Sperrgebiet ja schon durch die „Aktion Ungeziefer“ und „Festigung" von „negativen Elementen" gesäubert. Die Erwachsenen bekamen zum Beispiel eine finanzielle Zulage. Wenn es im Konsum etwas Besonderes, die sogenannte "Bückware" wie zum Beispiel zweimal im Jahr Bananen gab, hat die Verkäuferin die Sachen aufgeteilt und jeder im Dorf bekam etwas ab, selbst wenn er gerade im Urlaub war, wurde es für ihn zurückgelegt. Für das Sperrgebiet galt, dass Fremde nicht ohne Weiteres ins Dorf kommen und damit auch nichts wegkaufen konnten, sie hätten einen Passierschein gebraucht und somit war spätestens am Schlagbaum zur Einfahrt in den Fünf-Kilometer-Sperrgürtel Schluss. Ein Passier- schein musste beantragt werden, z.B. für Arbeiten im Sperrgebiet oder zum Besuch von Verwandten. Eine Ablehnung wurde von der Polizei nicht begründet, was den Bewohnern im Sperrgebiet die Möglichkeit gab, für Verwandte, die man nicht unbedingt zu Besuch haben wollte, erst gar keinen Antrag zu stellen, um dann nach Wochen zu sagen, dass es offensichtlich keine Genehmigung gab. Eine nette Methode, sich lästige Verwandtschaft vom Hals zu halten. Wer im Sperrgebiet wohnte, hatte einen Stempel im Personalausweis. Auch wir Kinder hatten ein Dokument, das wir auch bei der Aus- und Einfahrt vorzeigen mussten. Blöd war, wenn man Freunde hatte, die nicht im Sperrgebiet wohnten, denn die durften einen nie besuchen. Nur für Verwandte, die außerhalb wohnten, konnte man für einen Besuch einen Passierschein beantragen, der dann für einen oder mehrere Tage, Wochen, in Ausnahmefällen Monate gültig war.

Als ich nach Studium und Heirat außerhalb des Sperrgebiets wohnte, musste ich, um Oma und Eltern zu besuchen, natürlich auch einen Passierschein haben. Den Letzten habe ich noch genau wie meinen Personalausweis. Ich hüte ihn wie einen Schatz, er wurde am 29. Juli 1988 ausgestellt und war für mich und meine beiden Töchter gültig bis zum 31. August 1990. Die örtliche Polizei muss mir sehr vertraut haben, was ich vermutlich meinen Eltern zu verdanken hatte. Verwandte aus der Bundesrepublik einzuladen, war für uns nicht möglich. Sie hätten ja die Grenzanlagen ausspionieren können - getreu dem Motto „der Klassenfeind schläft nie", wie es uns in der Schule eingebläut wurde. Mit dieser Problematik musste sich die Großmutter meiner Freundin, die im Dorf unsere Nachbarin war, auseinandersetzen. Der Bruder unserer Nachbarin war in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise in die USA ausgewandert und hatte nun im hohen Alter, er wird damals so um die 80 Jahre alt gewesen sein, nur noch einen großen Wunsch, noch einmal sein Elternhaus zu sehen und am Grab der Eltern zu stehen. Jahr für Jahr wurde sein Antrag zur Einreise in das Sperrgebiet abgewiesen. Das war für uns Kinder nicht nachvollziehbar, denn was sollte so ein alter Mann denn ausspionieren oder sabotieren. Aber neugierig waren wir schon, wir wollten den Mann aus Amerika natürlich wahnsinnig gerne sehen.

Dann kam nach Jahren die sensationelle Nachricht, der ältere Herr bekam die Genehmigung, seine alte Heimat zu besuchen. Der Ablauf empört mich nach so vielen Jahren immer noch. Ihm wurde nicht nur das genaue Datum genannt, sondern auch die exakte Uhrzeit, an der er sich am Schlagbaum einzufinden hatte, um dann seine Schwester zu besuchen. Am Schlagbaum musste er vom Taxi aus- und in ein Polizeifahrzeug einsteigen. Damit wurde er zum Elternhaus, wo seine Schwester noch wohnte, gefahren. Dort konnte er mit ihr Kaffeetrinken, auch etwas Zeit zum Kuchen essen wurde großzügig gewährt. Ich glaube, es waren höchstens eineinhalb Stunden, die er bleiben durfte, einfach unfassbar kurz. Dann wackelte er, gestützt auf seinen Stock, zusammen mit seiner Schwester zum Friedhof, dafür waren großzügige 30 Minuten geplant. Anschließend wurde er wieder in das Polizeifahrzeug gesetzt und aus dem Sperrgebiet entfernt. Für ungefähr zwei Stunden hatte dieser ältere Herr die Strapazen eines Fluges von Amerika nach Deutschland auf sich genommen. Im Dorf waren sehr viele Menschen empört über diese Aktion der Staatsmacht und sogar wir Kinder haben uns darüber nicht nur aufgeregt, sondern offen über Sinn und Unsinn dieses überwachten Besuches diskutiert.

Wie gefährlich das Leben im Grenzgebiet sein konnte, habe ich nicht nur einmal erlebt. Wir wussten natürlich, dass an der Grenze geschossen wird und auch die Existenz von Selbstschussanlagen, später dann die Personenminen, waren bekannt. Schon kleinen Kindern ist klargemacht worden, sich möglichst nicht zu weit der Grenze zu nähern, man hätte ja als potentieller „Grenzverletzer" gelten können, will sagen, wer über diese Grenze geht, begeht eine Straftat, ist ein Verbrecher. Als Jugendliche haben wir dann später unsere Witze über die „Bewachung" gemacht. Kam man leicht bis schwer alkoholisiert (Alkohol zu trinken war schon in jungen Jahren absolut üblich) von der Disco im Nachbarort nach Hause getorkelt und es raschelte im Wald, war es im schlechtesten Fall ein Wildschwein, im besten Fall der mutige Genosse, der mit der Waffe in der Hand den Sozialismus verteidigte und uns vor dem imperialistischen Klassenfeind beschützte. Es konnte nichts passieren, wenn man der Grenze nicht zu nahekam.

Das weinende Kind

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[…] gegeben. Erst vor kurzem wollte man mir erneut einreden, dass mich meine Erinnerung trügt und behauptet, es sei hell am Tag gewesen. Das kann überhaupt nicht sein, niemand hätte am Tag einen Fluchtversuch unternommen und ich hätte davon nichts mitbekommen, denn tagsüber war ich im Kindergarten.

Ein Ehepaar verschwindet

Meine Oma war, wie schon erwähnt, manchmal dienstlich unterwegs. Da sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war, die damals noch seltener als heute fuhren, war sie oft den ganzen Tag weg. Es gab auch verschiedene Kuraufenthalte an der Ostsee, von ihr heiß geliebt, Urlaub hat sie so gut wie nie gemacht. Ich habe sie dann schmerzlich vermisst. Trost war mir dann ein junges Ehepaar, das in unser Dorf zog, die Frau war die neue Kollegin meiner Oma. Für mich, ein fünf- bis sechsjähriges Mädchen, war diese Lehrerin der Inbegriff von Eleganz, Klugheit und Liebenswürdigkeit. Zierlich, blond und wie ihr Mann total lieb zu mir. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich bei Ihnen war, wenn meine Oma nicht da war. Ich erinnere mich bei meinen Besuchen an einen schön gedeckten Esstisch und dass ich aus Begeisterung über ihre Fürsorge Dinge gegessen habe, die ich bis dahin nie angerührt hatte. Meine Oma hat mir nur das vorgesetzt, was ich mir wünschte. Es gab z.B. schon mal fünf Tage hintereinander Suppe, wohl gemerkt, jeden Tag eine andere. Irgendwann zogen die beiden weg und ich vermisste sie sehr. Es war eine so ganz andere familiäre Zuwendung als die, die ich von meiner Oma erfuhr. Bei ihr war klar, ich liebte sie und sie liebte mich. Es gab noch andere Enkel, die hatte sie auch sehr lieb, da war ich aber nie eifersüchtig. Die kamen halt zu Besuch, am Abend oder spätestens nach einem Wochenende waren sie wieder weg. Keiner machte mir meine Privilegien streitig, z.B. am Morgen in das Bett meiner Oma zu krabbeln, wo sie mir aus einer wunderschönen Märchenausgabe der Gebrüder Grimm vorlas. Nur die plattdeutschen Geschichten konnte meine Oma mir nicht vorlesen. Das konnte erst mein Zweiter, aus Norddeutschland stammender Mann nachholen, denn das Buch habe ich heute noch. Aber was war das mit dem Ehepaar H.? Sie mochten Kinder, ich glaube, sie hatten später zwei Jungs, und ich war vermutlich schrecklich anhänglich und habe mich immer superartig benommen. Außerdem mochten sie meine Oma und wollten ihr gerne helfen. Sie haben tolle Brettspiele mit mir gespielt, gebastelt und ganz "erwachsen" mit mir geredet. Ich kann es gar nicht mehr so genau beschreiben. Es gibt noch ein Foto, da machen Leute aus dem Dorf einen Ausflug, ich bin mit meiner Oma auch dabei. Ich gehe ganz stolz an der Hand von Frau H., sie beugt sich fürsorglich zu mir runter und ihr Mann, der hinter uns läuft, lächelt uns an. Es ist ein Schnappschuss, nicht gestellt, aber er beschreibt sehr gut, wie ich mich mit ihnen gefühlt habe. Weil ich sie so vermisste, hat meine Oma es auf sich genommen, mit Bus und Zug zu fahren und sie zu besuchen. Dann war plötzlich Schluss, wieder das alte Spiel, Fragen unerwünscht. Aus der heutigen Sicht für mich nicht mehr nachvollziehbar, denn bohrende Fragen wären das Mindeste. Tja, auch hier gibt es für mich keine Auflösung. Nach 1989 habe ich nur bruchstückhaft etwas erfahren. Frau H. hat wohl weiter als Lehrerin gearbeitet, ihr Mann an einer Universität und sie haben versucht, in die Bundesrepublik zu fliehen. Seine Flucht über die Türkei ist angeblich gelungen, ihre nicht und endete im Gefängnis. Die Kinder kamen zu den Großeltern oder in ein Heim. Ob das alles stimmt, was davon stimmt, ob es eine Familienzusammenführung gab, einen Häftlingsfreikauf oder, oder oder.... Ich wüsste es sehr gerne. Auch, um den Kindern etwas über ihre Eltern zu erzählen, wenn sie es wissen möchten. Die Kinder sind jetzt sicher so um die 50 Jahre alt und ich würde gerne mit ihnen reden und ihnen aus der Zeit erzählen, wie ihre Eltern zu meiner schönen Kindheit beigetragen haben.

Dann kam ich in die Schule. Im ersten Schuljahr hatte ich tatsächlich bei meiner Oma Unterricht, das war keine gute Lösung. Ich musste den Mitschülern beweisen, dass ich keine artige Streberin war und ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass mir meine gutmütige Oma im Unterricht den Tafellappen an den Kopf geworfen hat, womit ich mir das konkret verdient habe, weiß ich nicht. Verdient habe ich es bestimmt. Dann wurde die Dorfschule aufgelöst, vermutlich zog deshalb auch das Ehepaar H. weg und wir mussten im Nachbarort zur Schule gehen, das war nicht so schlimm. Was ein förmlicher Schock war, war unser neuer Klassenlehrer. Er, seinen Namen weiß ich natürlich heute noch, war ein prügelnder Sadist. In der Schulzeit verprügelte er Schüle, nach dem Unterricht seine Frau. Besonders hatte er es auf leistungsschwache Schüler abgesehen, die wurden kurzerhand mit dem Gesicht gegen die Schultafel geknallt, vermutlich, um dadurch besser rechnen zu können, bekamen den schweren Schlüsselbund ins Gesicht gedroschen oder mit dem Zeigestock eins übergezogen. Dabei rauchte er während des Unterrichts widerlich stinkende Zigarren. Der einzig schöne Moment meiner Schulzeit bei ihm war der Tag, als er wie immer seinen brennenden Zigarrenstumpen aus dem Fenster warf, aber das Dach seines Gartenschuppens traf, er wohnte wie damals üblich, mit seiner Frau in der Schule und hat damit den Schuppen komplett abgefackelt. Wir Schüler haben den Rauch bemerkt, er nicht, weil er weggegangen war und wir, wie befohlen, artig sitzen geblieben sind und uns diebisch über seine Brandstiftung gefreut haben. Vor einigen Wochen hatten wir ein Treffen unserer Grundschulklasse und alle haben sich an viele Schauder- und Leidensgeschichten erinnert. Wir haben uns auch wiederholt gefragt, warum uns niemand gegen diesen Tyrannen geholfen hat, berichtet haben wir alles zu Hause und die Prügelspuren waren ja durchaus zu sehen.

Geheimnisse um eine Pelzmütze

Nach der zehnten Klasse machte ich Beruf mit Abitur und musste zum Studium meine Thüringer Berge und somit auch meine Oma verlassen. Ich landete in der, wie ich fand, fürchterlich schmutzigen Stadt Halle an der Saale. Was für mich noch viel schlimmer war, unser Wohnheim war in Halle Neustadt-ein schmaler Plattenbau, deshalb „Scheibe" genannt. In einer Scheibe hausten mehr Studenten, als es Einwohner in meinem Dorf gab. Natürlich jammere ich jetzt auf hohem Niveau. Wir waren mit dieser Unterkunft noch privilegiert. Es gab auch Studentenbaracken am Weinberg, wirkliche Baracken, zugig und heruntergekommen. Wir hatten für 10 DDR-Mark pro Student im Monat ein Bett in einer Wohneinheit, die bestand aus zwei Zwei-Bettzimmern und zwei Sechsbettzimmern, zusammen hatten wir eine Toilette, eine Dusche, zwei Waschbecken. Die Gemeinschaftsküche war auf dem Flur für alle Studenten dieser Etage, die Ofen total verdreckt, die Kühlschränke mit Innenleben. Es war für mich keine schöne Zeit, obwohl ich das Glück hatte, mit meinem ersten Mann ein Zweitbettzimmer in der Wohneinheit zu bekommen. Man ist von allen Seiten überwacht und bespitzelt worden. Das ist jetzt keine Empfindung von mir, ein kleiner Kern Gleichgesinnter aus der Studiengruppe trifft sich bis heute und wir haben genügend Beweise, dass es so war und kennen in vielen Fällen die Namen dieser Typen.

Wie überall in der DDR gab es zu wenig Gaststätten, das war auch in Halle-Neustadt der Fall. Ein Glück, dass im Sockel unserer Scheibe eine kleine Kneipe war, zwar mit minimalen Speisenangeboten, jeder gelernte DDR-Insasse kennt noch das Kürzel "H.W.N." hinter fast jedem Gericht auf der Speisekarte, aber Alkohol gab es genügend. In der Prüfungsphase am Ende des Semesters, es war Januar, kalt, dunkel und scheußliches Wetter, wollte ich mir eine Pause bzw. ein Bier in der Kneipe gönnen. Alle Plätze waren besetzt, ich war schon am Weggehen, als mir von einem großen runden Tisch zugewunken wurde. Ein Tisch für zehn Personen, ein Stuhl war noch frei und der wurde mir netterweise angeboten. Ich kannte niemanden, die anderen Leute kannten sich auch nicht, zufällig landeten wir alle an diesem Tisch. Dabei ein Ehepaar, das gerade in der Nähe meines Heimatortes Silvester gefeiert hatte, ein Ort außerhalb des Sperrgebietes. Sie waren begeistert über ihren Urlaub und mochten meinen Dialekt, was eher selten vorkommt, sie aber an eine schöne Zeit erinnerte. Wir haben uns angeregt unterhalten, es war ein schöner Abend und es hat mich sehr gefreut, dass das Ehepaar so eine nette Meinung über meine Heimat, das Essen und die Leute hatte. Da ich aber wieder an die Arbeit musste, habe ich mich ziemlich früh von der Runde verabschiedet und bin losgegangen. Kaum draußen, kam ein etwa 35-jährige Mann hinter mir her, der eher ruhig mit am Tisch gesessen hatte und nur wenig über seine Arbeit an der BAM (Baikal-Amur-Magistrale) erzählte, obwohl wir alle sehr interessiert waren. Er fragte mich, wo es zur S-Bahn geht, was mir ziemlich dämlich vorkam, weil man die S-Bahn von unserer Scheibe aus sehen konnte. Er bat mich, ein Stück mitzukommen. Irgendwie wirkte er auf mich komisch, nicht bedrohlich, sondern eher bedrückt. Ich bin dann, weil ich sowieso noch eine Zigarette rauchen wollte, mit in Richtung S-Bahn gegangen. Dann sahen wir die einfahrende S-Bahn kommen, ich habe mich verabschiedet und bin umgedreht. Verblüffender Weise hat er mir seine Pelzmütze, eine Tschapka, aufgesetzt und gesagt, ich solle beim Rückweg nicht frieren. Das war seltsam bei einem Rückweg von kaum fünf Minuten. Mein Einwand, dass wir uns ja überhaupt nicht kennen und wie er wieder an seine Pelzmütze kommen wolle, meinte er nur, wenn er die Mütze wieder brauche, käme er in der Kneipe vorbei würde mi dann dort eine Nachricht hinterlassen. Dann rannte er zur S-Bahn. Das war ein Samstagabend.

Am Montag saß ich in einer Vorlesung, als eine angebliche Sekretärin hereinkam, mich aus der Vorlesung holte und in das Uni-Sekretariat bringen wollte. Das stimmte nicht, sondern sie brachte mich zu einem ganz anderen Raum. Dort warteten zwei Herren, die sich nicht vorstellten, sondern sofort Fragen zu dem Abend in der Kneipe stellten. Ich sollte alle Leute namentlich nennen, die dabei waren, was ich nicht konnte. Dann sollte ich die Leute beschreiben, das fand ich mehr als seltsam und ich versuchte, so allgemein wie möglich zu bleiben. Als Nächstes sollte ich wiedergeben, worüber wir geredet haben, das wollte ich das natürlich nicht und habe erst einmal gefragt, mit wem ich es überhaupt zu tun habe und was das Ganze soll. Die zwei Herren waren jetzt sehr ungehalten und haben mich angeblafft, sie wären von MdI (Ministerium des Innern). Welche Überraschung, so etwas hatte ich schon erwartet. Ihre Fragen und ihr Umgangston haben mich ziemlich eingeschüchtert. Im Glauben, die Geschichte mit der Urlaubserinnerung des Ehepaares wäre unverfänglich, habe ich darüber geredet. Das war offensichtlich nicht das, was sie hören wollten und sie erkundigten sich dann dezidiert nach einem Mann mit Pelzmütze. Da wurde mir buchstäblich schlecht vor Schreck und ich habe gesagt, soweit die Wahrheit, dass er noch am Tisch saß, als ich gegangen bin. Den Rest habe ich weggelassen. Nachdem ich gehen durfte, bin ich sofort in das Wohnheim gefahren. Auf der Heimfahrt haben mir die Beine gezittert. Die beiden Herren waren mit ihrem Auftreten überzeugend gewesen. Im Zimmer habe ich die Mütze genommen und sie mir genauer angesehen. Unter dem Futter im Innern spürte ich einen kleinen Gegenstand. Nach Öffnung der Naht hatte ich eine kleine Kapsel, vermutlich einen Mikrofilm, in der Hand. Ich kam mir nicht wie im Krimi vor, ich war nicht neugierig, ich fand es nicht spannend, ich hatte nur richtig Angst. Ich habe das Ding zurück in das Mützenfutter gesteckt und habe die Pelzmütze in den Müllschacht, den es auf jeder Etage gab, hineingeworfen. Dass das die richtige Reaktion war, war mir nach ein paar Tagen klar, als gemunkelt wurde, an der S-Bahn sei ein Toter gefunden worden. In der DDR gab es, das war die offizielle Lesart, natürlich keine Kapitalverbrechen. Allerdings konnte man bei solchen Gerüchten nie sicher sein, ob sie stimmen oder nicht. In der Kneipe hat sich, meines Wissens, nie jemand nach mir erkundigt und ich war oft da. Vom MdI oder Polizei bin ich nicht noch einmal befragt worden. Den Mann habe ich nie mehr gesehen.

Diese Geschichte wird sich wohl nicht aufklären lassen und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt möchte. Die Herren vom MdI hatten mir ziemlich deutlich ans Herz gelegt, mit niemanden über diese Geschichte zu sprechen, daran habe ich mich tatsächlich bis nach 1989 gehalten.

Aufgewachsen in der DDR– Angekommen in der Demokratie

Menschen, die in der Demokratie aufgewachsen sind, fragen häufig, wie man sich mit so einem Leben abfinden konnte, oder konfrontieren einen eher mitleidig mit den Worten: „Ich weiß ja auch nicht, wie ich mich in der DDR verhalten hätte". Für mich gilt mein Leben in der DDR, weil ich nichts Anderes kannte, weitgehend als normal. Zudem bin ich privilegiert aufgewachsen und hatte eine schöne Kindheit. Die Welt derer, die weniger Glück hatten, lernte ich erst nach 1989 kennen, was dazu führte, dass meine Träume von einer Reformierbarkeit der DDR und irgendwelchen „Dritten Wegen" zerstoben und ich eine durchaus harte Landung in der für mich neuen Realität zu verkraften hatte. Aber inzwischen zähle ich Menschen zu lieben Bekannten, sogar engen Freunden, die aus politischen, oder unpolitischen, denn das definierte die SED, Gründen verhaftet wurden. Ihre Gesundheit, Ehen, Beziehungen zu Kindern, letztlich ihr ganzes Leben wurde von der Diktatur zerstört. Mir ist unbegreiflich, dass es heute immer Auseinandersetzungen darüber gibt, ob ein Land ohne Gewaltenteilung., freie Presse, freie Meinungsäußerung, freien demokratischen Wahlen eine Diktatur war oder nicht. Oft wird vorgebracht: "Ich hatte aber ein schönes Leben", ja das hatte ich auch, aber eben in einer Diktatur. Warum ist es Vielen nicht möglich, zwischen System- und Lebensgeschichte unterscheiden? Diese Diskussionen belegen, dass demokratisches Denken in vielen Fällen nicht angekommen ist, die Demokratie nicht wertgeschätzt wird. Anders formuliert, es wird vermutlich leider noch länger dauern, dass die in der ehemaligen DDR als Staatsform etablierte Demokratie auch als Lebensform akzeptiert wird. Mit ein Grund, den verstärkten Aufstieg der AfD in der ehemaligen DDR zu erklären, wobei auch im Westen die populistische Bauernfängerei nicht ohne Erfolg ist. Wobei das durchaus nicht geheime Wahlprogramm dieser Partei weder in Ost wie West niemand wirklich zur Kenntnis genommen hat. In Thüringen scheint es die Wählerklientel nicht zu stören, dass eine Führungskraft der AfD als Faschist tituliert werden darf, was auch schlichteren Gemütern zeigen könnte, wo die Reise hingehen soll. Erklärungsversuche sprechen von Wutbürgern und von Protestwahlverhalten ist die Rede. Kann nur heißen: Wut auf und Protest gegen demokratische Institutionen und Politiker? Oft ist ein Satz zu hören: „Das erinnert mich an 1989, die da oben werden sich noch wundern". Nein, es erinnert nicht an 1989, da sind keine Politiker angegriffen, geschlagen und bedrängt worden, sondern es erinnert mit der Verrohung der Sprache, zunehmender Aggressivität und Brutalität eher an 1933. Es sind nicht nur Dumme, die mit ihrem DDR-Weltbild Staat mit Staat gleichsetzen und meinen, man müsse sich wie in der DDR gegen die Obrigkeit wehren, es scheint, dass sich bei Vielen das dichotomische Weltbild erhalten hat, was häufig zur Folge hat, grundsätzlich staatliche Institutionen als feindlich anzusehen.

Für mein Leben war der 9. November 1989 ein großes Geschenk, ich lebe seitdem in der Demokratie. Allerdings habe ich mir nicht träumen lassen, dass ausgerechnet diejenigen, die mit mir in der Diktatur leben mussten, nun verstärkt daran arbeiten, die Demokratie wieder abzuschaffen. Daher werde ich nicht müde, mich politisch zu engagieren und ich denke, dass es besonders wichtig ist, jungen Leuten klar zu machen, dass es sich lohnt, über die zweite deutsche Diktatur in einem Jahrhundert zu sprechen, die zarte Pflanze der Demokratie in Deutschland und auch zunehmend in Europa zu schützen und zu verteidigen.