Am 9. Oktober 2019 versammelten sich in Leipzig 70.000 Menschen und gedachten beim Lichtfest den mutigen Menschen die im Oktober 1989 ihre Angst ablegten und für Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR demonstrierten. Neben dem Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung, dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dem sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sowie der Danziger Oberbürgermeisterin Aleksandra Dulkiewicz sprach auch die DDR-Bürgerrechtlerin Kathrin Mahler Walther ein Grußwort. Darin betonte Mahler Walther, dass man sich heute wieder auf die Kraft besinnen solle, die von der Friedlichen Revolution ausgehe und dass man sich aktiv für Pluralismus und Demokratie einsetzen solle. Diese Gedanken nahmen die Leipziger am 9. Oktober 2019  mit auf ihren Weg um den Leipziger Innenstadtring, der wie jedes Jahr den Abschluss des Lichtfestes darstellte. Kathrin Mahler Walthers Rede finden Sie hier im Wortlaut zum Nachlesen.

Lichtfest Leipzig 2019 auf dem Vorplatz der Leipziger Oper. ©Tom Schulze

Grußwort der DDR-Bürgerrechtlerin Kathrin Mahler Walther zum Lichtfest Leipzig am 9. Oktober 2019

Wenn ich jetzt hier stehe, dann kann ich kaum glauben, dass dieser 9. Oktober 1989 schon 30 Jahre her ist. Welche Angst hatten wir damals! Ich spüre noch die Luft – zum Zerreißen gespannt! In den Betrieben wurde gewarnt: Geht nicht in die Innenstadt! Und dann dieser Abend – 100.000 demonstrierten auf dem Leipziger Ring! Sie hakten sich unter, sie sangen gemeinsam. Sie demonstrierten friedlich für Veränderung, für Demokratie. Die DDR kapitulierte an diesem Abend. Hier in Leipzig kam es zum Tag der Entscheidung.

Wir haben damals das SED-Regime in die Knie gezwungen - und uns selbst befreit! Ich habe Gänsehaut, wenn ich daran denke! Wie sehr haben wir in dieser Zeit, um ein neues Leben gerungen! Wir haben uns aufgerichtet, sind größer geworden, und selbstbewusster.

Ich erinnere mich aber auch an die Enttäuschungen. Sie folgten diesem heißen Herbst. Die schmerzhaften Erfahrungen und Kränkungen des neuen Lebens im gemeinsamen Deutschland. Dennoch haben sich viele eingebracht, sich für die Gemeinschaft engagiert. Haben ihr Leben beherzt in die Hände genommen.

Wir haben in diesen 30 Jahren so viel geschafft! Wir haben eine kostbare Demokratie: Einen Rechtsstaat. Freie Wahlen. Wir können offen sprechen. Vielen geht es auch materiell nicht schlecht. Wir haben all die Freiheiten, nach denen wir uns gesehnt haben.

Doch es fehlt noch zu oft an Anerkennung und Wertschätzung dieser Lebensleistung in den gesamtdeutschen Erzählungen. Wir brauchen Initiativen wie den „Aufbruch Ost“, den junge Leute hier in Leipzig ins Leben gerufen haben. Sie wollen die Erfahrungen des Umbruchs in ganz Deutschland sichtbar machen. Gut so! Wir alle sind gefragt, selbstbewusst unsere Stimme zu erheben!  

Wir müssen uns heute wieder auf die Kraft besinnen, die von der Friedlichen Revolution ausgeht. Damals haben wir für Demokratie gekämpft. Heute müssen wir dies wieder tun! Damals haben wir uns für Gerechtigkeit eingesetzt. Heute heißt Gerechtigkeit: bezahlbarer Wohnraum, gute Bildung, faire Chancen auf auskömmliche Arbeit und Rente.

Ganz wichtig war damals auch der Kampf gegen die Umweltverschmutzung. Heute ist die Luft über Leipzig nicht mehr voller Kohlenstaub. Doch unsere Lebensweise trägt zu weltweiter Ungerechtigkeit und zum Klimawandel bei. Wir stehlen unseren Kindern die Zukunft!

Wir haben damals demonstriert für ein besseres Leben. „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ so forderte eines der ersten Plakate. Die Friedliche Revolution – das war Hoffnung! Und Gewaltfreiheit! Ich war vor 30 Jahren 18 Jahre alt und eine der jüngsten Bürgerrechtlerinnen. Meine Eltern haben sich damals zu Recht große Sorgen gemacht. Und viele Menschen reagierten mit Unverständnis auf mein Engagement. Und doch war es richtig, für Veränderungen zu kämpfen.

Wir alle haben damals unseren ganzen Mut zusammengenommen. Wir haben unsere Angst überwunden. Wir wissen: gemeinsames gewaltfreies Handeln kann die Welt verändern! Wir sollten uns heute an die Seite der Jugend stellen, die jetzt in der weltweiten Fridays for Future-Bewegung für eine lebenswerte Zukunft kämpft.

Wir alle, die wir an der Friedlichen Revolution beteiligt waren: Wir müssen uns auch heute aktiv einsetzen: Für Pluralismus und Demokratie. Für ein solidarisches Europa. Für eine friedliche Welt!


Kathrin Mahler Walther ist Geschäftsführerin der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF Berlin) ©

Kathrin Mahler Walther, geboren 1970, gehörte zu den jüngsten Bürgerrechtlerinnen der früheren DDR. In Leipzig arbeitete sie in der Arbeitsgruppe Menschenrechte und der Arbeitsgruppe Umweltschutz und war Sprecherin im Arbeitskreis Gerechtigkeit, der mit öffentlichen Aktionen zur Initiierung der Massenproteste gegen die SED-Herrschaft wesentlich beigetragen hat. Für ihr Engagement erhielt sie am 2. Oktober 2019 das Bundesverdienstkreuz.