Birgit Voigt

Nachruf von Birgit Voigt

Liebste Bärbel,

nicht ganz die Hälfte meines Lebens durfte ich mit dir befreundet sein. Eine Freundschaft, die sich durch viele Höhen, aber auch durch viele Tiefen auszeichnete. Im September 1984 brachte mich Ralf Hirsch zu dir nach Hause und nach einem kurzen Bericht meinerseits über die END-Konferenz in Perugia sprachen wir über die Grünen, über Petra Kelly, über Roland Jahn und Jürgen Fuchs, entdeckten Zufälle wie den, dass ich in Karlsruhe die beiden Töchter der inzwischen ausgereisten Pfarrersfamilie Meinel unterrichtete, die enge Vertraute deiner Freunde Katja und Robert Havemann waren. Die Stunden verflogen im Nu und ich musste zurück! Zum ersten Mal mit dem Auto in Ostberlin landete ich immer und immer wieder an der Mauer, fand dann aber kurz vor Mitternacht doch noch einen Grenzübergang. Wann immer es ging, besuchte ich dich, doch schon im Juli 1985 machte die Stasi dem Treiben ein Ende und verhängte Einreiseverbot. Fortan bestimmten nächtliche Telefonate, viele Briefe und gemeinsame Aktivitäten unsere Freundschaft.

Am 21.März 1986 trafen wir uns dann in Leipzig. Ich war mit der Lufthansa geflogen, setzte eine arrogante Wessi-Miene auf und weigerte mich, mit Interflug zurückzufliegen. Nach über drei Stunden lagen wir uns in den Armen, zogen von Kneipe zu Kneipe, wurden immer lustiger und frecher gegenüber unseren im Nieselregen stehenden vielköpfigen Stasi-Bewachern. Bei unserem Abschied dachten wir zum ersten Mal an das Rentenalter! Nach deiner 2.Inhaftierung  rief  mich am 7.Februar 1988 Petra an und sagte: „Dich will jemand sprechen!"  Und  du, liebste Bärbel sagtest nur: „Hol' mich bitte hier raus!"  Ich packte also dich, Anselm und Werner am 9.Februar in Lünen in mein Auto und musste auf den vielen Fahrten durch die Bonner Republik, die bis zu deinem Abflug nach London am 21.4. nun folgten, immer wieder meine mangelhaften Geographiekenntnisse preis geben. Bei der Bedienung sanitärer Anlagen war ich jedoch souverän.

Deine allergrößte Sorge in dieser Zeit war, dass dein Wunsch nach Rückkehr für viele unglaubwürdig war. Du hattest mit zu vielen Menschen in der unabhängigen Friedensbewegung zu viel investiert und riskiert und konntest nicht, „ohne mich als Verräterin zu fühlen, aus der Ostgegenwart aussteigen, um in der Westgegenwart zu laden".  Wie beleidigend eine Politiker-Äußerung: „Frau Bohley, jetzt lernen Sie erst einmal den Westen kennen, dann wollen Sie nicht mehr zurück!"  Wie wohltuend das Verständnis von Willy Brandt und anderer, die sich für dich einzusetzen versprachen. Wie erniedrigend das Verhalten eines Teils der damaligen Grünen-Fraktion, der demonstrativ den Saal verließ, als du über die Friedensbewegung und deinen Rückkehrwillen sprechen wolltest! Aber vor allem Petra Kelly hat unermüdlich alles Menschenerdenkliche getan, um dir zu helfen. Am 15.Juli holte ich dich auf dem Mailänder Flughafen ab und wir fuhren nach San Gustino in der Toskana. Ein ehemaliges Mönchs-Refugium inmitten eines uralten Eichenhains ohne fließend Wasser und Strom war unser Zuhause. Ich hatte so gehofft, dass du dich etwas entspannen könntest, doch du solltest schon gleich am nächsten Tag deinen damaligen Anwalt Gregor Gysi anrufen und das ohne Handy!  Ich vergesse nie dein kreidebleiches Gesicht, als du aus der Telefonzelle in der etliche Kilometer entfernten kleinen Kneipe in Sambuca herauskamst und von den veränderten Einreisemodalitäten für Anselm berichtetest. Nur: Anselm war in Griechenland und hatte natürlich auch kein Handy. Dieser Terror setzte sich über mehrere Tage fort: Immer neue Forderungen wurden aufgestellt, Drohungen wie: „Ja, dann ist Ihre Wiedereinreise gefährdet!" - ich hatte daraus gelernt und stellte dir immer schon vor dem Telefonat ein Glas Spumante hin, was deiner Hautfarbe zumindest gut bekam. Unsere Diskussionen beendetest du  stets mit dem Satz: „Dann klettere ich eben über die Mauer!", woran ich nicht eine Sekunde lang zweifelte. Die Schönheit der Toskana, die prachtvollen Gemälde und Skulpturen in den Uffizien, das Kaisermosaik in Ravenna, selbst Rom konntest du nicht genießen, denn wie du in deinem Tagebuch schriebst: „Ein halbes Jahr lang hätte ich mit großer Offenheit aus diesem fremden Leben für mein eigenes in der DDR lernen können. Aber ich war verschlossen, meine Sinne waren vernagelt, zu." Dennoch schleppten Roland, Putz  und ich dich nach Venedig. Nach deiner Rückkehr schriebst du: „Lieber Putz, das mit Venedig war wirklich eine wunderbare Idee, denn es war der schönste Tag und die schönste Nacht im Westen und ich habe gedacht, dass da was dran ist - Venedig sehen und sterben -, ein bisschen hat mein Herz einen Sprung bekommen. Anselm war ja auch in Venedig, aber wir müssen in zwei verschiedenen Städten gewesen sein und ich glaube, das war ein Geschenk von ganz oben, damit ich mich mit dem letzten halben Jahr versöhne." Ich einer Mail vom Dezember letzten Jahres schriebst du sogar,  „es war die schönste Nacht in meinen Leben". Beim letzten Schluck Wein auf dem Mailänder Flughafen am 30.Juli dachten wir erneut an unser Rentenalter!

Wie schwer war uns allen das Herz, als wir dich hinter der milchigen Glastür in Mailand verschwinden sahen! Voller Sorge, was „die riesengroßen fetten Schweine", wie du mir mal schriebst, mit dir vorhatten. Bange Tage, die Ralf mit seinem erlösenden Anruf am 3.8. abends dann beendete. Du warst zurück, du hattest deinen Kopf durchgesetzt, Milan seine Wette verloren! Wir waren zwar wieder auf das Schriftliche reduziert, aber ich hatte durch deine ausführlichen Berichte immer das Gefühl bei dir zu sein. Und dann verbrachten wir gemeinsam die Silvesternacht 1989 auf dem „Ball des Präsidenten" in Prag und tranken frühmorgens auf der Hoteltreppe den viel zu warmen, verlorenen Champagner von Milan. Deinen 45-jährigen Geburtstag feierten wir mit einem Raclette-Essen bei uns in Ettlingen, deinem zeitweisen Exil. Zusammen mit Katja, Irena, Katja Bohley und zwei Ettlinger Freunden fuhren wir über den Gotthardpass, nicht durch den Tunnel, in die Toskana ins Casa Brizzi in Sichtweite zu unserem Mönchs-Refugium. Nun waren deine Sinne für Siena, San Gimignano und Florenz offen und wir verbrachten 14 unvergessliche Tage unter einem strahlenden Himmel in Italien, begleitet natürlich auch von vielen Diskussionen über die weitere Zukunft unserer beiden Staaten. Da gab es viele Differenzen zwischen uns, bis hin zu heftigem Streit im August 1990, doch trennen konnte uns die Politik nicht. Wir trauerten gemeinsam um Petra Kelly und Gert Bastian; 2007 gedachten wir ihrer zum 60.Geburtstag auf einer kleinen Veranstaltung in einem kleinen Theater in Karlsruhe.

Viele fröhliche Feste, darunter Deinen 60.Geburtstag feierten wir in der „Vila B.", in deinem und Dragans neuem Heim in Kroatien. Und selbst nach deiner Erkrankung haben wir uns gesehen, wann immer es deine Kräfte zuließen, zuletzt fast eine ganze Woche in Karlsruhe. Am 9.November hast du zwei Stunden mit meinen Schülern über 20 Jahre Mauerfall diskutiert. Die Mutter eines Schülers schrieb mir nach deinem Tod: „Es macht uns traurig zu wissen, dass Sie eine sehr nahe Freundin verloren haben. Es macht uns aber auch traurig, weil wir wissen, dass es Menschen wie Bärbel Bohley nicht allzu viele gibt: Sie war und ist ein Vorbild an gelebter Zivilcourage und Gradlinigkeit. Sie haben unseren Schülern das Geschenk gemacht, diesen kostbaren Menschen persönlich erleben zu dürfen."

Liebste Bärbel, Putz und ich danken dir, dass wir dich kostbaren Menschen so lange erleben durften. Du fehlst!