Praktikumsbericht Gerald Schuster

 

Eigentlich habe ich die letzten drei Jahre damit verbracht, Philosophie zu studieren. Mein Interesse galt also dem großen Ganzen, zwischen wünschenswerter Utopie und nackter Realität, dem Sein und dem Sein-Sollen. Dabei waren für mich stets ethische Fragen relevant; Was ist „das" gute Leben, was ist überhaupt gut, und wie soll ich handeln? Wo läuft eventuell etwas schief, wo sind die Gründe dafür zu suchen und was soll man in der Zukunft ändern? So ist mein eigentliches Erkenntnisziel - hier nur sehr verkürzt dargestellt - die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.
Was bringt mich also dazu, ein Praktikum in einem Verein zu absolvieren, der sich die Aufgabe gestellt hat, die Geschichte der Opposition in der DDR aufzuarbeiten? Wieso sollte ich, angesichts meiner visionären Haltung, einige Zeit damit verbringen in Vergangenem zu wühlen?
Nun, mal davon abgesehen, dass das Verstehen der Geschichte ein fundamentaler Bestandteil des Verstehens der Gegenwart und damit auch der Zukunft ist - denn was ist die Zukunft, wenn nicht die Fortsetzung des Jetzt? - so interessiert mich doch besonders die Beeinflussung des Bewusstseins durch totalitäre Ideologie, wie es im Alltag der DDR, die sich als sozialistisch verstand, der Fall war. Philosophisch, besonders durch Michel Foucault und G. W. F. Hegel geschult, interessiert mich, wie Bewusstsein im Allgemeinen geschaffen wird und welcher (subtil-disziplinierenden) Mechanismen es bedarf, dieses aufrechtzuerhalten. Dabei ist die Anfälligkeit des Geistes für vielversprechende Formen der Ideologie eine immer wiederkehrende historische Tatsache. Im Zusammenhang mit dem „real existierenden" Sozialismus, in der Zeit sowjetischer Weltherrschaft, spricht man oftmals von einer Lebenslüge, die die Bürger der DDR zumindest in der wohlgeordneten Öffentlichkeit durchlebten. Im offiziell sozialistischen Weltbild war der Begriff der Freiheit mit Repression in Einklang zu bringen. Es war nicht nur eine bestimmte Freiheit, wie etwa die vermeintliche Unabhängigkeit vom Imperialismus westlicher Prägung. In marxistischer Tradition verstand man Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit". Es war jedoch auch völlig klar, dass die Einheitspartei SED diese Notwendigkeit definierte. Punkt. Wer nun dieser Einsicht nicht folgte, war nicht nur im ideologischen Sinne nicht frei, sondern wurde auch unterdrückt, eingesperrt, abgeschoben, zersetzt.
Eine Vorstellung, die ich immer wieder höre, ist, dass Menschen, die in totalitären Systemen, wie der DDR aufwuchsen, so sehr von der Staatsideologie indoktriniert waren, dass der Glaube an die Ideologie selbst das Fortbestehen von Tyrannei rechtfertigte. Man wird in ein Weltbild hineingeboren und somit ist Tyrannei eben keine Verletzung der Menschenrechte, sondern das notwendige Mittel zum Zweck, die Geschichte zu vollenden. und das alles war „wissenschaftlich" begründet.
Diese Sichtweise ist mehr als ernüchternd, denn sie lässt den Menschen wie Roboter erscheinen und lässt keinen Raum für ein ungetrübtes Freiheitsverständnis, wie etwa in Form eines existenziellen Bedürfnisses. Jener Strukturalismus ist nicht nur im vulgären common sense zu finden, sondern ist teilweise auch Bestandteil wissenschaftlicher Weltbilder - Beispiel der homo oeconimus, der nur nach Nutzenkalkül lebt und denkt. Die Beschäftigung mit den totalitären Regimen der Vergangenheit hat mir gezeigt, dass gewisse Verständnisse weltanschaulich ausgestaltet werden können, etwa in der Ökonomie - jedoch nicht die Freiheit. Angenommen, dass wir uns nie in einem neutralen ideologiefreien Diskurs befinden, es nie Verhältnisse gibt, die uns ihr Bestehen als eine Notwendigkeit aufbürden, kann die Freiheit in ihrem ursprünglichen Sinn nie in Begriffe verpackt werden, wie Karl Jaspers 1946 in seiner Rede „Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus" verdeutlicht.
Es wäre jedoch kühn, zu behaupten, dass wir in Deutschland nach der Friedlichen Revolution und der weitgehenden Liberalisierung völlig frei von Ideologie und Verblendung wären. Welche Vorstellung von Freiheit haben wir also? Etwa die Freiheit, dass wir reisen können, wohin wir wollen, zwischen einer riesigen Auswahl an Produkten entscheiden können oder unseren Lebensweg völlig unabhängig von institutionellen Zwängen suchen können. Die Postmoderne zeigt auch hier ihre unerwartet bedenklichen Seiten. Durch diese unsere „westlichen" Grundfreiheiten tragen wir auch dazu bei, dass immense Mengen an Treibstoffausstoß die Umwelt und die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen zerstört; dass durch unser Konsumverhalten und die „Regeln" eines freien Weltmarktes - bei uns durch Sparwahn und Discountermärkte repräsentiert - Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben und arbeiten müssen. Letztlich zeigt sich auch im immer häufigeren Auftreten von Burn-Out- und Depressionsstörungen - den Volkskrankheiten der Moderne - dass die Nachfolgegenerationen des Kalten Krieges, auch an der Freiheit zerbrechen können. Diese Fragen sind Gegenstand heiß geführter soziologischer und philosophischer Debatten, siehe etwa Nina Pauer oder Alain Ehrenberg.
All dies verdeutlicht, Freiheit ist ein schwer zu definierender Begriff. Die ungeheure Verkomplizierung des Freiheitsgedankens, die ich hier vornehme, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem Erhabenen der Freiheit um einen eigentlich ganz einfachen Gedanken handelt, nämlich dass Freiheit ein sich ständig erneuerndes Verlangen ist, das sich in allen Bereichen des Lebens niederschlägt. Im anthropologischen Sinne spricht man von einem Transzendenzbedürfnis.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Opposition in der DDR hat mich zuversichtlich gestimmt im Blick darauf, welchen Stellenwert diese Freiheit, sowie moralische Grundsätze auch unter widrigsten Bedingungen haben. Zu sehen, wie viele Menschen das „Leben in der Wahrheit", (Václav Havel), jedem anderen Privileg vorgezogen haben, trotz übler Zersetzungstaktiken und eiskalter Repression, hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Entgegen all den stumpfen Beteuerungen, die ich allzu oft um mich herum wahrnehmen muss, „der Mensch ist von Geburt an schlecht, er ist käuflich von Anbeginn", haben mir diese Biografien gezeigt, welchen unverletzlichen Wert die eigene moralische Überzeugung besitzt, und das obwohl ihnen das Leben in der Lüge doch viel bequemer hätte sein können. Ich habe gesehen, dass der Freiheitswille des Menschen, sowie das Einfordern universeller Menschenrechte eine unzerstörbare und unzeitliche Komponente menschlichen Verlangens und Begehrens ist. Dabei zeigt sich, dass das Spektrum oppositioneller Aktivitäten von spontanem Einfordern, quer denken zu können, bis zum organisierten Reform- oder Revolutionsbestreben reicht. Ich habe mich also nicht ausschließlich mit Vergangenem auseinandergesetzt. Ohnehin ist hier eine Trennung nicht so angebracht. Mein Praktikum hat auch mein Bewusstsein bezüglich der Freiheit erweitert, da ich nie mit systematischem Freiheitsentzug wie in der DDR zu kämpfen hatte. Auch habe ich Werte gefestigt, die ich in der Gegenwart vorfinde, aber von vielen Seiten gefährdet sehe.
Im Besonderen habe ich bei der Erarbeitung der Plakatausstellung „Jugendopposition in der DDR" ehemalige Oppositionelle kontaktiert und mich mit Vertretern von Presse und Verlagen in Verbindung gesetzt. Ein Schwerpunkt war die Klärung der Veröffentlichungsrechte mit den Urhebern der jeweiligen Dokumente und Bilder - vorher ein für mich absolut unbekanntes Terrain. Dabei habe ich Einblicke in die Akquise von Material und dessen Archivierung sowie in die einzelnen Arbeitsschritte für die Erarbeitung und Koordinierung einer Ausstellung gewonnen. Es wurde nach meinem Urteil über didaktische und ästhetische Konzepte gefragt, sowie nach meiner Tätigkeit als Lektor. Im Allgemeinen konnte ich in jeder freien Minute meinem geschichtlichen Interesse nachgehen, interessante Diskussionen mit den Mitarbeitern führen - die zum Großteil selbst Zeitzeugen sind - und in der umfangreichen Bibliothek und dem Pressearchiv stöbern.
Die Erfahrungen, die ich in der Robert-Havemann-Gesellschaft gesammelt habe, beschränken sich daher nicht nur auf die Erschließung historischer Dokumente. Besonders schätze ich die Arbeitsweise. Da alle miteinander auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten, gibt es keine wirklichen Hierarchien, sondern nur das Ziel, das man zu erreichen sucht. In diesem konstruktiven Klima habe ich mich sehr anerkannt und gefordert gefühlt, was als Praktikant ja nicht der Normalfall ist. Als Praktikant in der Robert-Havemann-Gesellschaft kommt es letztlich darauf an, inwiefern man bereit ist, sich selbstständig einzubringen. Dabei sind Arbeitspensum und Zuständigkeitsbereich variabel und an die jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasst. Letztlich ist es auch das Ziel des Praktikums, zu lernen und an den Aufgaben zu wachsen. Während meines Praktikums war das definitiv der Fall. Ich habe vor allem ein selbstbewusstes Gefühl für meine Fähigkeiten und Grenzen entwickeln können. Auch die montägliche Arbeitsberatung des Vereins behalte ich als ein Forum kollegial und konstruktiv denkender Menschen in Erinnerung.
Ich hoffe, dass in Zukunft das Interesse an Geschichtsaufarbeitung, besonders unter jungen Menschen, bestehen bleibt, im besten Falle noch wächst. Dabei wünsche ich der Robert-Havemann-Gesellschaft alles Gute für ihre Arbeit.

Gerald Schuster
Student der Philosophie, Sozialwissenschaften und Russisch an der Humboldt Universität zu Berlin
20. März 2012Praktikumsbericht