S., ein Kind der Republik

von Freya Klier

 

 

S. wurde 1949 geboren. Er ist also ein Kind der Republik, gehört zu den Küken der Aufbauzeit, der Hätschelgeneration von Ulbricht und Pieck.
Doch gehätschelt wird nur, wer im Kollektiv aufblüht und seinen Timur-Auftrag mit Pioniereifer erfüllt. S. geht weder im Kollektiv auf, noch zeigt er Pioniereifer, er gilt als Quertreiber.
Bereits im Kinderheim, in das er – vierjährig – vorübergehend eingewiesen wird, zeigt er sich bockig und muss schärfer an die Kandare genommen werden als andere Kinder.
Der Schulanfang ist ein Einschnitt, der ihm die Chance bietet, sich nun neu einzuordnen und zielstrebig zu lernen. S. nutzt seine Chance nicht. Er gilt während der gesamten Schulzeit als zwar begabtes, aber äußerst renitentes Kind, das sich ins Kollektiv nicht einfügen will, ins Klassen-, Hort- und Pionierkollektiv.
Die Lehrer kämpfen auch um S., nach der Parole: Wir lassen keinen zurück. Doch S. bleibt ein Fläz, eine harte Nuss.
Während der 8. Klasse wird er aus dem aufgeheizten Dresdener Klima herausgenommen und probeweise zu Verwandten ins Erzgebirge verschickt. Dort geht es schlagartig bergauf mit ihm: S. gilt bald als umgänglich, er spielt Klavier, hat eine erste Freundin. Der »feste Klassenstandpunkt« fehlt ihm, doch der spielt in diesem Gebirgsdorf kaum eine Rolle: So unmittelbar nach dem Mauerbau ist das Ulbrichtsche Erziehungsprogramm in seiner Schärfe noch längst nicht in jeden Bergwinkel des Landes vorgedrungen. Hier, im Erzgebirge, geht es wesentlich kampfloser zu als in der Bezirksstadt, hier läuft man Ski oder tobt durch den Wald. S. hat Pech, der Abstecher findet ein jähes Ende. Sein Onkel – ein Apotheker, der ihn aufgenommen hatte – gerät in eine Bedrängnis, die ihn und seine Dorfapotheke abrupt aus ihrem Baldrian-Dasein reißt: Eines Tages bemerkt er, dass im Giftschrank kleinere Mengen eines Opiates fehlen. Das Verschwinden bleibt keine Einzelerscheinung, doch er vermag das Geheimnis nicht zu lüften.
Das lüftet bald darauf die Kripo: Überführt wird eine Apothekenhelferin, die sich fleißig aus dem Giftschrank bedient hatte und mittlerweile rauschgiftsüchtig war. Diesen Vorfall verkraftet der Mann nicht; im Bewusstsein, menschlich und als Vorgesetzter versagt zu haben, schluckt er wenige Tage nach der Enthüllung eine Überdosis Atropin.
S. muss also seinen Koffer packen, es geht nach Dresden zurück. Und dort bricht die alte Renitenz wieder aus. Er schwänzt Schule und später die Tischlerlehre, veranstaltet mit seinem Freund in einem Keller hochbrisante chemische Experimente. Und bald hat auch die Staatsmacht ein Auge auf ihn, der weder zur FDJ- Veranstaltung noch zum Wohngebietsfest geht, sondern sich mit anderen Jugendlichen „zusammenrottet“, bei denen offenbar das „Jugendkommuniqué“ der Partei auch nicht greift.
Sie sind harmlos. Sie klauen nicht, überfallen keinen und schmieden keine Pläne zum Umsturz des Staates. Doch sie stehen in zuchtloser Gruppe an der Ecke herum – Beat-Texte tauschend, blödelnd und rauchend –, gelten also als das, was es Mitte der 60er Jahre nur beim Klassenfeind noch gibt: als Bande.
Und sie gehen im Sommer auf den Dresdener Fucik-Platz, auf dem alljährlich ein großer Rummel stattfindet. Auch dort stehen sie mehr oder weniger herum, trinken Bier. In einer Zeit, in der die Ordnungshüter auch auf nur Bier trinkende „zusammengerottete Elemente“ panisch reagieren, ist der Konflikt vorprogrammiert. Polizisten weisen die Jugendlichen an, in kleineren Grüppchen zu zwei, drei Mann herumzustehen oder am besten ganz zu verschwinden. Die Aufforderung ist in den Wind gesprochen. Verstärkung wird angefordert. Unter wüster Staatsbeschimpfung einerseits und wüsten Prügeln andererseits wird die „Bande“ zur Strecke gebracht. Hart schlägt die Staatsmacht zu. Denn da die Lust zum Stänkern gegen den Staat auch Mitte der 60er Jahre noch außerordentlich groß ist, muss ein Exempel statuiert, müssen auch potentielle Unruhestifter ein für alle Mal abgeschreckt werden. Ein Rädelsführer ist rasch ermittelt, die Strafen für die beliebte Triade von staatsfeindlicher Hetze, staatsfeindlicher Gruppenbildung und Widerstand gegen die Staatsgewalt fallen drakonisch aus und werden per Presse bekanntgemacht: elf Jahre Knast für den „Rädelsführer“ dann staffelt es sich nach unten. Mit der mildesten Strafe kommt S. davon, da er zum Zeitpunkt der Verhaftung minderjährig war: vier Jahre Zuchthaus.
Die „Revolution“ zertritt ihre Kinder. S. kommt in eine Mecklenburger Haftanstalt; er ist der einzige Sachse in einem Pulk Platt sprechender Krimineller, die Jahre werden für ihn zum Spießrutenlauf, die langen Phasen der Einzelhaft zu Pausen eines programmierten Martyriums. Irgendwann muss er wohl die Sinnlosigkeit begriffen haben, sich in der Haft gegen Unrecht aufzubäumen. Nachdem er sich in die Zahmheit des Schweigens zurückgezogen hat, gilt er als besserungsfähig und darf zur Belohnung nach drei Jahren in eine Berliner Haftanstalt überwechseln, die letzten Monate werden ihm gar erlassen. Doch nach seinem »Erziehungsaufenthalt« klappt die Eingliederung ins DDR-Kollektiv überhaupt nicht mehr. Seelisch schwer angeschlagen, verfällt S. rasch dem Alkohol. Er versäumt, sich zweimal pro Woche zu melden, ihm zugewiesene Arbeiten tritt er oft gar nicht erst an. Stattdessen taucht er bei Freunden unter, verkriecht sich in Nietzsche und die Malerei. Er ist aus der Bahn. Dresdener Maler halten ihn mit Almosen und Spirituosen über Wasser – wenn er betrunken auf ihre Tische springt, um sich wildzutanzen, greifen sie schnell zum Pinsel.
Etwas scheint ihn nach der Haft geradezu magisch anzuziehen: Uniformen. Auf Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen stürzt er auf Polizisten zu, gebärdet sich – Goethe und Nietzsche deklamierend – furios und fordert die Ordnungshüter auf, doch endlich einmal befreiend zu lachen.
Hat er nun Glück, oder erwischt er jeweils den winzigen Funken Mensch in der Uniform? Obwohl sich das Spektakel über Monate wiederholt, wird er nie mehr „zugeführt“ – wenn die Ordnungshüter ihn dann schon in die „Grüne Minna“ verfrachten, liefern sie ihn eher nachsichtig zu Hause ab, brummen ihm allenfalls Ordnungsstrafen auf.
Doch S. überschreitet bald auch bedrohlichere Grenzen. Mit Schlapphut und großem Ohrring zieht er in Abständen vor das Tor der Dresdener Staatssicherheit und stößt wilde Flüche auf die Genossen zum Wachturm hinauf. Auch hier gilt er inzwischen als harmloser Spinner, und so landet er nicht noch einmal hinter dem Stahlgitter verschärfter Erziehung.
Doch er landet in einer anderen Maschinerie: der Nervenheilanstalt.
Auch das ein Bereich, der im Argen liegt. Nach Arnsdorf, einem Nest tief hinter Dresden, werden vor allem fachunkundige Ärzte strafversetzt. Statt Therapien gibt es hier Fixierungen und Elektroschocks. Damit keiner auf den Gedanken kommt, er befände sich im Sanatorium, wird die Arbeitskraft »Irrer« mittels unentgeltlichem Tütenkleben bis zu ihrer endgültigen Arbeitsunfähigkeit genutzt. Auch in Arnsdorf herrscht die große Ruhe. Doch sie wird nicht über die Zelle, sondern über Psychopharmaka erzeugt. Um zu vermeiden, dass im Schlafsaal – in dem 35 seelisch, nervlich oder geistig unterschiedlich aus der Ordnung Geratene zusammengepfercht sind – Panik ausbricht, werden alle Patienten rund um die Uhr mit dämpfenden Präparaten gefüllt.
Beim Anstaltspersonal genießt S. gewisse Sympathien. Mitunter, wenn die Patienten nach dem Tütenkleben in den Fernsehraum geschlossen werden, darf er hinunter in den Kohlenkeller. Dort steht ein halbverrottetes Klavier, dort bewahrt S. auch seine Schätze auf: Zeichenpapier, Rötelstift, den verbotenen Nietzsche. An der täglichen Dosis jedoch kommt auch er nicht vorbei. So schwemmt er auf, lichtet sich sein schwarzes Haar bald zur Halbglatze, behält der Kopf immer weniger, was er soll.
In Arnsdorf verstummt S. völlig. Vollgedröhnt, starrt er eines Tages nur noch vor sich hin. Im Spätherbst 1979 darf er die Anstalt verlassen, er fährt zurück nach Dresden. Lange sucht er nach einem leerstehenden Haus, in dem die Gaszufuhr noch funktioniert. Als er den Gasherd öffnet und seinen Kopf hineinlegt, ist er gerade dreißig Jahre alt. In der staatlichen Presse reißen die Erfolgsmeldungen über „unsere humanistische Erziehung“ nicht ab.

 

 

aus: Freya Klier: „Lüg Vaterland – Erziehung in der DDR“ (Kindler-Verlag, München 1990, S. 136 - 141)