Ich habe Eberhard verraten

von Stephan Krawczyk

 

Was wurde 1986 auf der Westseite der Berliner Mauer mit Entsetzen aufgenommen, während man der Sache auf der Ostseite mehr als gelassen begegnete? Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Im Osten tat man so, als wäre das, was unwiderruflich geschehen ist, nicht der Rede wert. Als könne die Radioaktivität des Großen Bruders, der großen roten Sowjetunion, dem kleinen Bruder, der kleinen roten DDR, nichts anhaben.

Auf meinen Fahrten durch die DDR hielt ich eines Mittags im Mai '86 an der Autobahnraststätte Wilsdruff und studierte die Speisekarte, was in der DDR wenig Zeit beanspruchte. Ein Gericht musste ich zweimal lesen: Elchfleisch mit Krautsalat und Sättigungsbeilage. Die Ganoven! Da will Finnland die verstrahlten Elche loswerden, und das Politbüro kann seiner Bevölkerung endlich mal Elchfleisch auf die Speisekarte schreiben – Stoff für die Runde im Stammlokal. Meine Empörung fand allerdings nicht den Widerhall, der der Sache angemessen gewesen wäre. Eberhard, der Älteste in der Runde, Anfang sechzig, seines Zeichens Wohnbezirksvorsitzender, ein weißhaariger Mann mit Schalk in den Augen, der bei Leuten in derart gesellschaftsrelevanter Funktion selten ist, sagte nur: "Ja, da haben wir was verpasst." Auf meine Frage, wie er das meine, deutete er mit dem Kopf zum Nachbartisch, wo wie immer die Jungs von der Firma saßen, die Berichte abliefern mussten, um ihre Zeche erstattet zu bekommen. Auf dem kurzen Stück gemeinsamen Heimwegs sagte Eberhard mit gedämpfter Stimme, dass er am Institut für Strahlenschutz arbeite. Ich nickte anerkennend, enthielt mich aber des Kommentars. So gut kannten wir uns noch nicht, dass ich ihn zu dem heiklen Thema befragt hätte.

Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Sitzlack war der Präsident des Staatlichen Amtes für Atomare Sicherheit und Strahlenschutz der DDR. Wenn einer für die Schlamperei im Umgang mit Radioaktivität verantwortlich war, dann Sitzlack. War er aber verantwortlich, musste er auch zur Verantwortung gezogen werden. Einen Präsidenten zur Verantwortung zu ziehen, fällt selbst in der Demokratie schwer, in der Diktatur war es ein Ding der Unmöglichkeit – und wenn jemand zur Verantwortung zog, dann nur die Partei, das Politbüro. Es ist anzunehmen, dass Sitzlack niemals gegen den Willen des Politbüros handelte. Sonst wäre er nicht Präsident gewesen.

Es sollte kein Problem sein, einen in Berlin, Hauptstadt der DDR, akkreditierten West-Journalisten für die Sache zu gewinnen. Seit meinem Berufsverbot 1985 hatte ich zu Journalisten aus dem Westen guten Kontakt, weiß aber leider nicht mehr, bei wem aus der Zunft ich in diesem Falle nachfragte: Börner vom NDR oder Pragal vom Stern oder Schwarz vom Spiegel, Rein vom EPD ...? Wir gingen spazieren. Natürlich war das eine Story, die alle, egal von welchem Medium, liebend gern gemacht hätten, aber die Beweise? Wo seien die Zahlen, die Messergebnisse: Hier die Grenzwerte, da die gemessenen Werte, Zahl gegen Zahl. Ohne konkrete Zahlen bliebe es bei der Behauptung, worauf sich ein seriöses Blatt nicht einließe.

Eine Kindheit ohne den Geruch nach Uranerzstaub kann ich mir nicht vorstellen. Die Wismut-Kumpels brachten das verdreckte Grubenholz stillgelegter Stollen zu Matzeln zersägt mit nach Hause. Die Matzeln meines Vaters rutschten vom Lastwagen durch die Luke in den Keller, wo ich sie zu ofengerechten Scheiten zerhackte. Später gab ich damit an, auf Grund dessen gegen Radioaktivität immun zu sein.
Doch nun hatte ich meinem damals vierjährigen Erstgeborenen den Spielplatz voller spielender Kinder zu versagen, weil er gegen die verstrahlten in Sandkästen nicht immun war. Allerdings wusste ich den Namen des Verantwortlichen, was dem Ohnmachtsgefühl ein Ziel gab. Ich wollte Sitzlack anzeigen. Endlich mal einen für seine Gewissenlosigkeit zur Rechenschaft ziehen. Es sollte den Richtigen treffen: Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Sitzlack, 1926 geboren, vier Jahre vor seinem Namensvetter, meinem Vater, Georg Krawczyk.
Wie verschieden Leben sind. Beide lebten in derselben Zeit, Georg S. lebte ein Vierteljahrhundert länger. Er hatte die Radioaktivität in den Gedanken, mein Vater hatte sie im Leib.

Eberhard war nicht überrascht, als ich bei ihm klingelte. Wir gingen im Prenzlauer Berg spazieren. Für ein offenes Gespräch war frische Luft am sichersten. Eberhards Wohnung konnte verwanzt sein. Meine war es bestimmt – ich hatte nur vierzehn Tage auf ein Telefon gewartet, was gemessen an den üblichen zehn Jahren eine verdächtige Bevorzugung ist. Er kam von sich aus auf die Zahlen:
"Wenn ich das so erzählt hätte, wie das erzählt werden muss, hätten sie mich am Morgen abgeholt."
Ob er die Zahlen besorgen könne?
Eberhard blieb stehen, sah mir in die Augen.
"Ich will den Sitzlack verklagen – wegen Körperverletzung."
Er gab einen Laut von sich, der nach fernem Jagdruf klang.
Natürlich wurde gemessen, das war doch die Gelegenheit für ein Strahlenschutzinstitut. Trotz der hohen Werte wurde nicht gewarnt, das sei von oben nicht gewollt gewesen. "Da wartet man Jahrzehnte, dass man endlich mal vor Strahlung schützen kann, und dann ist es von oben nicht gewollt. Von oben! Die spielen sich auf wie die Götter!"
Nach zwei Wochen trafen wir uns wieder. Er könne die Zahlen aus dem Institut schmuggeln, dürfe aber unter keinen Umständen damit in Verbindung gebracht werden. Ob er sich da auf mich verlassen könne?
Wir legten zwei unterschiedliche Wege fest auf denen jeder allein zum Treffpunkt gelangte – falls sie uns im Visier hätten.
Es war regnerisch und kalt, Schleier hingen in der Luft – wie im Spionagefilm aus den fünfziger Jahren: Agentenaustausch. Eberhard zog ein Kuvert unter dem Pullover hervor, ich schob es unter meinen.
Er sagte: "Heiße Zahlen, ganz heiße Zahlen. Wenn die rauskriegen, von wem die sind!"
Ich konnte ja nicht sagen: Da passiert schon nichts. Wie sollte ich das wissen. Heute wundere ich mich darüber, dass sich Eberhard überhaupt darauf einließ. Für Geheimnisverrat gab es bis zu zwei Jahre, im günstigsten Fall einen öffentlichen Tadel, was immer das gewesen sein mag. Er wisse, worauf er sich einlasse, aber es ginge einfach nicht, dass man Werte aufstelle und dann so tue, als wäre nichts, wenn die dann überschritten wurden. Er sei sich noch nie so nutzlos vorgekommen, und seine Arbeitsstelle habe bei ihm stark an Ansehen verloren. Die Wissenschaft sei von Ideologie gekapert! Dann könnten sie doch gleich das Messen verbieten.
Zu Hause zog ich die Vorhänge zu, steckte das Kuvert in die Hülle einer Langspielplatte mit Charles Mingus und schob sie in die Plattensammlung.

Die Sache stockte. Zwar hatte ich die Zahlen, doch die Westjournalisten waren zurückhaltend, als wollten sie nichts aufrühren, was sich endlich abgesetzt hat. Ohne die Medien im Rücken verliefe die Anzeige im Sande. Mittlerweile war Spätherbst 1987. An die Katastrophe vom vergangenen Jahr erinnerte man sich nicht gern.

Dass sich mit den Zahlen nichts tat, schien Eberhard recht zu sein. Wenn nichts damit passierte, gab es auch die Gefahr nicht, entdeckt zu werden. Zweifel darüber, ob es richtig gewesen sei, die Zahlen herauszugeben, waren ihm vertraut. Wir sahen uns zuletzt im Stammlokal, eine Woche vor meiner Verhaftung. Er hatte wie immer, wenn er hierherkam, blendende Laune, gratulierte mir zum Geburtstag, der schon anderthalb Wochen zurücklag und wünschte mir alles, alles Gute, wobei er mich ernst ansah wie damals, als ich ihn nach den Zahlen fragte. Einem guten Beobachter wäre aufgefallen, dass wir ein Geheimnis teilen. Doch gute Beobachter waren bei den Jungs von der Firma selten. Und in der Runde wurde grad darüber gemutmaßt, ob es sinnvoll sei, am nächsten Sonntag zur Luxemburg-Demo zu gehen. Luxemburgs Warnung vor der Verbonzung des sozialistischen Staates, vor der Gewalt, die ein solches System imstande sei, auf Andersdenkende auszuüben, hatte ich schon oft während meiner Konzerte vorgelesen. Es wäre angemessen, Rosa Luxemburg nicht von der Politkaste vereinnahmen zu lassen. Außerdem sah ich darin eine gute Gelegenheit, auf mein Berufsverbot aufmerksam zu machen. Im Meer aus roten Fahnen wollte ich vor der Tribüne ein Tuch an Stativstangen hochhalten, worauf mit schwarzer Farbe geschrieben stand: "Gegen Berufsverbot in der DDR".
Andere, welche auf ihr Recht, ausreisen zu dürfen, hinweisen wollten, versorgte ich mit dem Luxemburg-Zitat: "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden". Das rauschte nach dem 17. Januar 1988 durch den westlichen Blätterwald als Fanal von etwas, das sich im Land zu bewegen begann.

Dreihundert Meter von meinem Bett entfernt, an einer Straßenecke im Prenzlauer Berg, nahmen mich früh um acht zwei große Kerle in ihre Mitte.
"Sind Sie Stephan Krawczyk?"
"Nein."
"Sie sind Stephan Krawczyk!"
Da ich keinen Ausweis dabeihatte, und es mir nicht zu beweisen war, packten sie mich an den Oberarmen, drängten mich zu einem PKW, hielten mir als Zeichen, dass sie mich übernommen hatten, beim Einsteigen die Hand über den Kopf. Vom Staat aufgepickt. Ich hatte den Schutzraum der Kirche verlassen, wollte auf seinem, auf Staatsgebiet staatsfeindliche Parolen verbreiten. Blitzschnell hatte sich die Situation verändert. Freiheit war auf keinen Fall die Freiheit der Andersdenkenden, denn wer anders dachte, dachte falsch. Wieso sollte der frei sein? Ab in den Knast, wobei "Knast" nur gesagt wurde, wenn es um Kriminelle ging. Bei Politischen blieb es das Gefängnis. Im Keller des Rummelsburger Gefängnisses waren siebzig Leute versammelt, die auch aufgepickt worden waren – allerdings bei der Demo. Dort hatten sich, wie ich später in einem Dokumentarfilm sah, tumultartige Szenen abgespielt. Das ZDF-Team mit Börner als Redakteur wurde eingekesselt und bedrängt.

Der Höhepunkt meiner Laufbahn in der DDR war nicht der Ministerpreis zu den Chansontagen in Frankfurt / Oder 1981, und auch nicht das Konzert in der Samariterkirche 1987 vor zweitausend Leuten, sondern der Chorgesang des Refrains meines Liedes "Frag doch mal 'n Polizist / was 'n Polizeistaat ist / und zur Antwort kriegste dann / alle scheißen alle an." Ich schmetterte die Strophen und siebzig Kehlen stimmten in den schnell gelernten Refrain ein. Die Gefängniswärter hätten schießen müssen, um uns zur Ruhe zu bringen, zumal wir den letzten Refrain wiederholten und wiederholten. Mit den Schlüsseln schlugen sie gegen die Gitterstäbe, zwar nicht im richtigen Rhythmus, aber immerhin. Eine Viertelstunde später schrie ich vor Schmerzen im Abführgriff und war für Sekunden nur Angst. Kaum in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit Hohenschönhausen angekommen, verlangte ich, dass mein Handgelenk geröntgt werde, was man mir gewährte – für mich ein Zeichen dafür, dass keine weiteren körperlichen Schmerzen drohten – eine Beruhigung. Beunruhigend hingegen waren die Zahlen. Nach der Verhaftung gingen sie in die Wohnungen. Hausdurchsuchung. Es hing ganz von der Gewissenhaftigkeit der Hausdurchsuchenden ab, ob die Zahlen gefunden würden. Und wenn – nichts auf
den Blättern im Kuvert deutete auf Eberhard hin. Dass er im Institut für Strahlenschutz arbeitete, wusste die Firma ganz sicher. Und unsere Bekanntschaft haben sie auch mitgekriegt. Beim ersten Verhör am darauffolgenden Vormittag verlangte ich, einen Anwalt zu sprechen. Welchen Anwalt?
Den Vogel.
Der Mann hinterm Schreibtisch fragte verwundert: "Den Vogel?"
Ja, den Vogel. Er war mir sympathischer als der Schnur. Es gab nur zwei Anwälte, denen wir einen freien Willen zutrauten. Von Vogels Eleganz und seinem goldenen Mercedes mag meine Wahl nicht unbeeinflusst gewesen sein. Türen gingen auf und zu. Der Vernehmer wurde ausgetauscht. Ich hatte das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.
"Sie haben sich also entschlossen, auszureisen?"
"Wie kommen sie denn darauf?"
"Der Vogel macht nur Ausreise."
Das wusste ich nicht. Es war, als wollten sie mich gar nicht so schnell loswerden. Ich entschied mich also für Schnur.

Im Verhör wurde nicht nach den Zahlen gefragt. Ich musste davon ausgehen, dass sie noch unentdeckt waren. Am dritten Tag nach der Verhaftung hatte ich endlich den sogenannten Anwaltssprecher in Rummelsburg.
Mit Rundumblicken gab mir Schnur zu verstehen, dass wir abgehört würden. Wie er auf das Selbstverständliche umständlich hinwies, hätte ihn mir eigentlich verdächtig machen müssen. Aber wir kannten uns schon von draußen, und es gab eine gewisse Vertrautheit, die im Gefängnis willkommen ist. Ich kam nicht auf den Gedanken, dass mein Anwalt ein hochrangiger Stasispitzel ist. Und so lieferte ich Eberhard ans Messer, nicht direkt, seinen Namen nannte ich nicht, aber den der Schallplatte, in der das Kuvert mit den Zahlen zu finden sei: Charles Mingus.

Ende der Neunziger sagte mir eine Frau, sie schreibe an einer Forschungsarbeit über eingesperrte Künstler in der DDR, habe alle Akten gelesen und alle hätten irgendjemand verraten Bei mir habe sie nichts gefunden.
Aber es stimmt eben nicht – auch ich habe jemanden verraten, nicht direkt, aber indirekt. Erstens war es leichtfertig, die Zahlen in der Wohnung zu lassen, und zweitens hätte ich Schnur besser kennen müssen, um ihm das Versteck anzuvertrauen. Ich war in Not – was keine Rechtfertigung sein soll.
Anfang der Neunziger zeigte mir Eberhard die Brandmale der peinlichen Befragung – von der Zigarre, die immer wieder angezündet und immer wieder auf seinen Unterarmen ausgedrückt worden war.

Sitzlack hatte das, was man einen Lebensabend nennt. 2006, einundzwanzig Jahre nachdem mein Vater starb, ist er ihm nachgefolgt.