Ich stehe auf dem Postamt in der Warteschlange. Heute ist der 2.1.1979. Lange Reihen ziehen sich durch die Schalterhalle und die Angestellten sind leicht gereizt. Ich habe Zeit und warte geduldig bis ich an der Reihe bin. Ich reiche den Brief über den Tisch, zögerlich, aber doch sehr bestimmt, mein Herz klopft. Die Angestellte schaut hoch und wir lächeln uns für den Bruchteil einer Sekunde kurz an, sie weiß Bescheid, denn mein Brief ist an das Ministerium des Innern gerichtet. Wenn ein DDR-Bürger solch einen Brief aufgibt, dann kann es nur ein Ausreiseantrag sein. Sie heftet, ohne den Auftrag abzuwarten, eine rosa Postkarte daran, den sog. Rückschein. Dieser Schein wird für lange Zeit das einzige Verbindungsglied zwischen Staat und Bürger sein, denn es ist nicht üblich bei den DDR-Behörden derartige Briefe zu bestätigen. Die Poststelle des Ministeriums muss aber die rosa Karte unterschreiben und an den Absender zurückschicken. So weiß man wenigstens, dass der Brief angekommen ist. Diese rosa Karten liegen auf dem Postamt nicht aus, muss sie ausdrücklich verlangen, dazu muss man aber erst mal wissen, dass es sie gibt.
Ab heute wird sich unser ganzes Leben ändern. Wir haben genug von der Politik dieses Staates und wollen uns nicht mehr bevormunden lassen. Wir wollen selbst darüber entscheiden, was gut für uns ist und endlich wie erwachsene Menschen leben und handeln dürfen. Nachdem mein Mann einen Anwerbeversuch der Stasi als IM rigoros abgelehnt hatte, wird er immer wieder mal vorgeladen wegen Nichtigkeiten. Wir fühlen uns kontrolliert und beobachtet. Mich belastet auch der immense Druck in der Firma, dass von mir wie selbstverständlich erwartet wird, dass ich in die SED eintrete und diese ewige Heuchelei. Wie soll man denn da seine Kinder erziehen? Wir hatte sehr jung geheiratet, studiert und zwei Kinder bekommen. Nun ging alles „seinen Gang“, um 6 Uhr zur Arbeit, die Kinder um 7 Uhr zur Schule, wenn man Glück hatte gab es auch mal einen FDGB-Ferienplatz und alle 15 Jahre vielleicht, wenn man Glück und das Geld hatte, einen neuen Trabant. Mehr war nicht zu erwarten, wenn man brav war.
Es hatte Jahre gedauert, bis wir zu diesem Entschluss gefunden hatten. Die Diskussionen im Freundeskreis drehten sich langsam im Kreise, weil man ja doch nichts ändern konnte und so fügten sich alle in das Unvermeidliche. Jeder hatte seine Nische gefunden: im Schrebergarten, in der Werkstatt, auf seinem Balkon, unter seinem Auto. „Privat geht vor Katastrophe“ – war die Devise und ansonsten versuchten alle nur Dienst nach Vorschrift zu machen. Aber das wollten wir nicht mehr! Diese Hoffnungslosigkeit machte uns langsam krank. Wenn man schon hier nichts ändern konnte, dann blieb nur dieser einzige Ausweg: einen Ausreiseantrag stellen! Eine illegale Flucht hatten wir aus Rücksicht auf die Kinder nie erwogen. Wir waren uns darüber klar, dass das Folgende kein Spaziergang werden würde und viele Jahre dauern konnte. Es lag auf der Hand, durch die gemeinsame deutsche Sprache und noch vorhandene familiäre Kontakte, den Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik stellen. Aber was wussten wir denn wirklich über dieses Land? Im sächsischen „Tal der Ahnungslosen", wo es keinen Westempfang gab, war es noch schwieriger sich zu informieren, als andernorts. Zu Besuch aus dem Westen kamen immer nur ältere Verwandte, die selbst nicht mehr im Berufsleben standen und zu diesem Thema nicht viel beitragen konnten. Wir waren beide Anfang 30 und unsere Kinder 8 und 9 Jahre. Wenn wir es machen wollten, dann jetzt, bevor es zu spät wurde. Unsere Freunde lehnten sich im Sessel zurück: „Glaubt Ihr denn, dass Ihr jemals rauskommt?“, eine vielgestellte Frage in den nächsten Jahren, aber wir versuchten Optimismus auszustrahlen, auch wenn uns manchmal nicht so war.
Nun war der Brief aufgegeben und es gab kein Zurück mehr. Wann würde es die Dienststelle meines Mannes erfahren, wann die Schule der Kinder und was würde dann passieren? Lange dauerte es nicht. Die Kinder wurden aus den „Jungen Pionieren“ ausgeschlossen, eine wirkliche Strafe war das aber nicht und mit größeren und kleineren Schikanen versuchte man ihnen das Leben schwer zu machen.
Dann lag eine Vorladung zum Rat des Stadtbezirkes im Briefkasten „Zwecks Klärung eines Sachverhaltes“. Auf dem Tisch lag unser Ausreiseantrag. Eiskalte Freundlichkeit: Der Antrag wäre eingegangen und nun wollte man unsere Gründe erfahren, aber wir wollten nichts begründen. Wir wollten einfach nur raus aus diesem Land, was wir mit unserem Bezug auf die Schlussakte von Helsinki im Antrag für uns ausreichend begründet hatten. Auch die Beteuerungen, dass wir keine Nachteile hätten, wenn wir den Antrag zurücknehmen würden, konnte uns nicht zum Umdenken bewegen. Diesen Antrag würde uns der Staat niemals verzeihen und noch unsere Kinder würden es zu spüren bekommen. Die Angestellte erklärte dann den Antrag für abgelehnt und untersagte eine erneute Antragstellung. Niemals, erklärte sie, würde die Familie die Ausreise erhalten, denn wir hätten beide studiert und den Staat hintergangen. Ich war relativ privilegiert aufgewachsen in der DDR. Mein Vater war Flugversuchsingenieur und mit der „152", dem ersten Strahlturbinenverkehrsflugzeug, dass die DDR selbst entwickelt und gebaut hatte, beim Probeflug 1959 mit noch 3 Besatzungsmitgliedern tödlich abgestürzt. Anschließend wurde der gesamte Flugzeugbau in der DDR eingestellt. Es gab eine winzige Meldung darüber in der Zeitung, ansonsten war es angeraten nicht öffentlich darüber zu sprechen. Eine Erklärung für den Absturz bekamen wir nicht. Trotzdem mein Vater ein sog. Angehöriger der Intelligenz gewesen war, durfte ich dann aber doch, quasi als Wiedergutmachung, das Abitur machen und studieren. Regelmäßig wurden wir nun vorgeladen und verwarnt, aber sie merkten dann doch bald, dass wir es ernst meinten und nicht mit uns zu verhandeln war.
Seit der Antragstellung fühlten wir uns richtig befreit und erleichtert. Wir unternahmen sehr viel mit den Kindern und sahen uns noch einmal ganz bewusst „unsere DDR“ an, wer weiß, ob wir jemals wieder einreisen durften. Mein Mann konnte seine Arbeit behalten, da er einen Einzelarbeitsplatz hatte ohne Publikumsverkehr, ihm wurde allerdings ein „Pate“ zugeteilt, der monatlich über ihn einen Bericht für die Stasi verfassen musste. Hielt er vielleicht große Reden, beeinflusste er andere mit seiner Meinung, erzählte er von seinem Antrag? Aber er tat seine Arbeit wie immer. Er beteiligte sich aber nun nicht mehr an VMI-Einsätzen und er trat aus der Gewerkschaft aus, nahm auch an keinen Brigadeveranstaltungen mehr teil. Wenn politische Veranstaltungen in der Republik stattfanden, bekamen wir jetzt Reiseverbot. Zu groß war die Angst, dass wir uns dort an ausländische Vertreter wenden könnten. Ich hatte meine Arbeitsstelle schon vorher gekündigt und war nun Hausfrau, ein Zustand, der mir bisher fremd war, denn von einem Gehalt konnte man in der DDR nicht leben. Aber wir hatten ja nun keine Wünsche mehr, im Gegenteil, wir versuchten alles zu verkaufen oder verschenken, was nicht zum Allernotwendigsten gehörte. Eine Weile später wurde ich im Haus angesprochen, ob ich krank wäre. Es war doch zu ungewöhnlich, dass ich nicht mehr berufstätig war. Als ich vom Ausreiseantrag erzählte bemerkte ich leichtes Entsetzen und Ungläubigkeit. In Zukunft unterhielt man sich nur noch mit mir allein im Fahrstuhl oder im Waschraum im Keller. Wir suchten den Austausch mit Gleichgesinnten, aber das war gar nicht so einfach. Wem konnte man trauen und wer war nicht vielleicht doch ein IM? Durch Vermittlung und Fürsprache von Freunden gelang doch ein Kontakt zu einer Familie, die schon einige Jahre einen Antrag laufen hatten. Wir konnten dann in der Ausreisezeit wertvolle Erfahrungen und Informationen austauschen und uns gegenseitig Mut zusprechen. Wir hatten beschlossen, so zu tun, als ob wir alles mitnehmen konnten. Auch wenn uns erzählt wurde, dass im Westen halbe Einrichtungen verschenkt oder auf der Straße stehen würden, blieb ich misstrauisch. Die eigenen persönlichen Dinge machten vielleicht das Einleben in einer ungewohnten Umgebung ein bisschen leichter. Wir wussten, von den bereits ausgereisten Freunden, dass es ganz schnell gehen konnte. Sie hatten gar nichts mitnehmen können. Wir wollten es wenigstens versuchen. Inzwischen hatten wir den achten Ausreiseantrag gestellt. War es schon eine „Beeinträchtigung der Tätigkeit der staatlichen Organe“ und hatten wir bei unserer letzten Diskussion auf dem Amt den §106 schon erfüllt, der „Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ unter Strafe stellte? Es war wie eine Gratwanderung, immer mit der Gefahr abzustürzen. Wir hörten von Verhaftungen, von Kindern, die ins Heim kamen. War das alles zu verantworten?
Wir fingen damit an, unsere Wohnungseinrichtung zu verpacken. Nur fertig sein, wenn es losging. Lieber Monate auf gepackten Koffern sitzen, als nur mit der Handtasche und den Kindern losziehen. Bald standen in der ganzen Wohnung mühsam organisierte Koffer, Kisten und Kartons mit Inhaltsverzeichnissen. Alle 1/4 Jahre mussten wir unsere Wertsachen schätzen lassen und wieder dafür bezahlen.
So vergingen zwei Jahre. Inzwischen hatten wir auch unseren „Trabi“ verkauft, ihn aber als Leihgabe noch behalten. Zum Glück glaubte der neue Besitzer an unser Vorhaben.
Dann gab es plötzlich einen Ruck. Eines Tages wurde uns von einem Berliner Rechtsanwalt schriftlich mitgeteilt, dass unser „Fall“ neu bearbeitet würde. Eine Nachfrage, wie er an unsere Adresse gekommen war erübrigte sich. Es schien sich etwas zu bewegen. Wir wurden vorgeladen und mussten erneut einen Ausreiseantrag stellen, ohne politische Polemik und Erwähnung der vorherigen Anträge. Dann bekamen wir einen „Laufzettel", auf dem wir bestätigen lassen mussten, dass wir keinen Grundbesitz in der DDR haben (ich musste auf mein Elternhaus verzichten), keine Schulden oder Kredite, vor allem keine Mietschulden, bestanden. Dann vergingen wieder Wochen. Wir hatten schon einen regelrechten Briefkastentick entwickelt, denn Benachrichtigungen wurden nicht per Post, sondern per Boten eingeworfen und dann möglichst spät abends. Aber das Leben musste ja weitergehen, die Kisten wurden mal aus- und wieder umgepackt, man brauchte mal dies und mal jenes. Dann, Wochen später, erneut Vorladung für morgens 9 Uhr. Vor uns lagen verschiedene Blätter ausgebreitet und die Dame, die immer betont hatte, dass wir nie rauskämen, forderte uns auf, alles zu unterschreiben und dann sprach sie den Satz: „Und bis 24 Uhr haben Sie das Land verlassen“. Wir sahen auf die Uhr, es war 9.30 Uhr. Auf die Frage, wie wir das schaffen sollten, wurde nur zynisch bemerkt: Das ist ihr Problem, wenn Sie es nicht schaffen, dann verfällt alles und sie können wieder von vorn anfangen". Und wieder gab es einen „Laufzettel“. Dieses Mal für die Polizei, wo wir den Ausweis abgeben mussten und eine Identitätsbescheinigung dafür erhielten, die aber nur einen Tag Gültigkeit hatte, wir waren jetzt staatenlos. Ohne diese Bescheinigung bekamen wir keine Fahrkarten gekauft. Ohne Fahrkarten konnten wir kein Reisegepäck aufgeben. Und überall musste man ewig anstehen. Mein Mann musste sich beim Wehrkreiskommando abmelden, zu den Stadtwerken, zur Wohnungsgenossenschaft, das Konto auflösen, das letzte Geld ausgeben, denn es war untersagt DDR-Geld auszuführen, die Eltern benachrichtigen und erst mal die Kinder aus der Schule holen. Zeugnisse bekamen wir nicht ausgehändigt, denn „das sind Dokumente der DDR“. Dann das Reisegepäck am Bahnhof aufgeben. Wir hatten dann nur noch unser Handgepäck, da waren alle für uns wichtigen Sachen drin, auf die wir ungern verzichtet hätten, wie Fotoalben, Bücher und Erinnerungsstücke. Im Reisegepäck war ein kleiner Haushalt verpackt und zu Hause wurden die restlichen Kisten verschlossen, die Möbel auseinandergenommen Listen hinterlegt, für 3 Monate die Miete noch gezahlt und einer guten Freundin alle Vollmachten erteilt und Geld für einen eventuellen Umzug hinterlassen. Ob wir die Sachen je wiedersehen würden? Und wohin ließ man sie dann überhaupt schicken? Am Schluss noch den neuen Autobesitzer unseres „Trabis“ benachrichtigen, dass es nun soweit war. Irgendwie saßen wir dann gegen 23 Uhr im letzten Zug, mit flauem Gefühl im Magen. Über die Grenze schafften wir es nicht bis 24 Uhr. Ob sie uns zurückschicken konnten? Mein Mann blieb optimistisch: "Wir sind hier ausgemustert, die nehmen uns nicht wieder zurück. Sicher war ich mir da nicht. Auf dem Bahnhof waren die besten Freunde, die Eltern und Geschwister gekommen. Würden wir uns jemals wiedersehen?
Erst eine Weile nach dem Grenzübergang, als in den Morgenstunden am Zugfenster eine ganz andere Welt vorüberzog, wurde uns klar, dass wir es geschafft hatten. Als wir dann auf dem Bahnhof in Gießen ankamen und unsere Tochter mit Blick auf den Obststand fragte: „Ist das hier alles aus Plastik“, da mussten wir doch alle unter Tränen lachen. Jetzt konnte es noch vorwärts gehen. Es war vielleicht gut so, dass wir noch gar nicht wissen konnten, welche Probleme auch in Zukunft noch auf uns zukommen würden...